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· Fachbeitrag · Unterhaltsberechnung

„Albtraum“: Beide Ehegatten werden gleichzeitig für einen ihrer Eltern unterhaltspflichtig

von RAin Dr. Dagny Liceni-Kierstein, RiOLG a.D., Berlin

| Zu den zentralen Themen des Elternunterhalts gehört die Frage der Leistungsfähigkeit des in Anspruch genommenen Kindes. Der BGH hat sich in seiner aktuellen Entscheidung erstmals mit der Frage befasst, welche Grundsätze zur Ermittlung der Leistungsfähigkeit von verheirateten Kindern für den Elternunterhalt gelten, wenn beide Ehegatten ihren jeweiligen Eltern zum Unterhalt verpflichtet sind. Anhand dieser Entscheidung soll das Thema Leistungsfähigkeit einmal intensiver betrachtet werden. |

1. Der Fall des BGH

Der Sozialhilfeträger macht aus übergegangenem Recht Ansprüche auf Elternunterhalt für einen in der Vergangenheit liegenden begrenzten Zeitraum gegenüber verheirateten Kindern gemäß §§ 1601 BGB, 94 Abs. 1 SGB XII geltend. Er erbrachte gleichzeitig sowohl der pflegebedürftigen Mutter des Ehemannes als auch der pflegebedürftigen Mutter der Ehefrau Sozialhilfeleistungen. Beide Mütter waren verwitwet und vollstationär in Pflegeheimen untergebracht. Sie sind auch beide im Verlauf des Verfahrens verstorben.

 

Der im Jahr 1951 geborene Ehemann bezog im Unterhaltszeitraum Renteneinkünfte. Seine 1954 geborene Ehefrau erhielt Vorruhestandsbezüge als Beamtin. Die Ehegatten bewohnten eine Eigentumswohnung mit einer Wohnfläche von 91 qm. Die Wohnung stand ursprünglich in ihrem jeweiligen hälftigen Miteigentum. Bereits 2014 ‒ und vor Eintritt der Unterhaltsbedürftigkeit der Eltern ‒ hatten beide Eheleute die Eigentumswohnung schenkweise auf die eigene Tochter übertragen und sich jeweils ein lebenslanges Nießbrauchsrecht an der Wohnung vorbehalten.

 

In getrennten Verfahren hat der Sozialhilfeträger beide Eheleute für den ungedeckten Unterhaltsbedarf der jeweiligen Mutter auf Zahlung von Elternunterhalt in Anspruch genommen. In diesen beiden bis zum BGH geführten Parallelverfahren (XII ZB 364/18 und 365/18) haben die Beteiligten zum einen über die Frage gestritten,

  • ob sich die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit der gegenüber der eigenen Mutter zum Elternunterhalt verpflichteten Eheleute nicht durch ihren jeweiligen Rückforderungsanspruch gemäß § 528 Abs. 1 BGB erhöht, weil sie die selbstgenutzte Eigentumswohnung zuvor an die eigene Tochter verschenkt und sich nur den Nießbrauch daran vorbehalten haben. Denn grundsätzlich gehört der Anspruch auf Rückgewähr des geschenkten Vermögensgegenstandes nach § 1603 Abs. 1 BGB zum unterhaltsrelevanten Vermögen, das für den Elternunterhalt einzusetzen ist.

 

  • Zum anderen hat sich der BGH in beiden Parallelverfahren mit den Grundsätzen zur Ermittlung der Leistungsfähigkeit von verheirateten Kindern für den Elternunterhalt befasst, wenn beide Ehegatten jeweils einem Elternteil zum Unterhalt verpflichtet sind.

 

Die Entscheidung des BGH vom 20.3.19 sorgt hier für Klarheit (XII ZB 365/18, Abruf-Nr. 208266) . Der BGH knüpft hierfür an die in seiner Entscheidung vom 28.7.10 (XII ZR 140/07, Abruf-Nr. 102782) entwickelten Grundsätze für die Berechnung der Leistungsfähigkeit eines verheirateten unterhaltspflichtigen Kindes an und überträgt diese konsequent auf die vorliegende Fallgestaltung.

