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  • 17.04.2013 · IWW-Abrufnummer 131336

    Finanzgericht Köln: Urteil vom 30.01.2013 – 15 K 2058/09

    Werden im Ausland Leistungen gewährt, die dem Kindergeld vergleichbar sind, ist der Kindergeldanspruch gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht vollumfänglich ausgeschlossen, sondern in Anwendung der EuGH-Urteile v. 12.6.2012 - C-611/10 und 612/10 (Abl. EU 2012, Nr. C 227, 4) um den im anderen Staat gezahlten Betrag zu kürzen.


    Im Namen des Volkes
    URTEIL
    In dem Rechtsstreit
    hat der 15. Senat in der Besetzung: Vorsitzender Richter am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht … Richterin am Finanzgericht … ehrenamtliche Richterin … ehrenamtlicher Richter … auf Grund mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 30.01.2013 für Recht erkannt:
    Tatbestand
    Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger für die Kinder A, B, C und D berechtigt ist, Kindergeld zu beziehen.
    Der Kläger ist niederländischer Staatsangehöriger. Er ist der leibliche Vater von A, geboren am 14.11.1987, und B, geboren am 21.09.1992, die bei der Mutter, der geschiedenen Ehefrau des Klägers, in den Niederlanden leben. A hat im November 2005 das 18. Lebensjahr vollendet und befand sich bis Juni 2007 weiterhin in der Schulausbildung (s. Schulbescheinigung vom 31.03.2006, Bl. 11 und Bescheinigung der Sociale Verzekeringsbank – SVB – vom 04.12.2006, Bl. 24 jeweils d. KG-Akte). Die geschiedene Ehefrau des Klägers ist in den Niederlanden nicht beschäftigt und bezieht dort eine Sozialhilfeleistung von der Gemeinde E (s. Bl. 24 d. KG-Akte).
    Im August 2003 heiratete der Kläger Frau F, die die leibliche Mutter der beiden Kinder C, geboren am 02.10.1994, und D, geboren am 14.04.1998, ist. Die in den Niederlanden nichtselbständig beschäftigte und dort sozialversicherungspflichtige Ehefrau des Klägers (s. Kindergeldantrag, Bl. 3 der Kindergeldakte der Beklagten) lebt mit den beiden Kindern in der gemeinsamen Wohnung in E / Niederlande.
    Der Kläger ist von Beruf Musiker. Er ist sowohl nichtselbständig und sozialversicherungspflichtig beim „Musiekcentrum G” in den Niederlanden beschäftigt als auch beim H in M. In M verfügt er über einen zweiten Wohnsitz in der J-Straße …, was zwischen den Beteiligten inzwischen unstreitig ist (s. Bl. 87 d. FG-Akte), und wird steuerlich beim Finanzamt M geführt (a).
    Mit Bescheid vom 29.01.2007 setzte die Beklagte auf Antrag des Klägers vom 12.05.2006 rückwirkend ab Januar 2002 Kindergeld in Höhe der Differenz zwischen deutschem und niederländischem Kindergeld fest (Bl. 26 ff. d. KG-Akte). Ab Januar 2007 wurde das Kindergeld für A und B in einem weiteren Festsetzungsbescheid in voller Höhe ausgezahlt und für C und D in Höhe der Differenz zwischen den niederländischen Leistungen und dem deutschen Kindergeldanspruch. Diese Festsetzung erfolgte zunächst vorläufig gemäß § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung – AO – (s. Bl. 34 ff. d. Kindergeldakte der Beklagten).
    Mit Ablauf des August 2007 stellte die Beklagte die Kindergeldzahlungen ein. Für das Kind A hatte sie bereits mit Ablauf des Juli 2007 wegen der Beendigung der Schulausbildung die Kindergeldzahlung eingestellt. Auf Nachfrage der SVB vom 08.03.2007 teilte der Kläger der Beklagten am 22.10.2007 erstmals mit, dass er auch in den Niederlanden im Muziekcentrum G tätig sei (Bl. 45 d. Kindergeldakte der Beklagten). Nach dem die SVB daraufhin die Ansicht vertrat, dass der Kläger wegen seiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland vorrangig ausschließlich Anspruch auf niederländisches Kindergeld habe, hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 28.02.2008 gemäß § 70 Abs. 2 EStG auf und forderte das Kindergeld für die Monate April 2002 bis August 2007 in Höhe von 28.750,33 EUR zurück. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass der Kindergeldanspruch des Klägers in den Niederlanden wegen seiner Beschäftigung und Sozialversicherung in den Niederlanden vorrangig gemäß Art. 13 der EG-Verordnung über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige – VO 1408/71 – sei.
    Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein und wies die Beklagte darauf hin, dass er auch in Deutschland als Angestellter des H der Sozialversicherungspflicht unterliege. Die Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 03.06.2009 als unbegründet zurück. Auf der Grundlage der Vorschriften des Art. 13 Abs. 2 Buchst. a VO 1408/71 seien alleine die Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates anwendbar, da der Kläger in den Niederlanden gewohnt und dort beschäftigt gewesen sei. Dies habe zur Folge, dass insgesamt auf die Vorschriften dieses Mitgliedstaates verwiesen werde, unabhängig davon, ob dort niedrigere Beträge gezahlt werden würden. Dies habe der Europäische Gerichtshof – EuGH – im Urteil RS van Ljuten gegen Rad van Arbeit am 10.07.1986 (60/85) entschieden, ebenso der Bundesfinanzhof – BFH – in seinem Urteil vom 13.08.2002 (VIII R 61/00).
    Mit der gegen die Einspruchsentscheidung am 24.06.2009 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren auf Zahlung des Differenzkindergeldes weiter. Zur Begründung trägt der Kläger vor, dass bereits die Voraussetzungen des § 70 Abs. 2 EStG nicht gegeben seien. Eine Änderung der persönlichen Verhältnisse sei nicht eingetreten. Zudem sei für die Jahre 2002 und 2003 bereits Festsetzungsverjährung eingetreten, so dass die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung bereits aus diesem Grunde rechtswidrig sei. Sollte es – entgegen der Auffassung des Klägers – auf Art. 13 Abs. 2 Buchst. a VO 1408/71 ankommen, lägen die Voraussetzungen nicht vor, da der Kläger auch in Deutschland eine nichtselbständige Beschäftigung ausgeübt habe. Die Sondervorschrift des Art. 14 Ziffer 2 Buchst. b VO 1408/71 greife ebenfalls nicht ein, die Norm lediglich von einem Wohnsitz ausgehe. Da die VO 1408/71 im Streitfall keine Anwendung finde, müsse auf Art. 10 Abs. 3 VO 574/72 zurückgegriffen werden. Danach sei immer der Staat mit der jeweils höheren Leistung zuständig, wenn gegenüber zwei Mitgliedstaaten Ansprüche auf Familienleistungen bestünden. Nach dem Rundschreiben 14/2007 vom 13.03.2007 der DVKA sei der Kläger als eine dem Beamten gleichgestellte Person anzusehen, so dass Art. 14f der VO 1408/71 anzuwenden wäre. Eine vom Beklagten angeregte Entscheidung des GKV-Spitzenverbandes sei daher hinfällig.
    Der Kläger beantragt,
    den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 28.02.2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 03.06.2009 aufzuheben, hilfsweise die Revision zuzulassen.
    Die Beklagte beantragt,
    die Klage abzuweisen,
    hilfsweise die Revision zuzulassen.
    Nachdem die Beklagte im Laufe des Klageverfahrens anerkannt hat, dass der Kläger einen zweiten Wohnsitz in Deutschland hat, wendet sie sich gegen die Anwendung des Art. 10 Abs. 3 VO 574/72 mit dem Argument, dass dieser nur dann Anwendung finde, wenn mehrere Personen in mehreren EU- bzw. EWR-Staaten für denselben Zeitraum jeweils Anspruch auf Familienleistungen hätten. Im Streitfall habe jedoch nur eine Person – der Kläger – in mehreren Mitgliedstaaten jeweils Anspruch auf Familienleistungen.
    Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, die beigezogenen Akten der Beklagten und das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
    Entscheidungsgründe
    Die Klage ist begründet.
    Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 28.02.2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 03.06.2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO. Die Beklagte ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger allein bzw. vorrangig Anspruch auf niederländisches Kindergeld hat.
    I. Dem Kläger steht nach deutschem Recht ein Anspruch auf Kindergeld für die vier Kinder zu.
    1. Er ist gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG anspruchsberechtigt, da er als freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern – FreizügG/EU –) seinen Wohnsitz im Inland hat. Dass der Kläger auch in M einen zweiten Wohnsitz hat, ist zwischen den Beteiligten inzwischen unstreitig. Damit ist der Kläger in Deutschland auch unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG.
    2. Die Kinder A, geboren am 14.11.1987, und B, geboren am 21.09.1992, sind als leibliche Kinder des Kläger gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu berücksichtigen und die Kinder C, geboren am 02.10.1994, und D, geboren am 14.04.1998, sind als Kinder seiner Ehefrau, die der Kläger in seinen Haushalt in den Niederlanden aufgenommen hat, gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 2 EStG zu berücksichtigen. Da sich A bis zur Einstellung der Kindergeldzahlung im Juli 2007 in der Schulausbildung befunden hat, was zwischen den Beteiligten unstreitig ist, erfüllt sie die Voraussetzungen des § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Nr. 2a EStG.
