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· Fachbeitrag · Arzneimittelrecht

Medizinische Versorgung mit Cannabis

| Gerade im Alter kann es zu Erkrankungen kommen, die mit erheblichen Schmerzen einhergehen. Wann darf in einem solchen Fall medizinisches Cannabis zur Schmerztherapie vom Arzt verordnet werden? Dies ist in der Praxis noch nicht umfassend geklärt, sodass Zweifelsfälle häufig vor Gericht landen. Das LSG Stuttgart musste sich in diesem Zusammenhang mit der Frage befassen, was unter einer der „dem medizinischen Standard entsprechenden Leistung“ zu verstehen ist. |

Sachverhalt

Der 1962 geborene Kläger ist bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich krankenversichert. Bei ihm wurde ein Grad der Behinderung von 50 ab September 2011 festgestellt. Er legte im Juli 2018 der Beklagten den „Arztfragebogen zu Cannabinoiden nach § 31 Abs. 6 SGB V“ vor, ausgestellt von seinem Hausarzt Dr. W., der zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen ist. Danach solle der Wirkstoff THC, Handelsname Dronabinol, zur Behandlung seiner chronisch neuropathischen Rückenschmerzen und einer chronischen Hepatitis mit dem Ziel der Schmerzlinderung verordnet werden. Die Erkrankung sei schwerwiegend mit Beeinträchtigungen in allen Bereichen des Alltags. Zudem bestünden eine Depression und Hepatitis C. Der Kläger habe andere geeignete Medikamente nicht vertragen.

 

Verordnung von Cannabis abgelehnt

Die Beklagte legte dem MDK den Antrag zur gutachterlichen Stellungnahme vor. Dieser gelangte zu der Beurteilung, dass die medizinischen Voraussetzungen für die Leistung nicht erfüllt seien. Ob bei dem Kläger eine schwerwiegende Erkrankung vorliege, könne sozialmedizinisch nicht bestätigt werden. Der Vertragsarzt habe keine Behandlungsunterlagen eingereicht. Seit Jahren laufe keine Heilmitteltherapie. Zum Kreuzschmerz seien keine Facharztbehandlung, keine Krankenhausbehandlung, keine Rehabilitation und keine Hilfsmittelversorgung im Leistungsauszug der Beklagten dokumentiert. Auch habe weder Funktionstraining noch Rehabilitationssport stattgefunden. Eine nachvollziehbare Diagnostik bezüglich des Kreuzschmerzes sei nicht dokumentiert. Somit lasse sich die hausärztlich gestellte Diagnose eines „neuropathischen Schmerzes“ nicht nachvollziehen. Auch sei weder dem Arztfragebogen noch dem Leistungsauszug der Beklagten eine leitliniengerechte Schmerztherapie zu entnehmen. Daher lehnte die Beklagte die Verordnung für Cannabisarzneimittel auf Kassenrezept ab.

 

Leitliniengerechte Behandlung nicht nachgewiesen

Im Widerspruchsverfahren legte der Kläger eine Heilmittelversorgung eines Orthopäden wegen der Diagnose von u. a. rezidivierender Lumbalgie und weitere Atteste vor. Nach Vorlage dieser Unterlagen und eines Leistungsverzeichnisses gelangte der MDK erneut zur Einschätzung, dass die Leistungsvoraussetzungen nicht erfüllt seien.

 

Wegen rezidivierenden Rückenschmerzen, rezidivierenden depressiven Episoden und einer Hepatitis C sei zwar von einer schwerwiegende Erkrankung auszugehen. Aus den Behandlungsdaten sei aber nicht ersichtlich, dass eine den Leitlinien entsprechende Behandlung stattgefunden habe. Zudem sei nicht geklärt, inwiefern Schmerzempfinden und Schmerzverarbeitung des Klägers als Ausdruck einer psychischen Beeinträchtigung anzusehen seien. Aufgrund gehäufter depressiver Episoden seit 2012 sei eine erneute psychiatrische Vorstellung erforderlich.

 

Des Weiteren habe Dr. W sich nicht zu einem möglichen Cannabis-Suchtproblem geäußert, obwohl einer der behandelnden Ärzte 2012 Störungen in Psyche und Verhalten durch Cannabinoide diagnostiziert hatte. Folglich wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

 

Die hiergegen gerichtete Klage wurde vom Sozialgericht Freiburg durch Gerichtsbescheid vom 28.11.19 zurückgewiesen. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V lägen nicht vor. Die Rückenschmerzen hätten grundsätzlich sowohl medikamentös sowie krankengymnastisch behandelt werden können. Hiergegen legte der Kläger Berufung ein. Das Berufungsgericht wies darauf hin, dass es für die Zulässigkeit eines Kostenerstattungsantrags erforderlich sei, den Antrag zu beziffern. Der Kläger legte sodann Privatrezepte des Dr. W. vor. Das LSG Stuttgart hat die zulässige Berufung als unbegründet zurückgewiesen.

 

Für die nach § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. a) SGB V erforderliche Beurteilung, ob eine dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung steht, ist auf die Grundsätze zur evidenzbasierten Medizin abzustellen.

 

Die nach § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b) SGB V erforderliche begründete Einschätzung eines behandelnden Vertragsarztes ist unzureichend, wenn der Vertragsarzt auf Krankheiten abstellt, die längst ausgeheilt sind.

