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· Fachbeitrag · Unterhaltsberechnung

Der Selbstbehalt beim Elternunterhalt

von RAin Dagny Liceni-Kierstein, RiOLG a.D., Berlin

| Tragen Sie Ihre Werte in den Elternunterhalt-Rechner ein und klicken Sie dann auf „berechnen“ ‒ dieser gut gemeinte Tipp aus dem Internet zur Berechnung des geschuldeten Elternunterhalts kaschiert die tatsächlich vorhandenen Probleme bei der Feststellung, ob und in welcher konkreten Höhe Kinder für den Unterhalt ihrer Eltern aufkommen müssen. Eine wichtige Größe dabei ist die Höhe des Selbstbehalts des Unterhaltspflichtigen. |

1. Lebensstandardgarantie

Die Berechnung der Leistungsfähigkeit des Kindes gehört zu den Kernproblemen des Elternunterhalts. Zentrale Bedeutung hat dabei der Begriff der Lebensstandardgarantie. Der BGH hat bereits in einem seiner ersten Urteile zum Elternunterhalt (23.10.02, XII ZR 266/99) als Konsequenz der oft unverhofften Inanspruchnahme auf Elternunterhalt (im eigenen höheren Lebensalter) dazu folgendes formuliert: „Eine spürbare und dauerhafte Senkung seines berufs- und einkommenstypischen Unterhaltsniveaus braucht der Unterhaltsverpflichtete jedenfalls insoweit nicht hinzunehmen, als er nicht einen nach den Verhältnissen unangemessenen Aufwand betreibt oder ein Leben im Luxus führt.“ Es gibt danach zwei wichtige Schranken:

 

  • das Schonvermögen und
  • den Selbstbehalt (Letzterer hat besonders große praktische Bedeutung).

2. Der Selbstbehalt und seine Berechnung

Die Höhe des Selbstbehalts oder angemessenen Eigenbedarfs ist beim Elternunterhalt nicht in Stein gemeißelt. Sie hängt von verschiedenen Faktoren ab. Mit Blick auf die Lebensstandardgarantie ist die Lebensstellung des Kindes maßgebend, die seinem Einkommen, Vermögen und sozialen Rang entspricht; hiervon ausgehend wird der gesamte Lebensbedarf einschließlich einer angemessenen Altersversorgung umfasst. Daraus folgt, dass der angemessene Eigenbedarf anhand des Einkommens zu bestimmen ist. Er orientiert sich nicht ‒ wie etwa beim Minderjährigenunterhalt ‒ an einer festen Größe, sondern ist veränderlich. Je höher das Einkommen, umso mehr ist als Selbstbehalt zu belassen. Eine nachhaltige Verschlechterung seines Lebensniveaus ist dem Kind wegen der Nachrangigkeit und schwache Ausgestaltung des Elternunterhaltsanspruchs (§ 1609 Nr. 6 BGB) nicht zumutbar.

 

Daher belässt die Rechtsprechung dem Kind nicht nur einen erhöhten Mindestselbstbehalt, sondern stets noch die Hälfte der diesen Sockelbetrag übersteigenden Einkünfte. Dadurch soll laut BGH im Einzelfall ein angemessener Ausgleich zwischen dem Unterhaltsinteresse der Eltern und dem Interesse des Unterhaltspflichtigen an der Wahrung seines angemessenen Selbstbehalts bewirkt und zugleich eine ungerechtfertigte Nivellierung unterschiedlicher Verhältnisse vermieden werden.

 

MERKE | Die OLG haben in ihren Leitlinien (seit Januar 2017) im Ausgangspunkt einen Selbstbehalt des unterhaltspflichtigen Kindes von 1.800 EUR und beim Zusammenleben mit einem Ehegatten von (1.800 EUR + 1.440 EUR =) 3.240 EUR zugrunde gelegt. Darin enthalten ist eine Warmmiete von 480 EUR (für Alleinstehende) bzw. 860 EUR (für zusammenlebende Ehegatten).

 

Nachdem der BGH einen dynamischen Selbstbehalt ‒ Sockelselbstbehalt zuzüglich 1/2 des darüber hinausgehenden Einkommens bei Alleinstehenden und bei zusammenlebenden Verheirateten von 45 Prozent des übersteigenden Einkommens ‒ für angemessen gehalten hat, wurde einheitlich diese Definition des individuellen Selbstbehalts in den Leitlinien übernommen.

