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02.01.2020 · IWW-Abrufnummer 213272

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg: Urteil vom 08.05.2019 – 10 Sa 52/18

Auch bei einer fortdauernden Arbeitsunfähigkeit ist der Arbeitnehmer nach § 5 EFZG verpflichtet, dies gegenüber seinem Arbeitgeber anzuzeigen. Ein etwaiger Verstoß durch den Arbeitnehmer im Falle einer fortdauernden Erkrankung wiegt jedoch im Regelfall weniger schwer als eine fehlende oder verspätet erfolgte Anzeige bei der erstmaligen Erkrankung. Im Falle einer verhaltensbedingten Kündigung ist dies bei der im Rahmen von § 1 Abs. 2 KSchG durchzuführenden Interessenabwägung zu berücksichtigen.


In der Rechtssache
- Beklagte/Berufungsklägerin -
Proz.-Bev.:
gegen
- Kläger/Berufungsbeklagter -
Proz.-Bev.:
hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - Kammern Freiburg - 10. Kammer
- durch den Richter am Arbeitsgericht Mohn, den ehrenamtlichen Richter Folz und den ehrenamtlichen Richter Niedergesäss auf die mündliche Verhandlung vom 8. Mai 2019
für Recht erkannt:

Tenor:
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des ArbG Ulm, Kn. Ravensburg, vom 18. Oktober 2018 (8 Ca 355/17) wird zurückgewiesen.


2. Die Kosten der Berufung trägt die Beklagte.


3. Die Revision für die Beklagte wird nicht zugelassen.



Tatbestand



Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung und um die Weiterbeschäftigung des Klägers.



Der 45-jährige ledige Kläger ist seit dem 1. Oktober 2007 bei der Beklagten, bei der ein Betriebsrat besteht, als Lagerist mit einem durchschnittlichen Bruttomonatseinkommen in Höhe von 3.300,00 EUR beschäftigt. Der Kläger ist durchgängig seit Juli 2016 arbeitsunfähig krankgeschrieben wegen eines Bandscheibenleidens.



Bei der Beklagten existiert eine Betriebsordnung, in welcher das Prozedere der gesetzlichen Anzeige- und Nachweispflichten bei Erkrankung geregelt ist. In der Betriebsordnung heißt es auszugsweise:

"10.2 Erkrankung/Arbeitsausfall/ArbeitsverhinderungKönnen Sie wegen Erkrankung oder aus einem anderen unvorhergesehenen Grund die Arbeit nicht aufnehmen, verständigen Sie bitte unverzüglich - am ersten Arbeitstag zum Beispiel telefonisch mit Angabe der Gründe und der voraussichtlichen Dauer - Ihren Vorgesetzten. Die Meldung an die Krankenkasse gilt nicht als Entschuldigung. Soweit Ihre Arbeitsverhinderung vorhersehbar ist (z. B. Operation, Heilverfahren) informieren Sie bitte ebenfalls umgehend Ihren Vorgesetzten.10.3 Nachweis bei ErkrankungWenn Sie arbeitsunfähig krank sind, reichen Sie bitte fristgerecht unter Beachtung der gesetzlichen und tariflichen Bestimmungen nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtlichen Dauer nach."



Die Beklagte hat gegenüber dem Kläger mehrere schriftliche Abmahnungen ausgesprochen. Mit der Abmahnung vom 12. September 2014 wirft die Beklagte dem Kläger vor, dieser habe am 15. Juli 2014 in Aussicht gestellt, eine erstrebte Arbeitsfreistellung am 18. Juli 2014 ohne Rücksicht darauf erreichen zu wollen, ob eine Arbeitsunfähigkeit tatsächlich vorliegen wird. Der der Abmahnung zugrundeliegende Sachverhalt blieb zwischen den Parteien streitig.



