· Fachbeitrag · Arbeitszeit
Wer muss was bei Überstunden beweisen?
| Die Entscheidung des EuGH vom 14.5.19 (C 55/18) modifiziert nicht die vom BAG aufgestellten Regeln zur Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess. Dem EuGH fehlt auch insoweit die Kompetenz, die nationale Rechtsordnung zu ändern. |
Sachverhalt
Der ArbN war als Auslieferungsfahrer für 14,89 EUR pro Stunde bei einer monatlichen Sollarbeitszeit von 173,20 Stunden beschäftigt. Der schriftliche Arbeitsvertrag nimmt keine Tarifverträge in Bezug. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete durch eine Eigenkündigung des ArbN. Der ArbG erfasste die Arbeitszeiten mittels einer technischen Aufzeichnung. Die ArbN erfassten Beginn und Ende ihrer Arbeitszeit, wobei die vor Ort tätigen Mitarbeiter auch ihre Pausen mittels der Zeiterfassung registriert haben. Der ArbN und andere Fahrer hatten keine Möglichkeit, eventuell geleistete Pausen zu erfassen.
Im Zeitraum vom 4.1. bis 12.10.16 fuhr der ArbN zunächst zum M. S. und holte dort das von ihm geführte Fahrzeug ab. Mit diesem Fahrzeug begab er sich zum M. N., betätigte die Zeiterfassung und startete seine Touren. Die Auswertung der technischen Aufzeichnung des ArbN wies für diesen Zeitraum bezogen auf eine wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden einen positiven Saldo von weiteren 348 Stunden zugunsten des ArbN aus. Mit der Gehaltsabrechnung für Juni 2019 rechnete der ArbG zugunsten des ArbN einen Gesamtbruttobetrag in Höhe von 4.041,65 EUR ab. Dieser enthielt unter anderem einen Teilbetrag in Höhe von 1.165,14 EUR brutto für 78,25 Überstunden zu je 14,89 EUR brutto. Der ArbG zahlte den Gesamtbruttobetrag in Höhe von 4.041,65 EUR als Nettobetrag vollständig an den ArbN aus.
Mit seiner Klage machte der ArbN geltend, er habe insgesamt 429 Überstunden geleistet: 348 Überstunden, die sich aus dem positiven Saldo laut Arbeitszeitaufzeichnung ergäben und weitere 81 Stunden für die Abholung des Fahrzeugs von einem Ort zum anderen (162 Arbeitstage zu je 30 Minuten pro Arbeitstag). Er habe die gesamte Zeit gearbeitet und keine Pausen gemacht. Eine Anweisung, Pausen zu nehmen, sei ihm nicht erteilt worden. Zusätzliche Raucherpausen habe er auch nicht gemacht. Er habe vielmehr nebenbei geraucht und nebenbei gegessen. Die Arbeit sei so beschaffen gewesen, dass eine Pausennahme nicht möglich gewesen sei.
Mit Teilurteil entsprach das Arbeitsgericht Emden (9.11.20, 2 Ca 399/18) der Überstundenklage des ArbN von 6.387,81 EUR brutto nebst geltend gemachter Zinsen abzüglich erhaltener Nettozahlungen. Der ArbG sei zur Erfassung der Arbeitszeit gemäß § 618 BGB in europarechtskonformer Auslegung dieser Vorschrift unter Berücksichtigung der Vorgaben des EUGH verpflichtet gewesen. Solle man der Auffassung sein, die Erfassung der Ankunfts- und Verlassenszeit im M. N. sei keine Arbeitszeiterfassung, dann stelle die Nichterfassung der Arbeitszeiten des ArbN eine Beweisvereitelung durch den ArbG dar. Diese Beweisvereitelung müsse zur Beweislastumkehr führen. Der ArbG habe den Indiz-Wert der Erfassungsbögen mit einem Saldo von 348 Stunden nicht entkräftet. Sein Vorbringen zu den Pausenzeiten und den Raucherpausen sei unsubstanziiert. Zusätzlich seien auch noch die vom ArbN geltend gemachten 81 Mehrarbeitsstunden zu berücksichtigen. Dabei müsse sich jener die auf die Überstunden entfallenden Nettozahlungen anrechnen lassen.
Entscheidungsgründe
Das LAG Niedersachsen (6.5.21, 5 Sa 1292/20, Abruf-Nr. 222315) sah das anders. Soweit der ArbG zugunsten des ArbN 78,25 Überstunden abgerechnet habe, müsse seine Berufung erfolglos bleiben. Insoweit treffe den ArbG eindeutig die Darlegungs- und Beweislast, dass dieser Abrechnungsbetrag zu Unrecht ausgewiesen und die hieraus resultierende Zahlung zu Unrecht erfolgt sei. Dieser sei der ArbG nicht ausreichend nachgekommen. Es sei fehlerhaft, die auf die abgerechneten Überstunden geleisteten 1.165,14 EUR brutto auf andere Vergütungsbestandteile, die rechtskräftig in dem angefochtenen Teil-Urteil zugunsten des ArbN festgestellt worden seien, anzurechnen. Dem ArbN ständen für 78,25 Überstunden 1.165,14 EUR brutto nebst geltend gemachter Zinsen abzüglich der hierauf geleisteten Nettozahlungen zu.