 

Verordnet der Arzt einem Versicherten bereits bei der ersten Konsultation eine Versorgung mit Cannabis, darf er sich zur Beurteilung der bisher durchgeführten Therapien nicht allein auf die anamnestischen Angaben des Versicherten stützen.

 

(Abruf-Nr. 224790)

 

Entscheidungsgründe

Der Kläger begehrt mit seiner Klage eine Versorgung mit medizinischem Cannabis für die Zukunft. Die Voraussetzungen für einen Anspruch nach § 31 Abs. 6 SGB V sind nach dem LSG aber nicht erfüllt.

 

Die Frage, ob die Krankheiten des Klägers schwerwiegend im Sinne der Vorschrift sind, lässt das LSG offen. Allerdings liegen nach dem LSG die Anspruchsvoraussetzungen schon im Hinblick auf die Behandlung nicht vor: Für die festgestellten Krankheiten bestehen Behandlungsmöglichkeiten, die dem medizinischen Standard entsprechen, also Standardtherapien im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V.

 

MERKE | Maßgebend sind die Grundsätze der (sog.) evidenzbasierten Medizin. Eine Standardtherapie fehlt nur, wenn eine solche Behandlungsmöglichkeit nicht besteht, oder aber der Versicherte sie nachweislich nicht verträgt.

 

Dem medizinischen Standard entsprechende Leistung

Der MDK hatte in seinen Gutachten mehrere (geeignete) Standardtherapien genannt. Außerdem liegen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 S. 1 Buchst. b SGB V nicht vor. Hiernach muss der behandelnde Vertragsarzt eine begründete Einschätzung dazu vornehmen, warum unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten die Standardtherapie nicht zur Anwendung kommen kann. Eine solche Beurteilung habe der behandelnde Hausarzt Dr. W. nicht abgegeben. Vielmehr seien seine Angaben widersprüchlich gewesen.

Relevanz für die Praxis

Der 11. Senat des Landessozialgerichts klärt mit diesem Urteil eine wichtige Frage zur Verordnung von Cannabismedikamenten.

 

Keine Standardtherapie möglich?

Maßgeblich für die Frage, ob eine Versorgung mit Cannabisprodukten infrage kommt, ist § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 SGB V.

 

  •  § 31 Abs. 6 S. 1 SGB V

Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn

 

1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung

  • a) nicht zur Verfügung steht oder
  • b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustands der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,
  •  

2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

 

MERKE | Eine Standardtherapie im Sinne dieser Regelung liegt nur vor ‒ ebenso wie in § 2 Abs. 1a SGB V ‒ wenn sie den Leitlinien zur evidenzbasierten Medizin entspricht.

 

Die Versorgung mit medizinischem Cannabis ist aber gerade nicht evidenzbasiert und soll eine Ausnahme bleiben. Das LSG stellt daher fest: Solange eine leitlinienkonforme Therapie möglich ist, ist eine Behandlung mit Cannabismedikamenten ausgeschlossen. Dem ist zuzustimmen, denn § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 SGB V regelt die Verordnung nur unter sehr strengen Anforderungen für den Einzelfall.

 

Beachten Sie | Nach der Gesetzesbegründung soll der Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln nur in „eng begrenzten Ausnahmefällen“ gegeben sein (BT-Drs. 18/8965, S. 14 und 23).

 

Definition der „schwerwiegenden Krankheit“

Eine andere Frage ist, ob man sich der Auslegung des LSG anschließen sollte, was unter einer schwerwiegenden Krankheit zu verstehen ist.

 

PRAXISTIPP | Das LSG Stuttgart hat am gleichen Tag einen weiteren Fall zur Versorgung mit Cannabisprodukten entschieden (LSG Stuttgart 30.3.21, L 11 KR 298/20). Dort stellte sich ebenfalls die Frage, was unter dem Begriff des „medizinischen Standards einer Leistung“ i. S. d. § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 SGB V zu verstehen ist.

 

Das LSG Stuttgart hat für den Begriff der schwerwiegenden Krankheit in den beiden Entscheidungen vom 30.3.21 die Definiton aus § 35c Abs. 2 S. 1 SGB V zugrunde gelegt. Doch ob das Kriterium der Seltenheit einer Krankheit im Zusammenhang mit § 31 Abs. 6 SGB V wirklich eine Rolle spielen sollte, ist diskutabel. Denn durch diese Auslegung wird der Zugang zu einer Cannabismedikation weiter eingeschränkt ‒ unter Umständen weiter, als vom Gesetzgeber beabsichtigt.

 

PRAXISTIPP | Der Gemeinsame Bundesausschuss definiert in § 33 seiner Arzneimittelrichtlinie den Begriff „schwerwiegende Erkrankung“ wie folgt: „Eine Krankheit ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt.“ Es kommt hiernach also nicht darauf an, ob eine Krankheit selten ist oder nicht.

 

Verordnung durch Arzt erforderlich?

Da schon die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 SGB V nicht erfüllt sind, bleibt vom LSG ungeklärt, ob für eine Cannabismedikation eine ärztliche Verordnung erforderlich ist.

 

Beachten Sie | Dies ist insofern eine praxisrelevante Frage, weil es hierzu durchaus unterschiedliche Ansichten in der Rechtsprechung gibt. Ein Überblick findet sich bei Bischofs in BeckOK Sozialrecht, § 31 Rn. 96a.

Quelle: Ausgabe 10 / 2021 | Seite 173 | ID 47638328