    II. Der Anspruch des Klägers auf deutsches Kindergeld wird nicht durch unionsrechtliche Regelungen ausgeschlossen.
    1. Da der Kläger sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland sozialversicherungspflichtig ist, ist der persönliche Anwendungsbereich der VO 1408/71 nach Art. 2 Abs. 1 VO 1408/71 eröffnet (vgl. BFH-Urteil vom 05.07.2012 III R 76/10, BFHE 238, 87, BFH/NV 2012, 1710 unter II.2.).
    Gemäß Art. 13 Abs. 1 VO 1408/71 unterliegen die Betroffenen grundsätzlich dem System der sozialen Sicherheit nur eines einzigen Mitgliedstaates, um die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten zu vermeiden. Der EuGH hat jüngst in seinem Urteil vom 12. Juni 2012 (C-611/10 u.a., – Hudzinski – ABl EU 2012, Nr. C 227, 4) zu sog. Wanderarbeitnehmern entschieden, dass dies im Ergebnis auch die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates sein können, die weniger günstige Leistungen gewähren, als die des anderen Mitgliedstaates (Nr. 41 bis 44 der Gründe). Welche Rechtsvorschriften anwendbar sind, bestimmt sich nach Art. 13 Abs. 2 ff. VO 1408/71. Der Senat kann im Ergebnis offen lassen, ob die Niederlande oder Deutschland nach diesen Vorschriften der für die Gewährung von Familienleistungen zuständige Mitgliedstaat ist.
    Denn nach dem o.g. Urteil des EuGH vom 12. Juni 2012 ist es dem anderen (nicht zuständigen) Mitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften durch die Regelungen der Verordnung Nr. 1408/71 nicht verboten, freiwillig einen weiter gehenden sozialen Schutz zu gewährleisten. Eine andere Auslegung der VO Nr. 1408/71 widerspräche der Grundfreiheit des Art. 45 AEUV, dem Recht auf Freizügigkeit für Arbeitnehmer. Denn weitergehende Leistungen dienen der Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen der freizügigkeitsberechtigten Arbeitnehmer und erleichtern damit die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Nr. 55 bis 57 der Gründe). Zwar hat der EuGH diese Grundsätze lediglich im Falle eines Wanderarbeiters ausgesprochen, der Senat ist jedoch der Ansicht, dass die allgemeinen Grundsätze des EuGH erst Recht auf Arbeitnehmer übertragbar sind, die einer dauerhaften Beschäftigung als Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat nachgehen. Denn diese fallen ebenso unter den Schutzbereich des Primärrechts der Art. 45 und 48 AEUV wie saisonal eingesetzte Wanderarbeitnehmer.
    2. Diese Grundsätze des EuGH bedeuten für den Streitfall, dass der Kläger Anspruch auf deutsches Kindergeld hat, welches der Differenz zwischen den niederländischen Ansprüchen und den deutschen Ansprüchen entspricht.
    a. Unterstellt, Deutschland wäre der für die Zahlung von Familienleistungen der zuständige Mitgliedstaat, würden die Leistungen nach deutschem Recht insoweit ruhen, als auch Familienleistungen im Wohnsitzstaat der Kinder geschuldet worden sind. Dies folgt aus Art. 73 Abs. 1 VO 1408/71 i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) i) DVO Nr. 574/72 in der durch die VO Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, diese wiederum geändert durch die VO Nr. 647/2005. Insoweit würde der nationale Ausschlusstatbestand des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG europarechtskonform anzuwenden sein (vgl. BFH-Urteile vom 05.07.2012 III R 76/10, BFHE 238, 87, BFH/NV 2012, 1710 unter II.4. und vom 26.07.2012 III R 97/08, BFHE 238, 120, BStBl II 2013, 24 unter II.2.). Dass Familienleistungen auch nach niederländischem Recht für die in den Niederlanden wohnenden Kinder geschuldet werden, ist unstreitig, so dass in Höhe dieser Leistungen der Anspruch auf deutsches Kindergeld ruhen würde.
    b. Wären hingegen nach den Art. 13 ff. VO 1408/71 die Niederlande der zuständige Mitgliedstaat, wäre Deutschland nach den zuvor dargestellten Ausführungen des EuGH weiterhin berechtigt, dem Kläger nach nationalen Regelungen weitergehende Familienleistungen zu gewähren. Dies bedeutet, dass sich der Anspruch des Klägers auf Kindergeld nach den nationalen Regelungen der §§ 62ff. EStG lediglich auf den überschießenden Betrag zwischen niederländischem und deutschem Kindergeld richten könnte.
