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  • · Fachbeitrag · Interview

    „Fair heißt, alle Mitarbeiter gleich zu behandeln!“

    | Die Ärzte-Initiative Treatfair GmbH aus Stuttgart untersucht die Arbeitsbedingungen von Ärztinnen und Ärzten im Krankenhaus. Dazu hat Treatfair eine Online-Umfrage eingerichtet ( treatfair.org/umfrage-2020 ). In 14 Fragen können Krankenhausärzte anonym beurteilen, wie zufrieden sie mit Arbeitsatmosphäre, Work-Life-Balance, Karrierechancen, Vergütung und vielen anderen Punkten sind. Prof. Dr. med. Clemens Becker, Chefarzt der Abteilung Geriatrie und geriatrische Rehabilitation des Robert-Bosch-Krankenhauses in Stuttgart, unterstützt das Projekt als Kooperationspartner. Im Interview mit Ursula Katthöfer ( www.textwiese.com ) erklärt er, wie andere Chefärzte von den Bewertungen profitieren können. |

     

    Frage: Fair kann vieles heißen. Was bedeutet es für Sie?

     

    Antwort: Für mich heißt fair, alle Mitarbeiter gleichwertig zu behandeln ‒ ohne einzelne Gruppen zu bevorzugen.

     

    Frage: Wenn sich eine Initiative wie Treatfair bildet, muss etwas im Argen liegen. Sind die Bedingungen in Krankenhäusern unfair?

     

    Antwort: Ja, es gibt eine ganze Reihe von Problemen, denn das gesamte Gesundheitswesen ist im Umbruch. Durch den demografischen Wandel steigen die Anforderungen, wir haben Personal-, Struktur- und Prozessmängel. So ist die Abteilungszusammenarbeit zwischen operativer und nichtoperativer Medizin ein großes Thema.

     

    Frage: Die Aussage „Ich fühle mich in meiner Abteilung wertgeschätzt behandelt“ kann bei der Online-Umfrage in sechs Schritten von „absolut“ bis „gar nicht“ beantwortet werden. Wie kann ein Chefarzt auf die Antwort reagieren?

     

    Antwort: Da müssen viele Dinge bedacht werden: In welcher Situation ist die Abteilung? Ist das gesamte Krankenhaus in eine Schieflage geraten? Ein überwiegend negatives Feedback ist ein Krisensignal, dann wurden viele Anzeichen übersehen und überhört. In diesen Fällen müssen Chefärzte erst einmal zuhören und Mitarbeitergespräche führen, einzeln oder in Gruppen. Es ist Aufgabe der Führungskraft, in der Krise zu führen und die Zukunft zu skizzieren. Dazu muss sie zunächst die Situation analysieren. Woher kommt die Unzufriedenheit? Es kann z. B. sein, dass das schlechte Feedback die Ängste von Mitarbeitern spiegelt, deren Haus von einem kommunalen Träger an ein privates Konsortium verkauft werden soll. Dann wird das einer Einzelperson vorgehalten, die nicht verantwortlich ist.

     

    Frage: Was sollte ein Chefarzt zuallererst tun, wenn das Team ihm online mangelnde Führungskompetenz bescheinigt?

     

    Antwort: Er muss an seinen Fähigkeiten arbeiten. Die Arbeitgeber sorgen in der Regel nicht für ein Coaching. In der Vergangenheit wurde Ärzten eher unterstellt, dass sie sich autodidaktisch fortbilden. Es gibt Naturtalente. Doch viele Mediziner bringen aus Schule und Studium zwar viel Wissen und Disziplin mit, nicht jedoch soziale Kompetenzen. Manchmal ist es für einen Chefarzt auch besser, die Koffer zu packen und weiterzuziehen.

     

    Frage: Treatfair veröffentlicht seit 2019 ein Ranking mit den 100 Top-Abteilungen, deren Mitarbeiter sehr zufrieden sind. Wie hoch schätzen Sie die Bereitschaft Ihrer Chefarzt-Kollegen ein, sich dem zu stellen?

     

    Antwort: Da bin ich sehr optimistisch. In der Schweiz ist das Ranking von Kliniken sehr rasant gewachsen. Ich sehe drei etwa gleich große Gruppen von Chefärzten: die Pioniere, die sofort mitmachen; diejenigen, die es sich ein bis zwei Jahre angucken, weil sie zunächst wichtige Aufgaben wie einen Neubau oder ein weiteres Qualitätssiegel zu erledigen haben, und die unbelehrbaren Bremser. Doch der Markt ist ganz anders als noch vor zehn Jahren. Qualifizierte Mitarbeiter werden dringend gesucht. Die Kliniken, die sich von Rankings abkoppeln, werden die Verlierer sein.

     

    Frage: Also ist es für ein Krankenhaus von Vorteil, öffentlich als fair zu gelten, weil Fachkräfte sich den Arbeitgeber inzwischen aussuchen können.

     

    Antwort: Der Markt wird zunehmend kompetitiv, jedes Haus muss sich gegen seine Mitbewerber behaupten ‒ in den Großstädten mehr als auf dem Land. Die Verrentung der Baby-Boomer wird die Situation noch verschärfen.

     

    Frage: Die Initiative möchte die Arbeitsbedingungen von Ärzten verbessern. Was bedeutet das für die Patienten?

     

    Antwort: Grundsätzlich sind zufriedene Mitarbeiter eine Voraussetzung für eine sichere und gute Behandlung. Deshalb handelt es sich um eine Win-win-Situation. Das gilt übrigens nicht nur für Ärzte in der Weiterbildung. Treatfair betrifft auch Mitarbeiter der Generation 50 plus. Wenn ich als Facharzt in der Herzchirurgie kein Chef bin und acht Stunden am Tag im OP stehe, ist das kein Vergnügen. Wie kann ich diesen Mitarbeiter halten? Da spielt das Diversity-Management eine wichtige Rolle. Die produktivsten Teams sind die, in denen junge, mittlere und etwas ältere Menschen zusammenarbeiten.

     

    Frage: Hat die Mitarbeiterzufriedenheit denn einen positiven Einfluss auf die Produktivität?

     

    Antwort: Das lässt sich nicht in einer einfachen mathematischen Gleichung ausdrücken. Man muss eher sagen, dass die Arbeitsproduktivität gleich bleibt oder sogar rückläufig ist. Doch Personalentwicklung ist ein mittelfristiges Thema. Es war einer der großen Fehler der Vergangenheit, darauf zu setzen, dass die Produktivität steigt, wenn kurzfristig Personal eingestellt wird. Es war Tradition, in der Lernphase 60-Stunden-Wochen zu verlangen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Schon wegen des hohen Frauenanteils spielen Gesundheit und Familie heute eine ganz andere Rolle. Entscheidend ist daher nicht die Produktivität, sondern ob jemand sich langfristig an ein Krankenhaus bindet und ob sein Wissen dem Haus erhalten bleibt.

    Quelle: Ausgabe 04 / 2019 | Seite 16 | ID 45728468