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· Fachbeitrag · Sozialversicherung

Unfallversicherungsträger muss Arbeitsunfall aufklären und mit seinen Folgen benennen

| Der Unfallversicherungsträger muss Art und Folgen eines Arbeitsunfalls ausreichend aufklären. Lehnt er ab, eine Bewegungseinschränkung als Unfallfolge anzuerkennen, muss er zwingend ermitteln, dass diese Einschränkung nicht mit Wahrscheinlichkeit Unfallfolge ist. Muss das Gericht diese Frage nachträglich durch ein Gutachten aufklären, kann es dem Versicherungsträger die Gerichtskosten auferlegen, so das LSG Niedersachsen-Bremen. |

 

Sachverhalt

Die Klägerin war Kommissioniererin. Sie erlitt im November 2014 einen Arbeitsunfall. Dabei schlug sie mit dem rechten Arm auf einen Betonfußboden auf. Es wurde eine Radiusköpfchenfraktur rechts und eine Fraktur an der Ellenseite der körperfernen Gelenkfläche des Vieleckbeins rechts diagnostiziert. Die Klägerin wies erfolglos auf Schmerzen im Bereich des Ellenbogens und des Handgelenks rechts hin. Der Durchgangsarzt beendete die Behandlung am 30.4.15 („folgenlos ausgeheilt“), die noch bestehenden Beschwerden seien auf eine Tendovaginitis zurückzuführen. Die Klägerin widersprach dieser Einschätzung mit Schreiben vom 6.5.15. Weitere gutachterliche Untersuchungen erfolgten nicht. Auf die anschließende Klage der Klägerin holte das SG Hildesheim ein orthopädisches Gutachten ein. Darin wurden die Einschränkungen im Bereich des rechten Schultergelenks bzw. der Daumenstrecksehne rechts auf unfallunabhängige Gesundheitsstörungen (Impingementsyndrom bzw. Tendovaginitis) zurückgeführt. Das SG verurteilte den Unfallversicherungsträger, die Kosten für das eingeholte Gutachten sowie die Entschädigung der Klägerin im Zusammenhang mit der Begutachtung zu tragen (10.9.19, S 21 U 135/15).

 

Entscheidungsgründe

Das LSG Niedersachsen-Bremen bestätigte die Entscheidung (13.3.20, L 3 U 142/19 B, Abruf-Nr. 215756). Nach der BSG-Rechtsprechung hat jeder Versicherte einen Anspruch darauf, dass festgestellt wird, ob ein Versicherungsfall (hier: Arbeitsunfall gem. § 8 SGB VII) vorliegt und welche unmittelbaren oder mittelbaren Folgen dieser hinterlassen hat.

 

Dies gilt erst recht, wenn es schon im Verwaltungsverfahren Anzeichen dafür gibt, dass die Umstände genauer aufzuklären sind. Ob die hier strittige Bewegungseinschränkung eine Unfallfolge ist oder nicht, konnte nur durch ein Gutachten aufgeklärt werden. Die Durchgangsärzte hatten hierzu keine fundierten Untersuchungen durchgeführt. Vor allem wurde nicht geklärt, ob eine unfallunabhängig bestehende Tendovaginitis im rechten Unterarm auch für die Beweglichkeit des rechten Ellenbogengelenks von Bedeutung gewesen ist. Die Voraussetzungen, dass nachzuholende Ermittlungen „unverzichtbar“ bzw. „sich aufgedrängt“ haben, waren erfüllt (§§ 20, 21 SGB X).

 

 

Auch wenn das SG der Beschwerdeführerin (Beklagten) entgegen § 62 SGG kein rechtliches Gehör gewährt hat, bevor es ihr die Kosten des Gerichtsverfahrens auferlegte, führt dies nicht dazu, dass der Beschluss vom 10.9.19 (Teil des Urteils) aufzuheben ist. Einwände können noch vorgebracht werden, da die Beschwerde gem. § 202 S. 1 SGG i. V. m. § 571 Abs. 2 S. 1 ZPO mit neuen Angriffs- und Verteidigungsmitteln geführt bzw. gestützt werden kann.

 

Relevanz für die Praxis

Hat Ihr Mandant einen Arbeitsunfall erlitten, muss der Bescheid auch aussagekräftig hierzu ausführen (vgl. Grafik). Die Umstände müssen im Bescheid deshalb zwingend festgestellt werden, weil sie Gegenstand einer Feststellungsklage sein könnten (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 SGG).

 

Dieser Anspruch wird noch einmal besonders verstärkt, wenn Ihr Mandant (wie hier) bereits im Verwaltungsverfahren gegenüber dem Unfallversicherungsträger auf Klärungsbedarf hingewiesen hat, z. B. hinsichtlich

  • fehlender oder genauer Untersuchungen zu einer bestimmten körperlichen Einschränkung,
  • unberücksichtigt gebliebener, fortdauernder Erkrankungen,
  • ärztlichen Befundberichten, die im weiteren Verlauf eine erneute Untersuchung notwendig gemacht hätten und wo dies in den Akten dokumentiert ist.

 

PRAXISTIPP | Weisen Sie das Gericht auch besonders darauf hin, dass Ihr Mandant seinerzeit bereits Klärungsbedarf signalisiert hatte.

 

Weiterführende Hinweise

  • Gesetzliche Unfallversicherung gilt auch im Home-Office, Abruf-Nr. 46418480
  • Hält sich der Gutachter an seinen Auftrag, ist er nicht befangen, SR 20, 21
  • Begutachtung: Wenn der Psychologe allein nicht genügt, SR 18, 79
Quelle: Ausgabe 06 / 2020 | Seite 94 | ID 46485044