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· Fachbeitrag · Unterbringung

Fortsetzung einer Zwangsunterbringung erfordert andauernde Gefährdung

von RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FA FamR, Prof. Dr. Jesgarzewski & Kollegen Rechtsanwälte, Osterholz-Scharmbeck, FOM Hochschule Bremen

| Was bei der Entscheidung zur Fortsetzung einer längeren Unterbringung zu beachten ist, hat der BGH jetzt im Fall einer älteren Betroffenen geklärt. Hierbei konkretisiert er auch die Grundsätze für die Begründung einer Gefahr für Leib und Leben. |

 

Sachverhalt

Die 79-jährige Betroffene wendet sich gegen die Genehmigung ihrer Unterbringung. Sie leidet an einer chronifizierten paranoiden Schizophrenie sowie an einer Hypertonie, die medikamentös behandelt werden muss ‒ also einem Bluthochdruck der schwersten Stufe. Für die Betroffene ist eine Berufsbetreuerin mit den Aufgabenkreisen Aufenthaltsbestimmung und Gesundheitssorge bestellt.

 

Seit 2012 ist die Betroffene mit betreuungsgerichtlicher Genehmigung ununterbrochen in einem Alten- und Pflegeheim untergebracht. Die Betreuerin hat beantragt, die ablaufende Unterbringungsgenehmigung zu verlängern. Daraufhin hat das AG eine zweiseitige ärztliche Stellungnahme eingeholt, die Betroffene im Beisein der Verfahrenspflegerin angehört und dann die weitere Unterbringung wiederum befristet genehmigt.

 

Hiergegen hat die Betroffene Beschwerde eingelegt. Das AG hat ein Sachverständigengutachten der Ärztin der Betroffenen eingeholt und darauf fußend im Ergebnis der Beschwerde nicht abgeholfen. Das LG Lüneburg hat die Betroffene durch den Berichterstatter der Kammer als beauftragten Richter erneut angehört und sodann ein ergänzendes Sachverständigengutachten eines Facharztes für Psychiatrie eingeholt. Das LG hat die Unterbringung bestätigt (24.1.20, 1 T 85/19). Hiergegen richtet sich die hier gegenständliche Rechtsbeschwerde.

 

Auch bei einer bereits länger andauernden Unterbringung setzt die gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB erfolgende weitere zivilrechtliche Unterbringung eine nach wie vor bestehende ernstliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Betroffenen voraus. Bei einer bereits mehrere Jahre währenden Unterbringung können sich allerdings mit Blick auf die Feststellung der vorausgesetzten Gefährdung von Leib oder Leben des Betroffenen und die hierfür gebotene Begründungstiefe der gerichtlichen Entscheidung sowie für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung Besonderheiten ergeben.

(Abruf-Nr. 216932)

 

Entscheidungsgründe

Die Rechtsbeschwerde hatte beim BGH Erfolg. Die Feststellung des LG zu einer erheblichen Eigengefährdung seien nicht haltbar.

 

Zwar habe die Betroffene in der Zeit vor der geschlossenen Unterbringung innerhalb von drei Monaten die verordnete und empfohlene Medikation abgesetzt. Daraufhin sei sie wiederholt in akute psychotische Zustände mit hoher Wahndynamik und Affektspannung gekommen. Daher sei mit einer über 70-prozentigen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Betroffene bei Beendigung der Unterbringung zumindest die antipsychotische Medikation in einem überschaubaren Zeitrahmen absetzen werde. Hinzu komme, dass die Betroffene abends ein blutdrucksenkendes Medikament einnehmen müsse, was sie alleine nicht durchführe.

 

Dies reiche aber für eine zwangsweise Unterbringung nicht aus. Die zivilrechtliche Unterbringung durch einen Betreuer wegen Selbstgefährdung des Betroffenen verlange eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Betreuten. Der Grad der Gefahr sei in Relation zum möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bemessen. Das setze objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens voraus. Diese Maßstäbe gelten auch für bereits untergebrachte Betroffene.

