· Fachbeitrag · Unfallversicherung
Neubemessung der Invalidität: Rückforderung des überzahlten Betrags durch Versicherer?
von RA Klaus-Jörg Diwo, vereidigter Buchprüfer und FA VersR, Freiburg
| In der Unfallversicherung besteht häufig Streit zwischen VN und VR, ob sich die Unfallfolgen im Laufe der Zeit verbessert haben und damit eine Neubemessung der Invalidität vorzunehmen ist. Unter welchen Bedingungen der VR dies tun kann, ist zwei Urteilen des OLG Oldenburg und des OLG Brandenburg zu entnehmen. |
1. Erstbemessung ohne Vorbehalt ‒ keine Rückforderung
Dem vom OLG Oldenburg entschiedenen Fall lagen die AUB 2008, Ziff. 7.2.1. zugrunde: Danach kann der VR die Neubemessung der Invalidität nur verlangen, wenn er sich dieses Recht bei der Erstbemessung vorbehalten hat. Sprich: Der VR muss spätestens in dem Abrechnungsschreiben, das er nach der Erstbemessung dem VN übermittelt, deutlich darauf hinweisen, dass er sich die Geltendmachung dieses Rechts vorbehält. Im entschiedenen Fall hatte der VR dies nicht getan.
Der VN verlangte seinerseits innerhalb der Drei-Jahres-Frist eine Neubemessung des Invaliditätsgrads, weil er mit der Erstbemessung nicht einverstanden war. Dabei ergab sich zum Nachteil des VN ein niedrigerer Invaliditätsgrad als bei der Erstfestsetzung. Daraufhin hat der VR den zu viel gezahlten Betrag zurückverlangt. Dem hat das OLG nicht zugestimmt (OLG Oldenburg 21.12.16, 5 U 96/16, Abruf-Nr. 192966).
Das OLG hat die Klausel Ziff. 7.2.1. der AUB 2008 ausgelegt. Danach kam es zum Schluss, dass der VN nach der Erstfestsetzung der Invalidität durch den VR ohne Vorbehalt annehmen darf, dass er eine unanfechtbare Position erlangt hat und er keine Rückforderung befürchten muss.
Der unbefangene Leser des Klauselwerks dürfe nach einer Erstfestsetzung ohne Vorbehalt der Neubemessung durch den VR erwarten, dass ein Rückforderungsrecht dann in den AUB geregelt worden wäre. Z. B. mit dem Wortlaut, dass auch dann eine Rückforderung möglich ist, wenn ein Vorbehalt bei Bemessung der Erstinvalidität nicht erfolgt ist.
PRAXISTIPPS |
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2. Rückforderung der Überzahlung in „Altfall“
Einen ähnlichen Fall hatte auch das OLG Brandenburg zu beurteilen. Allerdings lagen diesem Unfallversicherungsvertrag die AUB 2000 Ziff. 9.4 zugrunde, d. h. der Vertrag war vor der VVG-Reform abgeschlossen worden.
Der Versicherungsfall war im Jahr 2008 eingetreten. Gemäß Art. 1 Abs. 1 und 2 EGVVG war die bis zum 31.12.07 gültige Fassung des VVG weiter anzuwenden. Das OLG kommt zum Ergebnis, dass der VR eine Überzahlung zurückverlangen kann. Das gilt, selbst wenn der VR bei der Erstbemessung auf evtl. Rückforderungsansprüche nicht hingewiesen hat, dies allerdings in dem Zeitpunkt getan hat, als der VN die Neubemessung beantragte (OLG Brandenburg 1.2.17, 11 U 95/12, Abruf-Nr. 192964).
Das OLG begründet dies im Wesentlichen damit, dass
- der VR explizit auf Rückforderungsansprüche hingewiesen hat, als der VN die Neubemessung beantragt hat und
- der VN aufgrund der AUB 2000-Klausel Ziff. 9.4 nicht ohne Weiteres annehmen darf, ein Neubemessungsverlangen könne für ihn keine nachteiligen Folgen haben.
Im Urteilsfall musste der VN allerdings doch nichts zurückzahlen. Dies lag daran, dass der VR nicht nachweisen konnte, dass im Rahmen der Neubemessung eine niedrigere Invalidität eintrat als bei der Erstbemessung.
3. Bedeutung für die Praxis
Die beiden Urteile widersprechen sich nur scheinbar. Das OLG Brandenburg hat einen „Altfall“ entschieden. Es hat sich allerdings nicht dazu geäußert, wie es entscheiden würde, wenn der Versicherungsfall nach 2008 eingetreten wäre und die AUB 2008 dem Versicherungsvertrag zugrunde gelegen hätten.
In der Rechtsprechung scheint die Tendenz erkennbar zu sein bei Versicherungsfällen, denen die AUB 2008 zugrunde liegen und der VR sich das Recht auf Neubemessung nicht bei der Erstbemessung ausdrücklich vorbehalten hat, dem VN eine unanfechtbare Rechtsposition zuzubilligen. Die kann durch eine Neubemessung nicht mehr eingeschränkt werden. Damit besteht bei einem nachteiligen Ergebnis der Neubemessung kein Rückforderungsrecht des VR (so z. B. auch OLG Frankfurt a. M. 18.9.08, 3 U 206/06, Abruf-Nr. 195072).
PRAXISTIPP | Für den VN empfiehlt sich bei einem Antrag auf Neubemessung zunächst zu prüfen, welche AUB zugrunde liegen. Dann sollte die schriftliche Nachricht über die Erstbemessung des VR im Hinblick auf einen Vorbehalt der Neubemessung durchgeschaut werden. Hat sich der VR die Neubemessung nicht vorbehalten, bestehen für den VN durchaus Aussichten, auch bei einer für ihn negativen Neubemessung keinem Rückforderungsanspruch des VR ausgesetzt zu sein. |