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  • · Fachbeitrag · Interview

    „Ärzte sollten ihre eigenen Interessen nicht hinter dem weißen Kittel verstecken!“

    | „Selbstregulation im Arbeitsalltag ‒ Stress, Achtsamkeit und Glück“. So lautet der Titel des Vortrags von Prof. Dr. med. Tobias Esch beim 5. IWW-Kongress „Chefarzt heute“ am 15.05.2020 in Dortmund ( chefaerzte-kongress.de ). Er ist Institutsleiter und Lehrstuhlinhaber für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten-Herdecke. Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) sprach mit Prof. Esch zum Thema. |

     

    Frage: Warum ist es für Ärztinnen und Ärzte so schwer, sich selbst gegenüber achtsam zu sein?

     

    Antwort: Wir haben als Ärzte weder im Studium noch in anderen Kontexten Selbstfürsorge erlernt. Rollenmodelle gibt es kaum. Stattdessen wurde uns vorgelebt, dass ein Arzt immer verfügbar ist und seine eigenen Interessen hinter dem weißen Kittel versteckt. Ärzte sind Einzelkämpfer, an denen viele aktuelle Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsvorsorge vorbeigehen. Oft fehlen ihnen Achtsamkeit und der Kontakt zu sich selbst. Um es mit dem irischen Schriftsteller James Joyce zu sagen, haben sie zwar eine direkte Nachbarschaft zu sich, wohnen aber nicht bei sich.

     

    Frage: Was geschieht im Gehirn eines Menschen, der sein eigenes Wohlbefinden immer hinten anstellt?

     

    Antwort: Wenn es gut läuft, geben Anerkennung, Status, soziale Vernetzung und Gehalt diesen Ärzten viel zurück. Das Belohnungssystem im Gehirn springt an, es entstehen kurzfristige Glücksmomente und langfristige Zufriedenheit. Der Spaß an der Arbeit reicht, um Stress zu reduzieren und die Sinnhaftigkeit zu erleben. Nimmt die fehlende Achtsamkeit überhand, wird das gegenteilige System aktiviert. Mandelkern, Amygdala, Hypothalamus und Nebennieren geraten in den Alarmmodus. Stresssymptome wie Schlaflosigkeit, mangelndes Abschalten und die kurzfristige Kompensation durch Süßigkeiten oder Alkohol treten auf. Wir haben bei Ärzten leider eine höhere Suchtsymptomatik als in der akademischen Vergleichsgruppe.

     

    Frage: Drehen wir das ganze ins Positive: Was geschieht im Gehirn, wenn jemand achtsam ist?

     

    Antwort: Achtsamkeit heißt explizit, in sich selbst zu Hause zu sein. Wenn ich bewusst schmecke, rieche, sinnlich bin und den Moment auskoste, dann bin ich achtsam. Ich sollte das möglichst wertfrei tun und nicht fragen, ob ich dabei gut bin. Dann springt der Achtsamkeitsmodus an. Er aktiviert die sogenannte Entspannungsantwort: Was sonst die Stressachsen anregt, wird nicht nur kompensiert, sondern gestoppt. Das können wir bis auf die Zellkernebene nachweisen.

     

    Frage: Lassen Glück und Zufriedenheit sich trainieren?

     

    Antwort: Das ist die gute Nachricht: Man kann Glück durch positive Psychologie und kognitive Verhaltenstherapie trainieren. Die Wissenschaft dachte lange, dass Resilienz nicht trainierbar, sondern angeboren sei. Der Mensch blicke positiv oder negativ auf die Welt. Inzwischen haben wir sehr genaue Hinweise, dass die Sicht auf das eigene Leben nicht nur trainierbar, sondern auch in den Alltag integrierbar ist.

     

    Frage: Die Stressbewältigung basiert Ihnen zufolge auf vier Säulen.

     

    Antwort: Wir sprechen von Behaviour, Excercise, Relaxation und Nutrition, kurz BERN. Bei Behaviour geht es beispielsweise um Verhaltenstechniken wie Dankbarkeitsrituale. Jeder kann sich einmal am Tag klarmachen, was gut läuft und wer ihm Energie zurückgibt. Pro Tag werden dreißig Minuten Bewegung empfohlen. Kleine Meditations- und Entspannungsinseln sollten insgesamt zwanzig Minuten pro Tag ausmachen. Ernährung betrifft z. B. mediterrane Kost, Genuss und Sinnlichkeit beim Essen sowie Fastenrituale.

     

    Frage: Wie können Chefärzte dieses moderne Stressbewältigungstraining in ihren Arbeitsalltag integrieren?

     

    Antwort: Wer viel Verantwortung trägt, reagiert auf Glückstraining und Achtsamkeit oft mit den Worten: „Das ist alles schön, doch dafür habe ich keine Zeit.“ Doch Führungskräfte in der Medizin können sich ihren Stundenplan genau ansehen. Sie werden Inseln entdecken, die ohnehin bestehen: Wege zwischen den Stationen, Bettenhäusern und Laboreinrichtungen können routinemäßig für Bewegungsrituale genutzt werden. Mahlzeiten können bewusst geschmeckt, gerochen und genossen werden. Manchmal lässt sich Zeit gewinnen, wenn Telefonate stringenter geführt oder den Routinetätigkeiten Zeitkontingente zugewiesen werden.

     

    Frage: Möchten Patienten denn den gechillten Chefarzt? Oder haben sie lieber jemanden, der viel Arbeit ausstrahlt?

     

    Antwort: Das kann ich als Wissenschaftler nur bedingt beantworten. Zunächst bewerten Patienten den Expertenstatus höher. Doch nach Gesprächssituationen gefragt, fällt beides zusammen: Patienten wünschen sich einen Arzt, der eine Expertise ausstrahlt und ihnen gleichzeitig in einem begrenzten Zeitfenster die volle Aufmerksamkeit schenkt. Sie möchten, dass der Experte die Dinge, die er empfiehlt, auch verkörpert.

     

    Frage: Haben Chefärztinnen eine andere Herangehensweise als ihre männlichen Kollegen?

     

    Antwort: Auch dazu fehlen uns Studien. Doch genügend Hinweise zeigen, dass wir in der Gesundheitsförderung einen deutlichen Frauenüberhang haben. Allerdings sind Chefärztinnen für Frauen am Arbeitsplatz nicht repräsentativ. Auch stellt sich die Gegenfrage, ob Männer von Achtsamkeitstrainings genauso profitieren können. Diese Frage muss mit Ja beantwortet werden. Denn wenn Männer einen überproportional schlechten Zugang finden, können sie auch überproportional profitieren.

    Quelle: Ausgabe 02 / 2020 | Seite 17 | ID 46308630