Mit Schreiben vom 9. November 2016 wurde der Kläger durch die Beklagte auf seine Anzeigepflichten im Krankheitsfall hingewiesen. Insbesondere wurde ihm dargelegt, dass er verpflichtet ist, seinem Vorgesetzten bzw. dessen Stellvertreter unverzüglich mitzuteilen, wenn eine Arbeitsunfähigkeit besteht. Ferner wurde er darauf hingewiesen, dass die voraussichtliche Dauer der Erkrankung mitgeteilt werden muss. Er wurde auch darauf hingewiesen, dass das Abgeben bzw. das Zusenden einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich die Verpflichtung zur unverzüglichen Anzeige einer Arbeitsunfähigkeit nicht wahrt, da diese dem Vorgesetzten nicht am ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit bzw. deren Verlängerung vor Kernzeitbeginn vorliegen kann. Ebenfalls wurde in dem Schreiben dargestellt, dass diese Grundsätze nicht nur bei einer Ersterkrankung, sondern auch bei einer Fortdauer der Erkrankung über den ursprünglich bescheinigten Zeitraum hinaus gelten. Der Kläger bestreitet den Erhalt dieses Schreibens.



Gegenstand der Abmahnung vom 11. Januar 2017 ist folgender Sachverhalt: Nach der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 12. Dezember 2016 war der voraussichtliche letzte Tag der Arbeitsunfähigkeit Freitag, der 16. Dezember 2016. Für die Zeit von Montag, den 19. Dezember 2016, bis Freitag, den 23. Dezember 2016, hatte der Kläger genehmigten Urlaub. Vom 27. Dezember 2016 bis 30. Dezember 2016 ist der Kläger nicht zur Arbeit erschienen. Am 31. Dezember 2016 und 1. Januar 2017 war aufgrund Silvester bzw. Neujahr keine Arbeitsleistung geschuldet. In der Abmahnung vom 11. Januar 2017 wurde dem Kläger vorgeworfen, vom 27. Dezember bis 30. Dezember 2016 ohne Angabe von Gründen nicht zur Arbeit erschienen zu sein.



Mit den Abmahnungen vom 10. März 2017 und 15. März 2017 wirft die Beklagte dem Kläger vor, ihr die Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigungen verspätet zugeleitet zu haben. Durch Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen wurden eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 26. Februar 2017 bzw. zum 8. März 2017 nachgewiesen. Zwischen den Parteien ist streitig, ob die jeweilige Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 22. Februar 2017 bzw. 8. März 2017 rechtzeitig vor Beginn der Kernarbeitszeit um 9:15 Uhr dem Vorgesetzten des Klägers vorgelegen hat. Diese Vorfälle sind Gegenstand der Abmahnungen vom 10. März 2017 (Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 22. Februar 2017) und vom 15. März 2017 (Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 8. März 2017).



Der der Kündigung zugrundeliegende Sachverhalt ist folgender: Nachdem der Kläger weiterhin der Arbeit wegen attestierter Arbeitsunfähigkeit fernblieb, war auf einer Arbeitsunfähigkeitsfolgebescheinigung Freitag, der 4. August 2017, als letzter Tag der Arbeitsunfähigkeit vermerkt. Die daran anschließende Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigung wurde vom Kläger am Montag, den 7. August 2017, am Nachmittag an der Pforte abgegeben worden, erreichte aber den Vorgesetzten des Klägers erst am 8. August 2017, nach Beginn der Kernarbeitszeit, welche um 9:15 Uhr begann.



Die Anhörung des Betriebsrats erfolgte am 23. August 2017. Der Betriebsrat widersprach der beabsichtigten Kündigung mit Schreiben vom 24. August 2017. Mit Schreiben vom 31. August 2017, dem Kläger am gleichen Tag zugegangen, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 2017.



Der Kläger erhob gegen diese Kündigung Klage, die am 18. September 2017 beim Arbeitsgericht Ulm - Kammern Ravensburg - einging.



Der Kläger hält die Kündigung der Beklagten für sozial ungerechtfertigt und bestreitet das Vorliegen von Kündigungsgründen.



