· Fachbeitrag · Selbstanzeigenberatung
§ 398a AO und der Strafklageverbrauch im nationalen und internationalen Kontext
von RA Dipl.-Betriebswirt (FH) Dr. Florian Modlinger, BDO AWT GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, München und RAin Christina Odenthal, LL.M., Roxin Rechtsanwälte LLP, Düsseldorf
| Bei der Schaffung des § 398a AO wurde dieser der Regelung des § 153a StPO „nachempfunden“. Bei § 153a StPO ist ein Strafklageverbrauch gesetzlich geregelt, bei § 398a AO nicht. Die Diskussion um den Strafklageverbrauch wurde zuletzt jedoch durch den Gesetzgeber (BT-Drs. 18/3018) neu entfacht, da eine Wiederaufnahmeregelung geschaffen wurde, die einen Strafklageverbrauch logisch voraussetzt. Der folgende Aufsatz soll zeigen, dass ein Strafklageverbrauch denkbar und - trotz der Wiederaufnahmemöglichkeit - von praktischer Bedeutung sein kann. |
1. Diskussionsstand zu § 398a AO a.F.
Bereits bei der Schaffung des § 398a AO wurde die Frage nach einem Strafklageverbrauch gestellt. Diese wurde mehrheitlich abgelehnt (Schwartz/Külz, PStR 11, 249) und damit begründet, dass ein Strafklageverbrauch sich auf die prozessuale Tat beziehe, wonach auch außersteuerliche Taten nicht mehr bestraft werden könnten. Diese Wertung ergäbe sich insbesondere aus einer Zusammenschau mit § 371 AO (Leez, SteuK 11, 339). Weiterhin wurde auch die praktische Relevanz eines möglichen Strafklageverbrauchs in Abrede gestellt (Schwartz, PStR 11, 122), da regelmäßig eine Teilselbstanzeige vorläge, wenn unvollständige oder unzutreffende Erklärungen im Rahmen einer Selbstanzeige abgegeben wurden und eine Einstellung nach § 398a AO ohnehin nicht angenommen werden könne.
2. Diskussionsstand zu § 398a AO n.F.
Laut Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/3018) wurde § 398a Abs. 3 AO deshalb geschaffen, um „Gestaltungen bei der Abgabe einer strafbefreienden Selbstanzeige im Rahmen des § 398a AO vorzubeugen“. Es soll „eine ausdrückliche Wiederaufnahmemöglichkeit des Strafverfahrens neu im Gesetz geregelt werden.“
Es stellt sich somit die Frage, ob eine Ablehnung des Strafklageverbrauchs auch weiterhin gelten kann. Von zahlreichen Literaturstimmen (Habammer/Pflaum, DStR 14, 2267; Joecks, DStR 14, 2261) wird ein Strafklageverbrauch weiterhin verneint. In einer Stellungnahme (47/2014) des Deutschen Anwaltvereins zum Referententwurf ist dagegen Folgendes zu lesen: „Der nun in den Entwurf des § 398a AO neu aufgenommene Abs. 3 führt expressis verbis dazu, dass bei unvollständiger Selbstanzeige kein Strafklageverbrauch eintritt. Dass diese Ergänzung nach Auffassung des Gesetzgebers konstitutive und keine deklaratorische Wirkung entfaltet, ergibt sich aus der Gesetzesbegründung. Damit sei der Rückschluss erlaubt, dass die Anwendung des § 398a AO in seiner jetzigen Fassung zum Strafklageverbrauch führt.“
3. Stellungnahme zu § 398a AO n.F.
In der Gesetzesbegründung gibt es keinen Hinweise darauf, dass diese Regelung lediglich klarstellenden Charakter haben soll. Somit ist der Ansicht zuzustimmen, dass mit der Regelung in § 398a Abs. 3 AO ein Wiederaufnahmegrund geschaffen werden sollte, um einen Strafklageverbrauch auszuschließen. Es ist somit nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber etwas Überflüssiges geschaffen hat, da ohnehin kein Strafklageverbrauch angenommen werden konnte (so aber Joecks, DStR 14, 2261).