 
  • Beispielberechnung

Einkommen des unterhaltspflichtigen Kindes

2.000 EUR

Einkommen der Ehefrau

   + 1.500 EUR

Familieneinkommen

3.500 EUR

Familiensockelselbstbehalt

   - 3.240 EUR

260 EUR

10 % Haushaltsersparnis (260 ‒ 26 EUR)

234 EUR

hiervon 1/2

117 EUR

Den Ehegatten ist daher ein individueller Familienselbstbehalt von (3.240 EUR + 117 EUR =) 3.357 EUR zu belassen.

 

Beachten Sie | Die Ausführungen des BGH werden vielfach so verstanden, dass die in den Leitlinien der OLG festgelegten Selbstbehalte jeglicher Diskussion entzogen und von den Gerichten stets anzuwenden sind. Tatsächlich ist die Festlegung von Selbstbehalten problematisch. Die Feststellung der Leistungsfähigkeit anhand von Selbstbehaltssätzen täuscht darüber hinweg, dass es sich hierbei nicht um ein einfaches Rechenwerk handelt; vielmehr hängt die Berechnung von einer Vielzahl von Faktoren ab und ist mit zahlreichen Wertungsfragen verbunden, die das Ergebnis beeinflussen.

 

MERKE | Die entscheidende Diskussion mit dem Elternteil bzw. dem Sozialhilfeträger (§ 94 Abs. 1 SGB XII) um die Höhe der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten wird nicht bei der Berechnung des individuellen (Familien-)Selbstbehalts geführt, sondern findet im Bereich der unterhaltsrelevanten Abzüge statt, um die das Einkommen des Kindes und seines Ehegatten jeweils zu bereinigen ist. Fällt das anrechenbare Einkommen im Ergebnis geringer aus als der zuzubilligende individuelle Selbstbehalt, muss kein Elternunterhalt gezahlt werden.

 

3. Bereinigung des Einkommens

Das Einkommen des Kindes ist beim Elternunterhalt um deutlich mehr Positionen zu bereinigen, als dies beim Kindes- oder Ehegattenunterhalt der Fall ist. Das hängt mit seiner schwachen Ausgestaltung und der Lebensstandardgarantie zusammen. Im Hinblick auf die vermeintliche Selbstbindung an die in den Leitlinien der OLG festgelegten Selbstbehalte wird darüber hinaus häufig versucht, diese durch eine großzügige Abzugspraxis in der Weise zu unterlaufen, dass vom Einkommen des unterhaltspflichtigen Kindes Positionen abgezogen werden, die zu den allgemeinen Lebenshaltungskosten gehören und deshalb an sich aus dem Selbstbehalt zu finanzieren sind.

 

Bei vielen Abzugspositionen sind regionale und individuelle Unterschiede zu beobachten. So werden in einigen Regionen ‒ entsprechend dem Sozialhilferecht ‒ alle Pflichtversicherungen (also auch die Kfz-Haftpflichtversicherung) vom Einkommen des unterhaltspflichtigen Kindes vorab abgezogen.

 

Auch der Abzug von Haftpflicht- und Rechtsschutzversicherungen wird auf Verwaltungsebene regionalen sehr unterschiedlich gehandhabt. Insbesondere werden nach wie vor Beiträge für Privathaftpflicht- und Hausratversicherung einkommensmindernd berücksichtigt, obwohl diese laut BGH schon wegen ihrer meist geringen Höhe dem allgemeinen Lebensbedarf zuzuordnen und nicht sind (BGH 28.7.10, XII ZR 140/07). Teilweise werden sogar Kosten für Rechtsschutzversicherungen, Bildungswesen etc. als Abzüge akzeptiert, obwohl diese ersichtlich der allgemeinen Lebensführung zuzuordnen und aus dem Selbstbehalt zu finanzieren sind.

 

PRAXISTIPP | Mit Blick auf die regionalen Unterschiede und den tatsächlichen „Abzugswildwuchs“, der in der Praxis herrscht, empfiehlt es sich, stets auch zweifelhafte Abzugspositionen geltend zu machen. Für das unterhaltspflichtige Kind lohnt es sich deshalb, neben den Einkünften seine sämtlichen Ausgaben aufzulisten, auch soweit die Vordrucke der Sozialämter zahlreiche Positionen nicht aufführen. Die „Scheinmathematisierung“ durch Selbstbehaltssätze täuscht darüber hinweg, dass die Frage der Leistungsfähigkeit des Kindes stets eine Wertungsfragen ist. Die Hauptarbeit des Unterhaltsrechtlers liegt in der Bereinigung des Einkommens um (zweifelhafte) Abzugspositionen.