Erstinstanzlich trug er vor, er habe seit seiner Erkrankung im Juli 2016 stets lückenlos Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Folgebescheinigungen vorgelegt. Eine Kündigung sei vorliegend unverhältnismäßig. Der Verstoß hätte vorrangig abgemahnt werden müssen. Hinsichtlich der Abmahnung vom 11. Januar 2017 liege für den Zeitraum 27. Dezember 2016 bis zum 30. Dezember 2016 kein unentschuldigtes Fehlen vor. Er sei durchgehend bis auf weiteres aus medizinischer Sicht seit Anfang Dezember 2016 wegen seiner Bandscheibe arbeitsunfähig. Er sei sich nicht sicher, ob er die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die 3 Tage vom 27. Dezember 2016 bis 30. Dezember 2016 vorgelegt habe oder nicht. Sein Arzt habe in dieser Zeit bereits Weihnachtsurlaub gehabt. Er habe für den Zeitraum 27. Dezember 2016 bis 30. Dezember 2016 keinen Ersatzarzt gefunden. Er habe aber ausreichend Resturlaub gehabt, den er bis 31. Dezember 2016 habe nehmen müssen. Die Beklagte habe diese Tage rückwirkend als Urlaub genehmigt und auch bezahlt. In diesem Zusammenhang wird eine Gesamtauskunft der Leistungen der Krankenkasse vorgelegt. Immer wenn er Krankmeldungen ausgestellt bekommen habe, habe er diese auch entweder abgegeben oder durch einen Kollegen rechtzeitig abgeben lassen. Unentschuldigt habe er jedenfalls nicht gefehlt. Er habe auch immer rechtzeitig vorher versucht, anzurufen. Er erinnere sich daran, dass das Telefon manchmal nicht abgenommen worden sei. Der Kläger ist der Auffassung, dass er als Fachlagerist weiter zu beschäftigen sei.



Der Kläger beantragte in der ersten Instanz:

1. Es wird festgestellt, dass die Kündigung der Beklagten vom 31. August 2017, zugegangen am 31. August 2017 rechtsunwirksam ist und das Arbeitsverhältnis über den 31. Dezember 2017 unverändert fortbesteht.2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits als Fachlagerist weiter zu beschäftigen.



Die Beklagte beantragt in der ersten Instanz,

die Klage abzuweisen.



Die Beklagte ist der Auffassung, die Kündigung vom 31. August 2017 sei gerechtfertigt.



Sie trug erstinstanzlich vor, die am 22. Februar 2017 ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit einem voraussichtlichen letzten Tag der Arbeitsunfähigkeit am 26. Februar 2017 sei durch den Kläger erst am 1. März 2017 um 9:57 Uhr an der Pforte/Tor 6 abgegeben worden. Der Vorgesetzte des Klägers, Herr C., habe die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und damit die Anzeige der Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit nach Weiterleitung der Bescheinigung durch einen Mitarbeiter der Pforte erst im Laufe des 1. März 2017 bekommen. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 8. März 2017 über eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit mit einem voraussichtlichen letzten Tag der Arbeitsunfähigkeit am 25. März 2017 sei durch den Kläger am 8. März 2017 um 16:28 Uhr an der Pforte / Tor 6 (Werk 2) abgegeben worden. Zum Kernzeitbeginn am 9. März 2017 um 9:15 Uhr sei die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung noch nicht bis zum Vorgesetzten des Klägers, Herrn C., weitergeleitet worden. Herr C. habe die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und damit die Kenntnis über die Fortdauer der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit erst im Laufe des 9. März 2017, jedenfalls nach 9:15 Uhr mit der Hauspost erhalten.



Eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung über den Fortbestand der Arbeitsunfähigkeit bis 20. August 2017, datierend vom 4. August 2017, sei durch den Kläger erst am Montag, den 7. August 2017, um 11:08 Uhr an der Pforte / Tor 6 (Werk 2) abgegeben worden. Der Vorgesetzte des Klägers, Herr C., habe die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und damit Kenntnis über die Fortdauer der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit erst im Laufe des 8. August 2017 mit der Hauspost erhalten. Weder am 7. August 2017 noch am 8. August 2017 sei zu Beginn der Kernzeit um 9:15 Uhr die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit dem Vorgesetzten des Klägers, Herrn C., bekannt gegeben worden.