2. Allgemeine Grundsätze

Während Eltern sich im Hinblick auf ihre eigenen Kinder regelmäßig darauf einstellen müssen, angesichts einer (oft lange dauernden) Berufsausbildung auch noch nach Eintritt der Volljährigkeit zur Zahlung von Ausbildungsunterhalt verpflichtet zu sein, werden sie oft unerwartet der Forderung ausgesetzt, sich an den für die Eltern aufgrund ihrer Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit in nicht unbeträchtlicher Höhe anfallenden Kosten zu beteiligen. Aus der „unverschuldeten und unverhofften“ Inanspruchnahme auf Elternunterhalt ‒ häufig auch erst in einem höheren eigenen Lebensalter ‒ hat der BGH bereits in einem seiner ersten Urteile zum Elternunterhalt im Jahr 2002 den Grundsatz der sog. Lebensstandardgarantie entwickelt.

 

Nicht zuletzt wegen des in § 1609 Nr. 6 BGB rechtlich vergleichsweise schwach ausgestalteten Elternunterhalts kann dem unterhaltspflichtigen Kind eine nachhaltige Verschlechterung seines Lebensniveaus durch die Inanspruchnahme auf Elternunterhalt nicht zugemutet werden. Es soll keine spürbaren und dauerhaften Abstriche bei seinem berufs- und einkommenstypischen (ehelichen) Lebensstandard hinnehmen müssen ‒ es sei denn, es betreibt ein nach den Verhältnissen unangemessenen Aufwand oder führt ein Leben im Luxus; auf eine solche Fallgestaltung trifft man allerdings in der unterhaltsrechtlichen Praxis eher selten.

 

Der vom BGH postulierten Lebensstandardgarantie wird insbesondere durch erhöhte Selbstbehaltssätze und durch höhere berücksichtigungsfähige Abzugspositionen Rechnung getragen. Die zentrale Bedeutung der Lebensstandardgarantie für die Bestimmung der Leistungsfähigkeit beim Elternunterhalt gilt nach der neuen BGH-Entscheidung auch zu berücksichtigen, wenn beide Kinder ihren jeweiligen Eltern zum Unterhalt verpflichtet sind.

3. Grundzüge der Leistungsfähigkeit

Ein Anspruch auf Elternunterhalt besteht ‒ bei zeitlicher Kongruenz mit der Unterhaltsbedürftigkeit der Eltern ‒ nur im Umfang der Leistungsfähigkeit des in Anspruch genommenen Unterhaltsschuldners nach § 1603 Abs. 1 BGB. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Leistungsfähigkeit des Kindes von vier Faktoren abhängig ist

  • von den anrechenbaren Einkünften,
  • von den berücksichtigungsfähigen Abzügen,
  • von dem einsetzbaren Vermögen,
  • vom Eigenbedarf (Selbstbehalt) des Verpflichteten.

 

Im Fall eines verheirateten und mit seinem Ehegatten zusammen lebenden Kindes ist im Hinblick auf den Familienunterhalt für die Leistungsfähigkeit des Kindes auch das Einkommen des mit ihm zusammen lebenden Ehegatten maßgeblich.

 

MERKE | Familienunterhalt ist der nach den §§ 1360 ff. BGB geschuldete Unterhalt bei bestehender ehelicher Lebensgemeinschaft. Dieser deckt den gesamten Lebensbedarf der Familie ab. Aus dem Familienunterhalt sind allerdings nicht Unterhaltsansprüche Dritter gegen ein Familienmitglied zu finanzieren. Daher gehören Unterhaltsansprüche von Eltern gegen einen Ehegatten nicht zum Familienunterhalt.

 

4. So rechnet der BGH bei nur einem pflichtigen Ehegatten

Nach seiner Grundsatzentscheidung vom 28.7.10 (XII ZR 140/07, Abruf-Nr. 102782) ist die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit des verheirateten Kindes wie folgt zu ermitteln:

 

  • Von den zusammengerechneten und um unterhaltsrechtlich relevante Abzugspositionen der Eheleute bereinigten Einkommen (= Familieneinkommen) wird zunächst der sog. Familiensockelselbstbehalt in Abzug gebracht. Dieser beläuft sich aktuell auf insgesamt (1.800 EUR [für den Unterhaltspflichtigen] + 1.440 EUR [für den mit ihm zusammenlebenden Ehegatten] = 3.240 EUR).