 
  • Ausgaben aus dem Selbstbehalt zu finanzieren/nicht zu finanzieren

Aus dem Selbstbehalt zu finanzieren:

  • Laufender Lebensunterhalt einschließlich Getränke und Tabakwaren,
  • Beiträge zu den üblichen Versicherungen,
  • Bekleidung und Schuhen nebst Hygiene- und Kosmetikartikeln (außer: Es handelt sich um krankheitsbedingten Mehrbedarf),
  • Aufwendungen für Reisen, Freizeit, Unterhaltung und Kulturveranstaltungen,
  • Kosten für die Wohnung (soweit sie nicht die in den Leitlinien festgelegten Richtwerte für Warmmiete übersteigen) nebst Instandhaltung, Energie, Möbeln, Einrichtungsgegenständen und Haushaltsgeräten.

 

Nicht aus dem Selbstbehalt zu finanzierenden sind:

  • Zins- und Tilgungsleistungen für (vor Entstehung der Elternunterhaltspflicht begründete) Verbraucherdarlehen,
  • Zins- und grundsätzlich auch die Tilgungsleistungen für selbst- oder fremdgenutzte Immobilien,
  • Ansparungen für konkrete Investitionen und Reparaturen an einer Immobilie,
  • berufsbedingte Aufwendungen, Kosten für Besuchsfahrten zu dem in größerer Entfernung lebenden unterhaltsberechtigten Elternteil.
 

PRAXISTIPP | Eine gute Orientierung dafür, welche Ausgaben aus dem Selbstbehalt zu finanzieren und welche gesondert berücksichtigungsfähig sind bietet die vom Statistischen Bundesamt fortlaufend erarbeitete Aufstellung über die Konsumausgaben privater Haushalte. Mit einem daran anknüpfenden Verständnis der Selbstbehalte sind angemessene Ergebnisse zu erzielen.

 

4. Angemessenheitskontrolle im Einzelfall

Die Angemessenheit des Selbstbehalts und der ermittelten Leistungsfähigkeit ist nach der Rechtsprechung des BGH einer konkreten Kontrolle im Einzelfall zu unterziehen, um unbillige Ergebnisse zu vermeiden. Es kann geboten sein die „Leitlinienselbstbehalte“ nach oben zu korrigieren, z. B. weil die in den Selbstbehaltssätzen einkalkulierte Wohnkostenbelastung in einigen Regionen (insbesondere in Großstädten) tatsächlich zu niedrig ist bzw. krankheitsbedingte Mehrbelastungen berücksichtigt werden müssen.

 

PRAXISTIPPS |

  • Es obliegt dem Kind, zur Angemessenheit seines Eigenbedarfs konkret vorzutragen. In diesem Zusammenhang werden von der Rechtspraxis formelhafte Bezugnahmen auf einen bisherigen Lebensstil oder die Berufung auf einen bisherigen „vollständigen Einkommensverzehr“ als nicht ausreichend erachtet. Vielmehr ist konkret darzulegen, in welcher Weise das Kind seine Einkünfte bislang für welche Ausgaben verwendet hat.

 

  • Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Lebensstandardgarantie kein verschwenderisches Verhalten schützt. Wird ein über den pauschalen individuellen Selbstbehaltssatz hinausgehender Einkommensverbrauch geltend gemacht und damit eine überdurchschnittliche Begrenzung seiner Leistungsfähigkeit muss das Kind zum Vorliegen einer Sondersituation konkret vortragen und seinen Sachvortrag durch entsprechende Nachweise dokumentieren.

 

  • Sich auf vollständigen Einkommensverbrauch und mangelnde Sparleistung in der Vergangenheit zu berufen, kann in der anwaltlichen Praxis immer nur die erste Verteidigungsstrategie gegen Elternunterhalt sein. Es empfiehlt sich nicht, sich bewusst „arm zu rechnen“. Wer über ein jährliches Bruttoeinkommen von 100.000 EUR verfügt und Leistungsunfähigkeit geltend macht, riskiert, vom Sozialhilfeträger nicht ernst genommen zu werden, was die weitere Diskussion über die Frage der Leistungsfähigkeit erschwert.
 

5. Fazit

Aufgrund der geltenden Selbstbehalte und Freigrenzen ist der individuell zu leistende Unterhalt /‒ trotz anderslautender Hinweise im Internet ‒ im Einzelfall nur schwer zu überblicken und zu berechnen. Die Bundesregierung hat deshalb im Koalitionsvertrag vom 14.3.18 unter dem Stichwort „Elternunterhalt“ als wichtigen Schritt angekündigt, künftig auf das Einkommen der Kinder von pflegebedüftigen Eltern erst ab einem Einkommen von 100.000 EUR im Jahr zurückzugreifen. Es gibt jedoch keine Anzeichen dafür, dass sich hier tatsächlich kurzfristig etwas ändern wird, sodass die aufgezeigten Probleme bleiben.

Quelle: Ausgabe 04 / 2019 | Seite 65 | ID 45763164