Durch Urteil des Arbeitsgerichts Ulm, Kn. Ravensburg, vom 18. Oktober 2018 (8 Ca 355/17) wurde der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Die Kündigung vom 31. August 2017 sei unwirksam. Zwar habe der Kläger gegen seine Anzeigepflicht verstoßen und diesbezüglich auch wirksam abgemahnt worden. Dennoch falle unter Berücksichtigung der Gesamtumstände die vorzunehmende Interessenabwägung noch zu Gunsten des Klägers aus. Der Kläger habe jedoch keinen Anspruch auf eine Weiterbeschäftigung als Fachlagerist, da er ausweislich des Arbeitsvertrages nur als Lagerist eingestellt worden sei, die Beschäftigung des Klägers als Fachlagerist von der Beklagten bestritten worden sei und der Kläger keinen weiteren Vortrag hierzu geleistet habe.



Das Urteil des Arbeitsgerichts Ulm, Kn. Ravensburg, vom 18. Oktober 2018 (8 Ca 355/17) wurde dem Bevollmächtigten der Beklagten zugestellt am 26. November 2018. Mit dem am 13. Dezember 2018 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom selben Tag legte die Beklagte Berufung ein. Die Berufung wurde mit Schriftsatz vom 25. Januar 2019, am gleichen Tag per Fax beim Berufungsgericht eingegangen, begründet.



Die Beklagte begründet ihre Berufung damit, dass bei dem vom Arbeitsgericht in seinem Urteil festgestellte Pflichtenverstoß des klagenden Arbeitnehmers nicht mehr von einem geringen Verschulden die Rede sein könne. Ohne nähere Begründung habe das Arbeitsgericht eine beharrliche Pflichtverletzung durch den Kläger verneint und vielmehr nur "unbedachte und nachlässige Handlungen" angenommen.



Die Interessenabwägung sei fehlerhaft, weil die Interessen der Beklagten nicht bzw. nicht ausreichend gewürdigt worden seien. Das Fehlen von Betriebsablaufstörungen falle nicht zugunsten des Klägers ins Gewicht, sondern belaste ihn nur nicht. Auswirkungen nachteiliger Art, sollten sie eingetreten sein, seien im Rahmen der Interessenabwägung nur zu Lasten des Arbeitnehmers zu berücksichtigten, nicht aber zu seinen Gunsten.



Die Beklagte beantragte in der Berufung:

Das Urteil des Arbeitsgerichts Ulm - Kn. Ravensburg - vom 18. Oktober 2018 wird abgeändert und die Klage abgewiesen.



Der Kläger beantragte,

die Berufung zurückzuweisen.



Er ist der Ansicht, das Arbeitsgericht habe die Kündigung zurecht als unverhältnismäßig gewertet, weil das Verschulden des Klägers gering sei, keine beharrliche Pflichtenverletzung anzunehmen sei und keine wesentlichen betrieblichen Ablaufstörungen vorgetragen worden seien.



Entscheidungsgründe



I.



Die Berufung ist zulässig. Die Berufung der Beklagten gegen das der Kündigungsschutzklage stattgebende Urteil ist statthaft gemäß § 64 Abs. 2 c) ArbGG. Sie wurde form- und fristgerecht eingelegt und ausreichend begründet.



II.



Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Die ordentliche Kündigung vom 31. August 2017 ist unwirksam und hat das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht zum 31. Dezember 2017 aufgelöst.



Das Arbeitsgericht ist zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass die fristgerecht im Sinne von § 4 Satz 1, § 7 Halbsatz 1 KSchG angegriffene und unter Geltung des KSchG (§§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG) ausgesprochene Kündigung vom 31. August 2017 nicht verhaltensbedingt sozial gerechtfertigt ist. Die Kündigung kann nicht darauf gestützt werden kann, dass der Kläger erst am Dienstag, den 8. August 2017, und damit verspätet, die weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei der Beklagten hereingereicht hat.