 

  • Das verbleibende Einkommen wird zur Ermittlung des für den individuellen Familienbedarf benötigten Betrags um die Haushaltsersparnis vermindert. Diese ist in der Regel mit 10 Prozent zu bemessen. Der BGH hat diese Höhe der häuslichen Ersparung von 10 Prozent, die durch das Zusammenleben und das gemeinsame Wirtschaften der Ehegatten eintritt, aus dem Sozialrecht abgeleitet.
  •  
  • Die Hälfte des sich daraus ergebenden Betrags kommt zusammen mit dem Familiensockelselbstbehalt dem Familienunterhalt zugute. Beide Beträge zusammen bilden den individuellen Familienbedarf.

 

  • Zu dem so zu berechnenden individuellen Familienbedarf hat das unterhaltspflichtige Kind entsprechend dem Verhältnis seiner Einkünfte zu dem gesamten Familieneinkommen beizutragen. Für den Elternunterhalt kann das unterhaltspflichtige Kind die Differenz zwischen seinem tatsächlichen Einkommen und seinem Einkommensanteil, mit dem er zum individuellen Familienbedarf beizutragen hat, einsetzen.

 

MERKE | Das unterhaltspflichtige Kind muss die Elternunterhaltszahlungen nur aus dem Teil seines Einkommens aufbringen, der für den Familienunterhalt nicht benötigt wird.

 

Die Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2010 betraf die Konstellation, dass das unterhaltspflichtige Kind der Mehrverdiener in der Ehe ist. 2014 hat der BGH allerdings entschieden, dass die dargestellte Rechenmethode auch für den umgekehrten Fall eine angemessene Berechnungsmethode darstellt, d. h. wenn das Schwiegerkind über höhere Einkünfte verfügt als sein unterhaltspflichtiger Ehegatte.

 

MERKE | In der Praxis kann gerade die ‒ mit wertenden Beurteilungen verbundene ‒ Ermittlung des in die Berechnung einzustellenden anrechenbaren bereinigten Einkommens des unterhaltspflichtigen Kindes größere Schwierigkeiten und viel Mühe bereiten.

 

Im vorliegenden Fall war beispielsweise auf der einen Seite ein beiderseitiger Wohnvorteil der Eheleute wegen ihres Nießbrauchsrechts an der verschenkten, aber noch von ihnen bewohnten Immobilie einkommenserhöhend zu berücksichtigen.

 

Auf der anderen Seite ergab sich eine Einkommensreduzierung durch die unterhaltsrechtlich anzuerkennenden Beiträge der Ehefrau zu einer ‒ erst im Unterhaltszeitraum einsetzenden ‒ zusätzlichen privaten Altersvorsorge.

 

5. So rechnet der BGH bei beiden pflichtigen Ehegatten

Der Umstand, dass beide verheirateten Kinder auf Unterhalt für ihren jeweiligen Elternteil in Anspruch genommen werden, zwingt nach Ansicht des BGH nicht zu einer Modifikation der von ihm entwickelten Berechnungsmethode. Das gilt jedenfalls für den vorliegenden Fall, wenn beide Eheleute über Einkünfte verfügen.

 

Denn die beiderseitige Leistungsfähigkeit zur Zahlung von Elternunterhalt wird auch in diesem Fall auf der Grundlage eines individuellen Familienbedarfs ermittelt. Nach Ansicht des BGH werde durch die von ihm entwickelte Berechnungsmethode gewährleistet, dass auch bei gleichzeitiger Unterhaltspflicht beider Eheleute gegenüber ihren jeweiligen Eltern der Anteil beider Ehegatten am individuellen Familienbedarf und somit der individuelle Familienbedarf insgesamt unangetastet bleibt. Beide müssen den jeweiligen Elternunterhalt ‒ wie im Fall der Elternunterhaltsverpflichtung nur eines Ehegatten ‒ nur aus ihrem Einkommensanteil bestreiten, der für den Familienbedarf der Eheleute nicht benötigt wird.