Dass der Gesetzgeber von einem Strafklageverbrauch ausgegangen ist, zeigt sich insbesondere dadurch, dass die Fälle der unrichtigen/unvollständigen Selbstanzeige eine Wiederaufnahme rechtfertigen sollen. Wäre der Gesetzgeber nicht von einem Strafklageverbrauch ausgegangen, hätte im Falle einer unrichtigen/unvollständigen Selbstanzeige ohnehin keine Verfahrenseinstellung nach § 398a AO erfolgen dürfen, da die übrigen Voraussetzungen einer Selbstanzeige - hier die Vollumfänglichkeit - gerade nicht gegeben wären. In diesem Fall, wäre die Verfahrenseinstellung jederzeit wieder rückgängig zu machen, ohne dass es eines Wiederaufnahmegrundes bedarf. Eines solchen Wiederaufnahmegrundes bedarf es ausschließlich bei einem Strafklageverbrauch. Dies zeigt die Parallele zu § 153 StPO, wonach eine Wiederaufnahme allein einen sachlichen Grund für die Wiederaufnahme voraussetzt und somit nicht an spezielle Hürden geknüpft ist (Beck‘scher Online-Kommentar, StPO, § 153 Rn. 40).
Nach der Gesetzesbegründung sollte die Wiederaufnahmemöglichkeit „neu im Gesetz geregelt“ werden. Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, dass bislang keine Wiederaufnahmemöglichkeit besteht. Wäre der Gesetzgeber nicht von einem Strafklageverbrauch ausgegangen hätte er die Wiederaufnahmemöglichkeit analog zu § 153 StPO - also durch gänzliches Schweigen - regeln können. Dies geschah aber gerade nicht.
4. Folgerung aus dem Strafklageverbrauch
Auf den ersten Blick bleibt aufgrund des Wiederaufnahmegrundes in § 398a Abs. 3 AO für einen Strafklageverbrauch in der Praxis wenig Raum. Dass dem nicht so ist, soll an folgenden Fallgestaltungen aufgezeigt werden:
4.1 Außersteuerliche Straftaten
Neben einer Steuerstraftat wurde eine weitere Straftat begangen. Beispielsweise hat der Steuerhinterzieher eine Urkundenfälschung begangen. Wenn die Taten derart im Zusammenhang stehen, dass es sich um eine Tat im prozessualen Sinne handelt, könnte - den Strafklageverbrauch unterstellt - eine Strafverfolgung der Urkundenfälschung nicht mehr erfolgen (Adick, HRRS 11, 197). So geht auch der Gesetzgeber vom Strafklageverbrauch aus, denn der Wiederaufnahmegrund ist auf die Fälle der unrichtigen oder unvollständigen Selbstanzeige beschränkt. Da die Urkundenfälschung als solche für das steuerliche Ergebnis ohne Belang ist, muss der Umstand der Urkundenfälschung in der Selbstanzeige auch nicht erwähnt werden. Somit kann eine Selbstanzeige, die das Faktum der Urkundenfälschung nicht erwähnt, auch nicht unrichtig oder unvollständig sein. Der Wiederaufnahmegrund greift hier also nicht, wodurch ein endgültiger Strafklageverbrauch eintritt.
4.2 Transnationaler Strafklageverbrauch
Trotz der Wiederaufnahmemöglichkeit kann der Strafklageverbrauch praktische Bedeutung im europäischen Recht erlangen. Dies soll an folgendem Fall dargestellt werden: Ein Steuerpflichtiger hat umfangreiche Vermietungseinkünfte in Belgien, die dem Progressionsvorbehalt in Deutschland unterliegen. Die Einkünfte wurden weder in Belgien noch in Deutschland erfasst. Hinsichtlich des Progressionsvorbehalts gibt der Steuerpflichtige eine Selbstanzeige in Deutschland ab. Es stellt sich die Frage, ob der Steuerpflichtige in Belgien wegen Steuerhinterziehung belangt werden kann.
Art. 54 des SDÜ verbietet die Verfolgung einer Tat durch eine Vertragspartei im Falle einer bereits erfolgten rechtskräftigen Aburteilung derselben Tat durch eine andere Vertragspartei „vorausgesetzt, dass im Falle einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist...“
Auf den ersten Blick kommt in diesem Kontext ein Strafklageverbrauch im Rahmen der Zahlung des Zuschlags nach § 398a AO unter Zugrundelegung der nationalen Definitionen dieser Tatbestandsmerkmale nicht in Betracht. Jedoch gliedern sich die Begriffe nach der Rechtsprechung des EuGH in
- Sanktion,
- rechtskräftige Verurteilung,
- Tatbegriff.