1. Eine Kündigung aus im Verhalten des Arbeitnehmers liegenden Gründen im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG ist sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitnehmer mit dem ihm vorgeworfenen Verhalten eine Vertragspflicht in der Regel schuldhaft erheblich verletzt, das Arbeitsverhältnis konkret beeinträchtigt wird, eine zumutbare Möglichkeit einer anderen Beschäftigung nicht besteht und die Lösung des Arbeitsverhältnisses in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile billigenswert und angemessen erscheint. Insofern ist ein Fehlverhalten ausreichend aber auch erforderlich, dass einen ruhig und verständig urteilenden Arbeitgeber zur Kündigung bestimmen kann. Auch die Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht wie der Anzeige- und Nachweispflicht im Falle einer Erkrankung eines Arbeitnehmers gemäß § 5 Abs. 1 EFZG kann grundsätzlich nach vorheriger vergeblicher Abmahnung eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass der Zweck einer Kündigung nicht die Sanktion für eine begangene Vertragspflichtverletzung ist, sondern die Vermeidung des Risikos weiterer erheblicher Pflichtverletzungen. Die vergangene Pflichtverletzung muss sich deshalb noch in der Zukunft belastend auswirken. Eine derartige negative Prognose liegt vor, wenn aus der konkreten Vertragspflichtverletzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde den Arbeitsvertrag nach einer Kündigungsandrohung erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verletzen (vgl. zu alledem nur LAG Niedersachsen 4. Dezember 2008 - 7 Sa 866/08, Juris, Rn. 86 ff. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BAG).



2. Nach diesen Grundsätzen kann nicht festgestellt werden, dass der Beklagten bei Ausspruch der Kündigung am 31. August 2017 die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bereits unzumutbar war.



(a) Verletzungen der Anzeigepflicht bei Arbeitsunfähigkeit nach § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG sind in der Regel nach vorheriger Abmahnung geeignet, eine ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses sozial zu rechtfertigen. Das gilt nicht nur für die im Gesetz allein geregelte unverzügliche Anzeige einer Ersterkrankung, sondern nach der Rechtsprechung - noch zu § 3 Lohnfortzahlungsgesetz - und der herrschenden Meinung auch für die unverzügliche Meldung einer fortdauernden Arbeitsunfähigkeit (BAG, 16. August 1991 - 2 AZR 604/90). Die soziale Rechtfertigung der Kündigung hängt auch nicht davon ab, ob es zu betrieblichen Störungen gekommen ist. Sind allerdings solche negativen Auswirkungen eingetreten, sind sie im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen (BAG, 16. August 1991 - 2 AZR 604/90, Rn. 36). § 5 Abs. 1 Satz 1 EFZG gibt dem Arbeitnehmer auf, die Arbeitsunfähigkeit dem Arbeitgeber unverzüglich mitzuteilen. Die Mitteilungspflicht dient der Dispositionsfähigkeit des Arbeitgebers, die unabhängig von Zahlungsverpflichtungen betroffen ist. Der Arbeitnehmer hat so schnell zu informieren, wie es nach den Umständen des Einzelfalles möglich ist. Das erfordert in der Regel eine telefonische Nachricht zu Beginn der betrieblichen Arbeitszeit. Das Gesetz sieht jedoch bei einer Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit keine weitere Informationspflicht wie bei der Ersterkrankung vor. Sowohl Schrifttum (vgl. ErfK/Reinhard, 19. Aufl. 2019, EFZG § 5 Rn. 19 und die dortigen Nachweise), sowie der zweite Senat des BAG wenden die Vorschriften von § 5 Abs. 1 EFZG gleichwohl entsprechend an (vgl. BAG, 3. November 2011? 2 AZR 748/10, Rn. 30).



(b) In Anwendung dieser Grundsätze erweist sich das dem Kläger vorgeworfene Verhalten zwar als grundsätzlich geeignet, eine verhaltensbedingte Kündigung sozial zu rechtfertigen. Nach Abwägung der beiderseitigen Interessen ist die Kammer jedoch zu der Ansicht gelangt, dass hier die Interessen des Klägers an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses überwiegen und die Kündigung im Ergebnis unwirksam werden lassen.



aa. Der Kläger hat in einem Zeitraum von weniger als einem halben Jahr insgesamt dreimal gegen seine Anzeigepflichten aus § 5 Abs. 1 EFZG verstoßen. Die Beklagte hat dieses Verhalten zweimal abgemahnt, bevor sie den dritten Vorfall zum Anlass des Kündigungsausspruchs nahm. Damit liegt ein Sachverhalt vor, der grundsätzlich geeignet ist, eine verhaltensbedingte Kündigung sozial zurechtfertigen.



bb. Nach Abwägung der beiderseitigen Interessen überwiegt hier jedoch das Interesse des Klägers an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gegenüber dem Interesse der Beklagten an seiner Beendigung mit Ablauf der Kündigungsfrist.



