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· Fachbeitrag · Anhörung in Coronazeiten

Telefonische Anhörung des Betroffenen reicht auch in Coronazeiten nicht

von RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FA FamR, Prof. Dr. Jesgarzewski & Kollegen Rechtsanwälte, Osterholz-Scharmbeck, FOM Hochschule Bremen

| Kann das Beschwerdegericht im Betreuungsverfahren zur Klärung des Sachverhalts die persönliche Anhörung vornehmen, indem es ein Telefonat mit dem Betroffenen führt? Wie wirkt sich die Coronapandemie auf die Anforderungen an eine Anhörung durch das Gericht aus? Diese Fragen hatte der BGH nun zu klären. |

Sachverhalt

Der Ehemann der Betroffenen hat durch seine Verfahrensbevollmächtigte die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung für die 1965 geborene Betroffene angeregt. Das AG hat eine Verfahrenspflegerin für die Betroffene bestellt, ein schriftliches Sachverständigengutachten eingeholt und die Betroffene in deren Wohnung persönlich angehört. Sodann wurden der Ehemann und ergänzend eine Berufsbetreuerin für jeweils unterschiedliche Aufgabenbereiche zum Betreuer bestellt.

 

Gegen diese Entscheidung hat sich die Betroffene mit der Beschwerde gewandt. Das LG hat nach einem Telefongespräch mit der Betroffenen eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen zu der Frage eingeholt, ob die ergänzende Berufsbetreuung noch erforderlich erscheint.

 

Nach Übersendung des Ergänzungsgutachtens folgte ein weiteres Telefongespräch zwischen der zuständigen Einzelrichterin und der Betroffenen. Das LG hat die Beschwerde sodann ohne weitere persönliche Anhörung der Betroffenen zurückgewiesen.

 

Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen, welche die Einrichtung einer Betreuung weiterhin ablehnt.

 

  • Leitsatz des Bearbeiters
  • a) Das Gericht darf sich bei seiner Entscheidung über die Bestellung eines Betreuers nicht allein auf eine Befragung des Betroffenen stützen, die nicht mit der Gewinnung eines umfassenden unmittelbaren persönlichen Eindrucks einhergeht. Eine lediglich fernmündlich geführte Unterhaltung mit dem Betroffenen genügt daher den Anforderungen an eine „persönliche Anhörung“ im Sinne von § 278 Abs. 1 FamFG nicht.
  • b) Auch in den Zeiten der Coronapandemie kann in einem Betreuungsverfahren nur unter den engen Voraussetzungen des § 278 Abs. 4 i. V. m. § 34 Abs. 2 FamFG ausnahmsweise von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen abgesehen werden.
 

Entscheidungsgründe

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg (BGH 4.11.20, XII ZB 220/20, Abruf-Nr. 219321). Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.

 

Betreuung aus gesundheitlichen Gründen

Das LG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass die Betroffene an einer organischen Persönlichkeitsstörung sowie einer bipolaren affektiven Störung leide. Aufgrund ihrer Erkrankung und den damit verbundenen Defiziten sei bei der Betroffenen die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufgehoben. Sie sei in den angeordneten Aufgabenkreisen nicht in der Lage, ihren Willen frei zu bestimmen.

 

Die überzeugenden ärztlichen Ausführungen seien durch die Stellungnahmen der Verfahrenspflegerin und der Betreuungsbehörde sowie den Eindruck des Amtsgerichts bei den persönlichen Anhörungen bestätigt worden. Auch die neunseitigen Ausführungen der Betroffenen in ihrer Beschwerdeschrift belegten indiziell ihre Erkrankung. Schließlich sei die Betroffene im Beschwerdeverfahren zweimal ausführlich telefonisch angehört und ihre Betreuungssituation erörtert worden.

 

Erheblicher Verfahrensverstoß

Der Zwölfte Senat hat in der nur telefonischen Anhörung durch das LG einen erheblichen Verfahrensverstoß erkannt.