4.2.1 Sanktion
Nach dieser kann die Zusatzzahlung des § 398a AO als strafrechtliche Sanktion im Sinne des Ne bis in idem-Grundsatzes angesehen werden. Die Beurteilung soll von der rechtlichen Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, der Art der Zuwiderhandlung und der Art und dem Schweregrad der angedrohten Sanktion abhängen (EuGH 26.2.13, C-617/10, Åklagare/Åkerberg Fransson, NJW 13, 1415; EuGH 5.6.12, C-489/10, Bonda, EuZW 12, 543). Da § 398a AO der Regelung des § 153a StPO nachempfunden ist, ist der Zweck der Zusatzzahlung mit dem der Auflage vergleichbar: Die Auflage soll nach ihrer Art und Qualität dazu dienen, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen (Pfeiffer, StPO, § 153a, Rn. 2; KK-Schoreit Rn. 12). Mit der Zusatzzahlung wird der Steuerpflichtige, über die Entrichtung der hinterzogenen Steuern hinaus, aufgrund seines gesetzeswidrigen Verhaltens zu einer weiteren Zahlung an die Staatskasse verpflichtet, die dadurch nicht mehr als reine Fiskalsanktion angesehen werden kann, sondern als Strafe i.S. von Art. 54 SDÜ und Art. 50 EU-GRC zu betrachten sein muss.
4.2.2 Rechtskräftige Verurteilung
Hinsichtlich des Begriffs der „rechtskräftigen Aburteilung“ ging der BGH zunächst davon aus, dass das Doppelbestrafungsverbot zwingend die Verfahrensbeendigung durch ein Gericht voraussetze und verneinte die Frage, ob dazu auch eine Verfahrensbeendigung durch eine nichtrichterliche Stelle ausreichend sei (BGH, NStZ 99, 250; auch BGH NJW 99, 3134).
Schließlich entschied der EuGH die Frage, dass das Doppelbestrafungsverbot des Art. 54 SDÜ, Art. 50 EU-GRC auch bei den national vorgesehenen zum Strafklageverbrauch führenden Verfahrensbeendigungen auch ohne gerichtliche Mitwirkung gilt (EuGH 11.2.03, C-187/01, C-385/01, Gözütok und Brügge, NStZ 03, 332). Zur Begründung führt der EuGH an, für die Geltung des Art. 54 SDÜ sei weder ein Urteil noch eine gerichtliche Mitwirkung erforderlich, da der Wortlaut des Art. 54 SDÜ derartige „verfahrensrechtliche und formale Gesichtspunkte“ nicht erfordere.
In der Turansky-Entscheidung (EuGH 22.12.08, C-491/07, NStZ-RR 09, 109) stellte der EuGH zunächst heraus, dass grundsätzlich nur eine solche Entscheidung als eine rechtskräftige Aburteilung i.S. von Art. 54 SDÜ angesehen werde, die „endgültig“ die Strafverfolgung beende und die Strafklage verbrauche.
In einer nachfolgenden Entscheidung (EuGH 5.6.14, C-398/12, Rechtssache M, NJW 14, 3010) bejahte der EuGH die Vorlagefrage des Tribunal di Fermo und konstatierte, dass Art. 54 SDÜ dahin ausgelegt werden müsse, dass ein Einstellungsbeschluss, der erneute Ermittlungen gegen dieselbe Person aufgrund desselben Sachverhalts in dem Vertragsstaat, in dem dieser Beschluss ergangen ist, verhindere, als eine rechtskräftige Aburteilung anzusehen sei und somit erneute Ermittlungen wegen derselben Tat gegen dieselbe Person in einem anderen Vertragsstaat exkludiere. Die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund neuer Belastungstatsachen schließe die Rechtskraft einer Entscheidung i.S. von Art 54 SDÜ nicht aus.
Bereits der Wortlaut der Neufassung des § 398a AO sieht das Absehen von der Verfolgung in § 398a Abs. 1 AO als „endgültige Entscheidung“ im Sinne der Begründung im Rahmen der Turansky Entscheidung an (EuGH 22.12.08, C-491/07, NStZ-RR 09, 109), da im Kontext des nun normierten § 398a Abs. 3 AO mit dem Terminus „abgeschlossenes Verfahren“ auf die Einstellung nach § 398a Abs. 1 AO verwiesen wird.
