· Fachbeitrag · Schmerzphysiotherapie
„Für chronische Schmerzpatienten gilt: Tango statt Fango!“
| Bei der Behandlung chronischer Schmerzen spielen Physiotherapeuten eine wichtige Rolle. In Kliniken gehören sie oft zu interdisziplinären Teams, die Schmerzpatienten multimodal behandeln. So auch im Marien Hospital Herne ‒ Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum. Dort leitet Dr. med. Axel Münker die Abteilung für Schmerz- und Palliativmedizin. Er informiert Patienten und Therapeuten regelmäßig über aktuelle Therapieverfahren. Darüber sprach er mit Ursula Katthöfer ( textwiese.com ). |
Frage: Herr Dr. Münker, wann bitten Sie bei Patienten mit chronischen Schmerzen einen Physiotherapeuten hinzu?
Antwort: Physiotherapeuten sind sofort Teil des Teams. Denn wir wissen, dass unimodale Therapiekonzepte ‒ also nur Medikamente oder reine Krankengymnastik ‒ bei chronischen Schmerzerkrankungen nicht greifen. Die multimodale Schmerztherapie braucht ein multiprofessionelles Team, dem neben Fachärzten, Psychologen und Psychotherapeuten auch Physiotherapeuten angehören.
Frage: Was ist im Behandlungsteam die erste Aufgabe der Physiotherapie?
Antwort: Man kann gar nicht von einer ersten Aufgabe sprechen. Eine chronische Schmerzerkrankung ist eine relativ komplexe Störung, die Veränderungen am peripheren Nervensystem, auf Rückenmarksebene und bei der Schmerzverarbeitung im Gehirn bewirkt. Unabhängig vom Schmerzauslöser gibt es soziale, psychische und körperliche Folgen. Wir haben also häufig eine Komorbidität und sprechen vom biopsychosozialen Schmerzmodell. Anders als beim Akutschmerz haben wir bei chronischen Schmerzpatienten nicht das Ziel, dass sie ihr Leben wieder schmerzfrei gestalten können. Vielmehr brauchen wir eine gute Alltagstauglichkeit.
Frage: Können Sie das biopsychosoziale Modell an einem Beispiel erläutern? Nehmen wir den Rückenschmerzpatienten.
Antwort: Der Patient hat z. B. eine Bandscheibenvorwölbung, die nicht über das übliche Maß in seiner Altersgruppe hinausgeht. Doch es kommt ein emotionales Ereignis dazu. Nehmen wir den Lagerarbeiter, der sich an einer Kiste verhoben hat. Gleichzeitig erhält er von seinem Chef eine Abmahnung, es entstehen Zukunftsängste. Das Ereignis an der Wirbelsäule wird mit dem emotionalen Erleben gekoppelt und im Gehirn miteinander verschaltet. Ohne das Erleben der Angst würde der Patient heiß duschen und am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen. Wegen seiner Zukunftsangst gerät er jedoch in das sog. „Fear-Avoidance-Modell“, also Angst-Vermeidungs-Modell. Er vermeidet Bewegung, weil sie ihm wehtut. An dieser Stelle wird im Kopf eine Weiche umgestellt. Der Patient gerät vom akuten Schmerz in einen chronischen Kreislauf.
Frage: Was sollte der Physiotherapeut tun?
Antwort: Seine wichtigste Aufgabe ist, dem Patienten deutlich zu machen, dass Bewegung guttut. Auf der Couch zu bleiben, macht nur träger und verstärkt die Schmerzen. Worte bewirken da wenig. Der Physiotherapeut muss die positiven Folgen einer Verhaltensänderung für den Patienten erlebbar machen, ihm Spaß an seinem Körper vermitteln. So kann der Patient zurück in die Aktivität und muss sich nicht mehr als Opfer des Schicksals, das auf die Rente wartet, verstehen. Es gilt das Motto: Tango statt Fango.
Frage: Gilt das auch für geriatrische Patienten?
Antwort: Viele geriatrische Patienten schauen auf ein langes Leben mit Höhen und Tiefen zurück. Prägende Ereignisse ‒ darunter traumatisierende Kriegserlebnisse ‒ bestimmen auch ihr Schmerzerleben. Zudem werden die Patienten viel älter als früher, da wir Herzkreislauf- und Tumorerkrankungen erfolgreicher behandeln können als noch vor 20 oder 30 Jahren. Jetzt ereilen uns die Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen. Spinalkanalstenosen sind ein großes Problem in der Geriatrie, weil der Mensch entwicklungsgeschichtlich nie für den aufrechten Gang gebaut wurde. Je länger wir aufrecht gehen, desto mehr kommt es zu Bandscheibenveränderungen und Ausziehungen von Gelenkflächen. Dieses Problem kann auch die Physiotherapie kaum lösen.
Frage: Wo liegen die Unterschiede bei der physiotherapeutischen Behandlung von geriatrischen Patienten im Vergleich zu jüngeren Patienten?
Antwort: Ein junger Patient mit einem Meniskusschaden steigt aufs Fahrrad und baut seine Muskeln wieder auf. Beim geriatrischen Patienten brauchen wir viel mehr Säulen der Physiotherapie. Denn das Nervensystem, die Muskulatur, die Gelenke und Faszien sind degenerativen Veränderungen unterworfen. Neben dem Krafttraining brauchen wir ein komplexes Üben im Sinne von Sensibilitäts- und Koordinationstrainings.
Frage: Nennen Sie bitte noch ein Beispiel.
Antwort: Das große Problem bei Patienten mit Parkinson oder Polyneuropathie ist nicht das Vorwärtslaufen. Die meisten können auch rückwärtsgehen. Das große Problem ist der Seitwärtssturz. Er ist der häufigste Grund für eine gebrochene Hüfte. Sich rasch seitlich abzufangen, ist eine hohe Leistung des Gehirns. Sie ist mit einem hohen Kraftaufwand von mindestens zwei g, also der zweifachen Erdbeschleunigung, verbunden. Zum Vergleich: Der geriatrische Patient müsste in der Lage sein, auf einem Bein zu hüpfen.
Frage: Was wünschen Sie sich von den Physiotherapeuten in Ihrem Team?
Antwort: Ich halte es für unabdingbar, dass der Physiotherapeut die Therapie mit einer Funktionsanalyse beginnt. Gerade bei älteren Schmerzpatienten kann er kein Standardprogramm wie nach einer Meniskus-OP machen.
Herr Dr. Münker, vielen Dank für das Gespräch! L