 

MERKE | Nach § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Dies gilt auch für das Beschwerdeverfahren.

 

Die Möglichkeit, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen, setze voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind.

 

Zieht das Beschwerdegericht für seine Entscheidung mit einem ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, müsse hingegen der Betroffene erneut angehört werden. Vorliegend sei die Anhörung aufgrund des zwischenzeitlich eingeholten Ergänzungsgutachtens daher erforderlich gewesen.

 

PRAXISTIPP | Die vom Beschwerdegericht durchgeführte fernmündliche Anhörung der Betroffenen wird dem nicht gerecht. Erforderlich ist eine unmittelbare Kontaktaufnahme, um sich einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen zu verschaffen. Hierzu gehört eine umfassende visuelle und akustische Wahrnehmung des Betroffenen.

 

Coronapandemie kein Pauschalargument

Eine andere Beurteilung sei auch nicht durch die Coronapandemie gerechtfertigt. Aus Gründen des Schutzes der Gesundheit des Betroffenen könne auch in Zeiten der Coronapandemie nur lediglich ausnahmsweise von einer persönlichen Anhörung abgesehen werden.

 

Hierfür müssten erhebliche Nachteile für die Gesundheit zu besorgen sein, wovon sich das Gericht nur auf der Grundlage eines ärztlichen Gutachtens überzeugen könne. Von derartigen Nachteilen sei nur dann auszugehen, wenn die persönliche Anhörung auch bei Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Vermeidung von gesundheitlichen Folgen für den Betroffenen zu schwerwiegenden und nicht abwendbaren Nachteilen führen würde. Die aus der Coronapandemie folgenden allgemeinen Infektions- und Erkrankungsrisiken führten indessen nur zu einer abstrakten Gesundheitsgefahr für Betroffene.

Relevanz für die Praxis

Der Zwölfte Senat betont zum wiederholten Male die Wichtigkeit der persönlichen Anhörung des Betroffenen (siehe auch BGH 14.10.20, XII ZB 235/20, Abruf-Nr. 218956).

 

Daran ändert auch die Coronapandemie nichts. Das Betreuungsgericht und auch das Beschwerdegericht trifft die regelmäßige Pflicht, eine Anhörung des Betroffenen unter Berücksichtigung aller Tatsachen vorzunehmen, die der anstehenden Entscheidung zugrunde liegen. Verändert sich die Tatsachengrundlage, hat folglich auch eine erneute Anhörung stattzufinden.

 

Eine telefonische Befragung kann diesen gesetzlichen Anforderungen nicht genügen. Der erkennende Richter muss sich selbst ein persönliches Bild verschaffen können. Dazu gehört die vollständige Wahrnehmung des Betroffenen, nicht nur dessen Stimme.

 

PRAXISTIPP | Dieser Grundsatz ist auch in Coronazeiten nicht infrage zu stellen. Dem Gesundheitsschutz ist durch Einhaltung der empfohlenen Hygienemaßnahmen zu begegnen. Dazu zählen das Abstandsgebot, das Tragen von Schutzmasken und eine entsprechende räumliche Gestaltung der Anhörungssituation. Solange ausreichende Möglichkeiten zum Schutz der Gesundheit aller Beteiligten bestehen, bleibt es daher auch bei der persönlichen Anhörung.

 

Die Betreuungspraxis zeigt, wie wichtig die persönliche Anhörung auch tatsächlich ist. Gerade bei psychischen Erkrankungen ist der persönliche Eindruck des erkennenden Richters von großer Bedeutung.

 

Beachten Sie | Sachverständige Einschätzungen für medizinische Hintergründe sind zwar zumeist notwendig, aber sie ersetzen eben nicht die richterliche Würdigung.

 

Der vorliegenden Entscheidung ist daher uneingeschränkt zuzustimmen.

Quelle: Ausgabe 01 / 2021 | Seite 2 | ID 47034349