Die Neufassung des § 398a AO statuiert nun eine Wiederaufnahme eines nach Abs. 1 abgeschlossenen Verfahrens im Falle der Feststellung unvollständiger oder unrichtiger Angaben im Rahmen einer Selbstanzeige, mithin müssen neue Tatsachen bekannt werden. Infolgedessen ist der Begriff der „Entscheidung“ nach Abs. 1 der Neufassung des § 398a AO mit der Begründung des EuGH in der Rechtssache M (EuGH 5.6.14, C-398/12, Rechtssache M, NJW 14, 3010) (a.a.O.) als rechtskräftige Aburteilung im Sinne der europäischen Definition auszulegen, und somit als der entsprechenden Voraussetzung des Art. 54 SDÜ und Art. 50 EU-GRC als genügend anzusehen. Die Einstellung konfligiert zwar die weitere Strafverfolgung desselben nationalen Verfahrens nicht zwangsläufig, jedoch steht sie in einem anderen Vertragsstaat als in jenem, in dem die Einstellung erfolgt ist, der Strafverfolgung wegen derselben Tat als Verfahrenshindernis entgegen. Dahingehend erlangt der Strafklageverbrauch trotz der Wiederaufnahmemöglichkeit im europäischen Kontext Bedeutung.
Mit anderen Worten: Der Steuerpflichtige kann in Deutschland nur dann bestraft werden, wenn ein Fall der Wiederaufnahmemöglichkeit besteht. In Belgien besteht jedoch in jedem Fall ein Strafklageverbrauch, wenn hier von „derselben Tat“ ausgegangen werden kann.
4.2.3 Tatbegriff
Die Auslegung des Tatbegriffs nach Art. 54 SDÜ und Art. 50 EU-GRC hatte der EuGH erstmals im Rahmen der Vorlagefrage, welches Kriterium für die Anwendung des Tatbegriffs maßgeblich ist, zu entscheiden (EuGH 9.3.06, C-436/04, Van Esbroeck, NJW 06, 1781; nachfolgend EuGH 28.9.06, van Straaten, C-150/05, BeckRS 06, 70756). Der EuGH entschied, das maßgebende Kriterium für den Tatbegriff i.S. von Art. 54 SDÜ und Art. 50 EU-GRC sei die Identität der materiellen Tat. Dies umschreibt er mit dem „Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen ... unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse“.
Da der europäische Tatbegriff also den gesamten mit der materiellen Tat zusammenhängenden Lebenssachverhalt erfasst (Bülte, NZWiSt 14, 321), ist darunter auch der Fall zu fassen, in dem eine Person Vermietungseinkünfte in einem Vertragsstaat hat, die dem Progressionsvorbehalt in einem anderen Vertragsstaat unterliegen und somit in beiden Staaten zu berücksichtigen sind. Hat diese Person nun eine Selbstanzeige eingereicht und wurde das daran anknüpfende nationale Verfahren wegen Steuerhinterziehung nach § 398a AO eingestellt, gilt das Verfahren im europäischen Kontext nach dem oben Erörterten als rechtskräftig abgeurteilt und sperrt dadurch die Verfolgung in dem anderen Vertragsstaat.
Es ist Sache des nationalen Gerichts zu prüfen, ob eine objektive Verbindung nach der Identität und des Zusammenhangs aller Umstände der Taten vorliegt, die den Schluss zulässt, dass es sich um dieselbe Tat i.S. des Art. 54 SDÜ handelt (zu Organisationsdelikten auch EuGH 16.11.10, C-261/09, Gaetano Mantello, NJW 11, 983). Ob dies also im Ausgangsfall bejaht werden kann, ergibt sich aus den konkreten Umständen. Zwar handelt es sich hier um zwei Steuererklärungen, dennoch kann für eine Tat sprechen, dass sich die Steuerhinterziehung auf denselben Lebenssachverhalt - hier die Vermietung von Wohnungen in Belgien - bezieht. Insbesondere kann hier der Verteidiger gefragt sein, einen Zusammenhang aufgrund eines Lebenssachverhalts aufzuzeigen. Eine vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Steuergesetze möglicherweise divergierende rechtliche Beurteilung in den beiden Vertragsstaaten vermag an dem bestehenden tatsächlichen Zusammenhang und der davon abhängigen Einordnung als identische materielle Tat auch nichts zu ändern (EuGH 9.3.06, C-436/04, Van Esbroeck, NJW 06, 1781).
Trotz dieser Anhaltspunkte für eine Tat, kommt es jedoch auf die Würdigung im Einzelfall an. Wird ein entsprechender Zusammenhang angenommen, tritt auch ein transnationaler Strafklageverbrauch ein.
FAZIT | Zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass wenn man der Ansicht des Deutschen Anwaltvereins folgt, ein Strafklageverbrauch geschaffen wurde, der trotz Wiederaufnahmemöglichkeit von praktischer Bedeutung ist. |