Zu Gunsten des Klägers ist zunächst seine zum Zeitpunkt der Kündigung vom 31. August 2017 fast zehnjährige Betriebszugehörigkeit zu berücksichtigen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass sich im Großen und Ganzen während der fast zehnjährigen Betriebszugehörigkeit Beanstandungen im Verhalten des Klägers auf seltene Ausnahmefälle beschränkten. So gab es im Juli 2014 einen Vorfall wegen einer behaupteten Ankündigung einer Erkrankung, der zu einer Abmahnung des Klägers führte. In den Jahren 2014 und 2015 kam es zu keiner Beanstandung. Der Kläger, der seit Juli 2016 wegen eines Rückenleides arbeitsunfähig erkrankt war, konnte für einen sehr überschaubaren Zeitraum (27. Dezember bis 30. Dezember 2016) keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorweisen und dieser Vorfall wurde Gegenstand einer Abmahnung. Schließlich kam es bei der weiter fortdauernden Arbeitsunfähigkeit zu den Abmahnungen vom 10. und 15. März 2017. Zu Gunsten des Klägers spricht weiter, dass der 1971 geborene Kläger - nicht zuletzt auch wegen seiner langen Krankheitsgeschichte - auf dem Arbeitsmarkt nur eingeschränkte Chancen haben dürfte.



Zugunsten des Klägers weiter zu berücksichtigen ist, dass sein Verschulden bei der verspäteten Anzeige seiner fortdauernden Arbeitsunfähigkeit als gering anzusehen ist, wie das Arbeitsgericht zu Recht erkannt hat. Zwar hätte es nahegelegen und auch für den Kläger kaum einen nennenswerten zusätzlichen Aufwand bedeutet, seinen Vorgesetzten telefonisch zu erreichen. Dennoch hat der Kläger im Zusammenhang der Fortdauer seiner Arbeitsunfähigkeit über den 4. August 2017 hinaus, seine Pflichten aus § 5 EFZG nicht gänzlich unbeachtet gelassen, sondern ist diesen Pflichten eben nur (erneut) mangelhaft nachgekommen.



Demgegenüber sind die Interessen der Beklagten trotz der Pflichtverletzungen des Klägers noch nicht in einer nicht mehr hinnehmbarer Weise beeinträchtigt. Der Beklagten war die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses noch nicht unzumutbar gewesen. Das liegt vor allem daran, dass die letzte Verletzung der Anzeigepflicht am 9. August 2017, die unmittelbar zur Kündigung geführt hat, nicht im Zusammenhang einer Ersterkrankung, sondern einer fortdauernden Erkrankung geschah. Ein solche Verletzung der Anzeigepflichten aus dem EFZG beeinträchtigt die mit der Anzeigeverpflichtung geschützte Dispositionsfähigkeit des Arbeitgebers nicht in derselben schwerwiegenden Weise wie der Anzeigepflichtenverstoß bei einer Ersterkrankung. Während das Nichterscheinen des Arbeitnehmers den Arbeitgeber am ersten Tag der Erkrankung bei unterbleibender Mitteilung unvorbereitet trifft und ihm dadurch die Möglichkeit nimmt, Vorsorge durch die anderweitige Besetzung des Arbeitsplatzes zu treffen, ist die Situation bei der fortdauernden Erkrankung eine andere, nämlich eine deutlich weniger gravierendere. Das Ausbleiben des Arbeitnehmers trifft den Arbeitgeber hier nicht unvorbereitet. Angesichts der seit Juli 2016 bestehenden Arbeitsunfähigkeit - und damit einer krankheitsbedingten Abwesenheit des Klägers seit mehr als einem Jahr - musste und konnte die Beklagte das Arbeitsvolumen nicht nur kurzfristige anderweitig auffangen. Sie musste sich vielmehr um eine Ersatzlösung kümmern, die auch für einen längeren Zeitraum tauglich ist (beispielsweise durch Krankheitsvertretung, Umorganisation, etc., ...). Eine - wie bei einer erst kurzfristig und noch nicht lange andauernden krankheitsbedingten Abwesenheit eines Mitarbeiters - sich anbietende Vertretung und Personalplanung "auf Sicht" wäre bei einer langen krankheitsbedingten Abwesenheit, wie der des Klägers ab Juli 2016, nicht mehr das angemessene Mittel einer sorgfältigen Personalverwaltung, um auf den Ausfall zu reagieren. Zwar ist es natürlich auch bei einer Langzeiterkrankung nicht ausgeschlossen, dass nach einer langen Arbeitsunfähigkeit und einer Vielzahl von Folgekrankschreibungen z.T. nur für Wochenzeiträume, wie der beim Kläger, der Mitarbeiter ohne anderslautende Verlautbarung seinerseits den Dienst tatsächlich wieder antritt. Dieser Fall ist aber nach der allgemeinen Lebenserfahrung eher unwahrscheinlich. Mit anderen Worten: anders als in der Situation der Ersterkrankung ist der Arbeitgeber seiner Dispositionsfähigkeit nicht gänzlich geraubt, sondern er ist noch handlungsfähig, weil er das Problem zumindest realistisch einschätzen kann. Daher ist es gerechtfertigt, diese Vertragsverletzung als deutlich weniger gravierend zu bewerten als die Anzeigepflichtverletzung bei einer Ersterkrankung. Das führt hier dazu, dass sich die Kündigung angesichts der zu berücksichtigenden Interessen des Klägers (noch) als unverhältnismäßig erweist.