Einen weitergehenden Anspruch auf Mehrarbeits- bzw. Überstundenvergütung habe der ArbN nicht. Das LAG teile nicht den Ausgangspunkt der angefochtenen Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden. Die vom Arbeitsgericht Emden zitierte EuGH-Entscheidung (14.5.19, C 55/18) vermöge die traditionellen Regeln für die Darlegungs- und Beweislast in einem Überstundenprozess nicht zu modifizieren. Es fehle dem EuGH die Kompetenz, die nationale Rechtsordnung zu ändern. Es würden weiterhin die bekannten und tradierten Grundsätze des BAG gelten.
Für eine erfolgreiche Überstundenklage werde nicht nur vorausgesetzt, dass der ArbN Mehrarbeit leiste, die über seine vertraglich vorgesehene Arbeitszeit hinausgehe. Vielmehr müsse diese Mehrarbeit auch in irgendeiner Weise dem ArbG zugerechnet werden können. Überstunden müssten vom ArbG angeordnet, gebilligt, geduldet oder jedenfalls zur Erledigung der geschuldeten Arbeit notwendig sein. Den ArbN treffe die Beweislast. Soweit es um die Anordnung gehe, habe er vorzutragen, wer wann und auf welche Weise Überstunden angeordnet habe. Allein die Anwesenheit des ArbN am Arbeitsort begründe nicht die Vermutung, die Überstunden seien notwendig gewesen. Die Billigung beinhalte die Anerkennung vorher geleisteter Überstunden, der ArbG müsse zu erkennen geben, er sei mit diesen Überstunden einverstanden gewesen. Unter Duldung sei zu verstehen, dass der ArbG von den Überstunden wüsste und keine Vorkehrungen treffe, sie zu unterbinden. Die betriebliche Notwendigkeit setze voraus, dass die Arbeit nur unter Ableistung der Überstunden zu bewältigen sei (BAG 10.4.13, 5 AZR 122/12).
Die Rechtsprechung des BAG sei in späteren Entscheidungen trotz der Entscheidung des EuGH vom 14.5.19 erkennbar nicht aufgegeben worden. Lediglich wenn der ArbG Zeiterfassungsbögen abzeichne, stelle er Überstunden streitlos, unabhängig davon, welchem Zweck diese Zeiterfassungsbögen dienen würden. Schließlich habe sich auch das BAG (18.3.20, 5 AZR 36/19) mit der Problematik auseinandergesetzt, ob und inwieweit die Richtlinie 2003/88/EG zu Fragen des Arbeitsentgelts Stellung nehme. Dies habe das BAG verneint. Die Richtlinie 2003/88/EG regele mit Ausnahme des bezahlten Jahresurlaubs keine Fragen des Arbeitsentgelts. Die Mitgliedsstaaten seien nicht verpflichtet, Entgeltansprüche entsprechend der Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ in Art. 2 der Richtlinie festzulegen (EuGH 21.2.18, C‒518/15).
Die vom Arbeitsgericht zitierte EuGH-Entscheidung befasse sich allein mit Fragen des Arbeitsschutzes und der effektiven Begrenzung der Höchstarbeitszeit im Sinne eines Gesundheitsschutzes. Jedenfalls folge die fehlende Kompetenz des EuGH zu Fragen der Arbeitsvergütung unmittelbar aus Art. 153 Abs. 5 AEUV, der wörtlich lautet: „Dieser Artikel gilt nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht.“ Aus dem bereits zitierten Urteil des EuGH lasse sich nichts für die Darlegungs- und Beweislast in einen Überstundenprozess ableiten.
Daher sei Folgendes festzustellen:
- Eine Abzeichnung eines Zeiterfassungsbogens im Sinne der BAG-Rechtsprechung vom 26.6.19 lasse sich vorliegend nicht feststellen, mit Ausnahme der bereits abgehandelten 78,25 Überstunden.
- Selbst wenn man zugunsten des ArbN unterstelle, er habe die von ihm behauptete Arbeitszeit tatsächlich geleistet, fehle es an einer Anordnung, betrieblicher Notwendigkeit, Billigung oder Duldung. Einen substanziierten Vortrag zur Anordnung habe der ArbN nicht geleistet. Es sei nicht erkennbar, dass seine Arbeit nur unter Ableistung von Überstunden zu bewältigen gewesen wäre. Hierzu fehle die Beschreibung der Arbeit im Detail. Es sei auch nicht ersichtlich, welche Tätigkeit der ArbN an jedem einzelnen Arbeitstag zu verrichten gehabt habe und aus welchen Gründen diese nur unter Ableistung von Überstunden hätte erfolgen können.
- Es sei lebensfremd zu glauben, der ArbN habe keine Pausen gemacht.
Relevanz für die Praxis
Das LAG Niedersachsen hat die Revision zum BAG zugelassen.
Hinsichtlich des Arbeitsgerichts Emden (20.2.20, 2 Ca 94/19) fällt auf, dass bereits im Februar 2020 die gleiche Kammer rechtskräftig entschied, dass ArbG dazu verpflichtet sind, ein System zur Erfassung von Arbeitsstunden einzuführen. Arbeitszeit und insbesondere Vertrauensarbeitszeit werden auch zukünftig ein heißes Thema bleiben, denn die Bundesregierung äußerte sich bisher nicht zu der Frage der Umsetzung des EuGH-Urteils vom 14.5.19. Damit bleiben wichtige Fragen offen, die die nächste gestellte Bundesregierung dringend angehen sollte.
Weiterführende Hinweise
- Verschieden hohe Zuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit: BAG in AA 21, 100
- 15 Überstunden sind mit drin = eine solche Klausel im Arbeitsvertrag ist wirksam: LAG Hamm in AA 20,63
- Freizeitausgleich zum Abbau des Arbeitszeitkontos: BAG in AA 20, 1