    Der Anspruch des Klägers auf deutsches (weitergehendes) Kindergeld wäre auch nicht gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG insgesamt ausgeschlossen. Zwar hat der Kläger für die Kinder B, C und D während des gesamten Streitzeitraums und für das Kind B bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs, bis Ende 2005, auch in den Niederlanden einen Anspruch auf Leistungen, die mit dem Kindergeld vergleichbar sind (s. Bescheinigung der SVB vom 31.10.2007, Bl. 46 d. KG-Akte), so dass der Anspruch des Klägers auf Zahlung von deutschem Kindergeld gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG grundsätzlich vollumfänglich ausgeschlossen wäre. Allerdings ist § 65 EStG dann nicht anwendbar und muss geltungserhaltend reduziert werden, wenn festgestellt wird, dass die Anwendung der Norm gegen Unionsrecht verstößt. Der EuGH hat in seinem o.g. Urteil vom 12. Juni 2012 unter Nr. 69 ff. der Gründe dazu ausgeführt, dass der Zweck der Art. 45 und 48 AEUV verfehlt werden würde, wenn die Wanderarbeiter, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, die Vergünstigung der sozialen Sicherheit verlieren würden, die ihnen allein die Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats sichern. Die Art. 45 bis 45 AEUV und die zu ihrer Durchführung erlassene Verordnung Nr. 1408/71 sollen insbesondere verhindern, dass ein Arbeitnehmer, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, ohne objektiven Grund schlechter gestellt wird, als ein Arbeitnehmer, der seine gesamte berufliche Laufbahn in einem einzigen Mitgliedstaat zurückgelegt hat. Besonders zu berücksichtigen ist, dass der Nachteil umso weniger gerechtfertigt erscheint, als die zu gewährenden Leistungen aus Steuereinnahmen finanziert werden und der Kläger nach den nationalen Vorschriften in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist (unter Nr. 78 der Gründe).
    So verhält es sich im Streitfall. Der Kläger ist in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig und trägt auf diese Weise zur Finanzierung der deutschen Familienleistungen bei. Allein die Tatsache, dass er von den Niederlanden nach Deutschland zugezogen ist und in Deutschland lediglich einen zweiten Wohnsitz unterhält, rechtfertigt es nicht, ihn von den deutschen Familienleistungen gänzlich auszuschließen. Dies würde ihn erheblich gegenüber solchen Unionsbürgern benachteiligen, die dauerhaft mit ihrer gesamten Familie nach Deutschland verzogen sind (vgl. aber FG Rheinland-Pfalz vom 09.08.2012 6 K 1462/11, EFG 2012, 2128 unter 4., Rev. III R 44/12). Hierdurch würde das Recht auf Freizügigkeit ohne sachlichen Grund beeinträchtigt werden.
    Die nach dem Urteil des EuGH vom 12. Juni 2012 ausgesprochene Berechtigung des nicht zuständigen Mitgliedstaates zur freiwilligen Gewährung von Familienleistungen legt der Senat im Lichte des Unionsrechts dahingehend aus, dass die zuständigen Verwaltungsbehörden nach ihren eigenen nationalen Regelungen der §§ 62 ff. EStG verpflichtet sind, Kindergeld für die Monate auszuzahlen, in denen die Voraussetzungen der §§ 62 ff. EStG erfüllt sind. Hierbei sind die im europäischen Ausland gewährten Familienleistungen anzurechnen, da lediglich der gänzliche Ausschluss des deutschen Kindergeldes nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG einen Verstoß gegen die Grundfreiheiten darstellt (vgl. unter Nr. 76 der Gründe). Diese geltungserhaltende Reduktion der nationalen Regelung des § 65 EStG entspricht dem Leitgedanken der Europäischen Union, den Unionsbürgern eine größtmögliche Freiheit bei der Wahl ihres Arbeits- bzw. Tätigkeits- und Wohnortes zu gewährleisten (vgl. auch Selder, jurisPR-SteuerR 41/2012 Anm. 5 unter D).
    Somit wäre Deutschland verpflichtet, dem Kläger das höhere Differenz-Kindergeld auszuzahlen, selbst wenn die Niederlande der nach den Art. 13 ff. VO Nr. 1408/71 zuständige Mitgliedstaat wären.
    III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
    IV. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, da die Auswirkungen der Rechtsprechung des EuGH vom 12. Juni 2012 (C-611/10 u.a., – Hudzinski – ABl EU 2012, Nr. C 227, 4) auf die Gewährung von Kindergeld höchstrichterlich noch nicht geklärt sind (siehe dazu nur das weitere Revisionsverfahren III R 44/12).
    V. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

    VorschriftenEStG § 63, EStG § 65 Abs 1 Satz 1 Nr 2, AEUV Art 45, AEUV Art 48, EStG § 62 Abs 1

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