Die Anzahl der Pflichtverletzungen (vier zwischen Juli 2016 und Kündigungsausspruch) im Verhältnis zu der Vielzahl der Arbeitsunfähigkeitszeiten, die von ihm anzuzeigen waren, lassen noch nicht auf eine beharrliche Pflichtverletzung schließen, die das arbeitgeberseitige Interesse an einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses überwiegen ließen.



Die Wertung der Kammer wird auch durch die Regelung in § 10.2 der Betriebsordnung zum Thema "Erkrankung/Arbeitsausfall/Arbeitsverhinderung" bestätigt. In der von der Beklagten vorgelegten Betriebsordnung ist in Ziffer 10.2 lediglich eine Handlungspflicht beschrieben, wenn der Arbeitnehmer wegen Erkrankung oder aus einem anderen unvorhergesehenen Grund die Arbeit nicht aufnehmen kann. Wie bei einer Fortdauer der Erkrankung zu verfahren ist, ist in der Betriebsordnung - soweit von der Beklagten vorgelegt - nicht geregelt. Auch wenn die Beklagte bereits in ihrem Schreiben vom 9. November 2016 den Kläger auf seine Anzeigepflichten bei einer Fortdauer der Erkrankung hingewiesen haben, zeigt die Betriebsordnung, dass die Betriebsparteien den Mitteilungspflichten bei Ersterkrankung und bei fortdauernder Erkrankung nicht die gleiche Bedeutung zumessen. Während die Vorschrift in der Betriebsordnung sich zu Verhaltenspflichten im Falle der fortdauernden Erkrankung ausschweigt, werden bei der erstmaligen Erkrankung die Handlungspflichten detailliert beschrieben.



Dass es nicht zu einer betrieblichen Ablaufstörung bei der Beklagten gekommen ist, wirkt sich bei der vorzunehmen Interessenabwägung nicht aus. Nur das Vorliegen einer betrieblichen Ablaufstörung hätten zu Lasten des Klägers berücksichtigt werden müssen. Wenn eine solche eingetreten wäre, hätte jedoch auch überprüft werden müssen, ob die Beklagte insoweit ausreichende organisatorische Maßnahmen ergriffen hat, um diese zu vermeiden. Dies kann an dieser Stelle jedoch offenbleiben.



III.



Die Kosten der Berufung trägt die Beklagte gem. § 97 Abs. 1 ZPO. Gründe, die Revision zuzulassen, lagen nicht vor.

Mohn
Folz
Niedergesäss

Verkündet am 08.05.2019

Vorschriften§ 64 Abs. 2 c) ArbGG, § 4 Satz 1, § 7 Halbsatz 1 KSchG, §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG, § 1 Abs. 2 KSchG, § 5 Abs. 1 EFZG, § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG, § 5 EFZG, § 97 Abs. 1 ZPO