6. Berechnungsbeispiel

Die Berechnungsmethode des BGH lässt sich anhand eines Zahlenbeispiels verdeutlichen. Dabei ist ‒ aus Vereinfachungsgründen ‒ von einem anrechenbaren Monatseinkommen der Ehefrau von 2.400 EUR und einem solchen des Ehemanns von 1.800 EUR auszugehen. Für die von beiden Eheleuten für den jeweiligen bedürftigen Elternteil geschuldeten Unterhaltsbeträge ergeben sich folgende Rechenwege:

 

  • Beispiel: Beide Eheleute werden zum Elternunterhalt herangezogen
Ehefrau
Ehemann

Einkommen

 2.400,00 EUR

 1.800,00 EUR

Einkommen Ehegatte

 1.800,00 EUR

 2.400,00 EUR

Familieneinkommen

 4.200,00 EUR

 4.200,00 EUR

Anteil am Gesamteinkommen in %

abzgl. Familienselbstbehalt

57,14

 -3.240,00 EUR

 42,86

-3.240,00 EUR

Differenz

  960,00 EUR

   960,00 EUR

10 % Haushaltsersparnis davon

- 96,00 EUR

- 96,00 EUR

Zwischensumme

   864,00 EUR

   864,00 EUR

davon 1/2 = weiterer Selbstbehalt

   432,00 EUR

432,00 EUR

zuzüglich Familienselbstbehalt

 3.240,00 EUR

 3.240,00 EUR

individueller Familienbedarf

 3.672,00 EUR

3.672,00 EUR

Anteil jedes Eheg. am indiv. Familienbedarf in % (s. oben)

57,14

42,86

eigenes Einkommen

 2.400,00 EUR

 1.800,00 EUR

Anteil Familienbedarf

- 2.098,18 EUR

   -1.579,82 EUR

Einsetzbares Einkommen

   301,82 EUR

   226,18 EUR

 

Ergebnis für die Leistungsfähigkeit beider Eheleute:

 

  • Zahlungsverpflichtung der Ehefrau: rund 301 EUR pro Monat
  • Zahlungsverpflichtung des Ehemannes: rund 226 EUR pro Monat

7. Abschlussbemerkung

Ausgehend von den vom BGH entwickelten Berechnungsgrundsätzen für die Ermittlung der Leistungsfähigkeit im Elternunterhalt erscheint seine neue Entscheidung vom 20.3.19 konsequent und sorgt für weitere Klarheit. Offen bleibt dabei die Frage, wie mit der in der Praxis häufigen Fallkonstellation umzugehen ist, dass ein Ehegatten kein eigenes Einkommen hat, aber über einen hohen Wohnvorteil verfügt. Aus diesem geldwerten Vorteil (§ 100 BGB) des mietfreien Wohnens kann allerdings kein Barunterhalt gezahlt werden, sodass nur die sog. Taschengeldhaftung bleiben würde.

 

Weiterhin stellt sich die vom BGH in beiden Parallelverfahren (XII ZB 364/18 und 365/18) behandelte zentrale Frage, inwieweit sich die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit der zum Elternunterhalt verpflichteten Eheleute dadurch erhöht, dass ihnen aufgrund ihrer schenkweisen Übertragung der Eigentumswohnung an die eigene Tochter gegebenenfalls ein Rückforderungsanspruch gemäß § 528 Abs. 1 BGB zusteht. Auf diese ‒ häufig aus „Panikschenkungen“ zur vermeintlich gebotenen Vermögensrettung resultierenden ‒ Fragestellung und das beim Elternunterhalt geschonte Vermögen der pflichtigen Kinder soll in einem gesonderten Beitrag in der nächsten Ausgabe eingegangen werden.

Quelle: Ausgabe 08 / 2019 | Seite 136 | ID 46042757