 

Darüber hinaus ergeben sich bei einer bereits mehrere Jahre währenden Unterbringung weitere Besonderheiten: Angesichts des Zeitablaufs ist zu klären, ob die Selbstgefährdung in der für eine Unterbringung erforderlichen Intensität noch fortbesteht.

 

MERKE | Die tatsächlichen Umstände, die die Gefährdungsprognose ursprünglich getragen haben, sind unter Beachtung der Entwicklung des Betroffenen in der Unterbringung zu bewerten. Dies kann dazu führen, dass allein wegen des Zeitraums der Unterbringung eine hinreichend sichere Gefährdungsprognose nicht mehr möglich ist. Die Entscheidung muss im Einzelnen offenlegen, dass der Tatrichter alle Einflussmöglichkeiten der verstrichenen Unterbringungsdauer auf die Frage des Fortbestehens der Unterbringungsvoraussetzungen erkannt hat.

 

 

Der Tatrichter hat vorliegend festgestellt, dass die Betroffene ihre antipsychotische Medikation abgesetzt hat. Der Tatrichter sagt aber nicht präzise, wann und wie oft dies geschah. Zudem fehlt es an tatrichterlichen Feststellungen dazu, wie sich die inzwischen verstrichene langjährige Unterbringungszeit auf dieses Risiko und die damit verbundenen Folgen auswirkt. Auch wird aus den Entscheidungsgründen nicht deutlich, warum als Alternative allein die Möglichkeit einer ambulanten Betreuung in den Blick genommen wurde. Es sei jedenfalls auch eine betreute, aber offene Wohnform mit entsprechend engmaschiger Begleitung in Betracht zu ziehen.

 

Relevanz für die Praxis

Der BGH betont zum wiederholten Male die hohen Hürden für eine zwangsweise Unterbringung psychisch kranker Personen (siehe bereits BGH 14.3.18, XII ZB 629/17, Abruf-Nr. 200737).

 

Die bereits ausformulierten Grundsätze für die Begründung einer Gefährdung von Leib und Leben erfahren vorliegend eine Konkretisierung im Hinblick auf die Fortsetzung lang andauernder Zwangsunterbringungen. Der Zwölfte Senat verdeutlicht, dass die konkrete Situation in der richterlichen Entscheidung bewertet werden muss. Damit soll verhindert werden, dass in der Vergangenheit liegende Gefahrenlagen, die zur ursprünglichen Unterbringungsentscheidung geführt haben, schematisch fortgeführt werden.

 

PRAXISTIPP | Die Fortsetzung einer Unterbringung muss zwar auf die ursprüngliche Gefährdungslage zurückgreifen. Dabei muss aber die weitere Entwicklung umfassend betrachtet und gewürdigt werden. Je länger die Unterbringung bereits läuft, desto umfassender ist das Begründungserfordernis für die betreuungsgerichtliche Entscheidung. Dabei sind zwei Aspekte besonders zu berücksichtigen: Zunächst ist die Feststellung zu treffen, dass die Gefährdungslage noch immer vorhanden ist. Sodann ist darauf fußend nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu fragen, ob mildere Mittel gegenüber der Fortsetzung der Unterbringung bestehen. Letzteres kann sich insbesondere aus der Entwicklung der bisherigen Unterbringungsdauer ergeben, wenn etwa Möglichkeiten engmaschiger Betreuung in Wohneinrichtungen möglich geworden sind.

 

Der BGH stellt klar, dass es Sache des Betreuungsrichters ist, alle Möglichkeiten zu erörtern und sich umfassend mit diesen in den Entscheidungsgründen auseinanderzusetzen. Eine schematische Handhabung alleine genügt nicht, da die konkreten Umstände des Einzelfalls und dessen Entwicklung entscheidungserheblich sind.

 

 

Quelle: Ausgabe 09 / 2020 | Seite 153 | ID 46742452