08.01.2010
Finanzgericht Düsseldorf: Urteil vom 20.02.2002 – 16 K 5432/99 E
Die Freibetragsregelung bei Gewinnen aus Betriebsveräußerung hängt auch nach der durch das JStG 1996 eingeführten Bezugnahme auf den sozialversicherungsrechtlichen Begriff der Berufsunfähigkeit nicht davon ab, ob der Steuerpflichtige auf andere zumutbare Tätigkeiten verwiesen werden kann, wenn diese in dem bisherigen Betrieb nicht ohne größere Schwierigkeiten ausgeübt werden können.
Unter Abänderung des Einkommensteuerbescheids 1997 vom 19.10.1998 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 29.7.1999 wird die  Einkommensteuer 1997 auf 2.545,21 ( (umgerechnet 4.978 DM) herabgesetzt.  
 Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.  
 Die Revision wird zugelassen.  
Tatbestand
Die Kläger sind Eheleute, die für das Streitjahr 1997 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Die 1951 geborene Klägerin  erzielte im Streitjahr einen Gewinn aus der Veräußerung ihres Gewerbebetriebs (Gaststätte) i.H. von 117.087 DM. Sie begann  zum 1.4.1998 einen neuen Gewerbebetrieb (selbständige Handelsvertreterin im Getränkevertrieb).  
Streitig ist, ob nach der durch das Jahressteuergesetz (JStG) 1996 eingeführten Bezugnahme auf den sozialversicherungsrechtlichen  Begriff der dauernden Berufsunfähigkeit in § 16 Abs. 4 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) der Unternehmer auf andere  zumutbare Tätigkeiten (hier: insbesondere die später ausgeübte Tätigkeit des Getränkehandels) verwiesen werden kann, wie dies  in § 43 Abs.2 Satz 2 des Sozialgesetzbuches (SGB) VI vorgesehen ist.  
Der Beklagte (das Finanzamt - FA -) ließ den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG im Einkommensteuerbescheid 1997 vom 19.10.1998  unberücksichtigt.  
Dagegen richtete sich der fristgerecht eingelegte Einspruch, mit dem die Kläger eine Bescheinigung des Amtsarztes vom 17.11.1998  vorlegten, wonach es der Klägerin aufgrund der gesundheitlichen Einschränkung nicht mehr möglich sei, selbständig einen gastronomischen  Betrieb, verbunden mit Nachtarbeit, zu führen.  
Das FA wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 29.7.1999 als unbegründet zurück. Es führte aus: 
Zur Definition der Berufsunfähigkeit verweise H 139 (14) des Einkommensteuer-Handbuchs (EStH) auf § 43 Abs. 2 SGB VI. Danach  sei derjenige berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen  von körperlich, geistig oder seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten  gesunken sei. Gemäß R 139 (14) der Einkommensteuer-Richtlinien (EStR) reiche zum Nachweis der dauernden Berufsunfähigkeit  die Vorlage eines Bescheids des Rentenversicherungsträgers aus. Im übrigen könnten auch amtsärztliche Bescheinigungen den  Nachweis erbringen.  
Die vorgelegte amtsärztliche Bescheinigung reiche aber als Nachweis einer dauernden Berufsunfähigkeit nicht aus. Die dort  geschilderte Beeinträchtigung lasse nicht den Schluss zu, dass die Erwerbsfähigkeit der Klägerin um mehr als die Hälfte krankheitsbedingt  gesunken sei. Dies wäre aber Voraussetzung für die Anerkennung einer dauernden Berufsunfähigkeit und daraus folgernd die Gewährung  eines Freibetrags nach  
§ 16 Abs. 4 EStG. 
Aus der vorgelegten Bescheinigung ergebe sich lediglich, dass die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, selbständig einen gastronomischen  Betrieb, verbunden mit Nachtarbeit zu führen. Damit sei nicht dokumentiert, dass die Erwerbsfähigkeit krankheitsbedingt um  mehr als die Hälfte gesunken sei. Gemäß § 43 Abs. 2 (Satz 2) SGB VI umfasse der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit  von Versicherten zu beurteilen sei, alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprächen und ihnen unter Berücksichtigung  der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen  Berufstätigkeit zugemutet werden könnten. Dass der Klägerin auch andere Tätigkeiten außer der Führung eines gastronomischen  Betriebes zugemutet werden könnten, habe sie selber unter Beweis gestellt, indem sie zum 1.4.1998 den neuen Gewerbebetrieb  begonnen habe.  
Die Kläger führen mit der fristgerecht erhobenen Klage u.a. aus: Die Klägerin könne ihren Beruf (Gastwirtin) nicht mehr ausüben.  „Verweisungsberufe” für Gastwirte bestünden nicht. Auch die Tatsache, dass sich die Klägerin betätige, besage nichts. Alle  nicht zumutbaren Tätigkeiten blieben außer Betracht. Das FA habe auch nicht zu belegen vermocht, dass die andere Tätigkeit  vollschichtig ausgeübt werde.  
Die Kläger haben ferner in der mündlichen Verhandlung einen Schriftsatz vom 19.2.2002 überreicht, auf den wegen der Einzelheiten  Bezug genommen wird.  
Die Kläger beantragen, 
den Einkommensteuerbescheid 1997 vom 19.10.1998 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 29.7.1999 dahin abzuändern, dass der  Freibetrag i.H. von 60.000 DM gewährt wird, hilfsweise, die Revision zuzulassen.  
Das FA hält an seiner bisher vertretenen Ansicht fest und beantragt, 
die Klage abzuweisen. 
Gründe
Die Klage ist begründet. 
1. a) Nach § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG i.d.F. des JStG 1996 wird der Veräußerungsgewinn auf Antrag zur Einkommensteuer nur herangezogen,  soweit er 60.000 Deutsche Mark übersteigt, wenn (2. Alternative) der Steuerpflichtige „im sozialversicherungsrechtlichen Sinne  dauernd berufsunfähig” ist.  
b) Maßstab für die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist die Vorschrift in § 43 Abs. 2 SGB VI.  Sie lautet:  
Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen  von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten  gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten,  die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung  sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar  ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur beruflichen Rehabilitation mit Erfolg ausgebildet  oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die  jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.  
2. Nach dem Inhalt der amtsärztlichen Bescheinigung ist - wie auch die Vertreterin des FA in der mündlichen Verhandlung eingeräumt  hat - davon auszugehen, dass die Klägerin in Bezug auf den selbständig ausgeübten Gastwirtsberuf i.S. des § 43 Abs. 2 Satz  1 SGB VI berufsunfähig ist.  
3. Das FA hat sich in Bezug auf den zum 1.4.1998 begonnenen neuen Gewerbebetrieb (selbständige Handelsvertreterin im Getränkevertrieb)  zu Unrecht auf § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI berufen.  
a) Vor der durch das JStG 1996 eingeführten Bezugnahme auf den sozialversicherungsrechtlichen Begriff der dauernden Berufsunfähigkeit  hat der Bundesfinanzhof (BFH) diesen Begriff eigenständig ausgelegt (BFH-Urteile vom 18. August 1981 VIII R 25/79, BFHE 134,  548, BStBl II 1982, 293; vom 13. März 1986 IV R 176/84, BFHE 146, 399, BStBl II 1986, 601; vom 6. September 1996 IV R 17/96,  BFH/NV 1997, 224). Danach war eine dauernde Berufsunfähigkeit vor allem bei Eintritt einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung,  also eines Invaliditätsgrundes, anzunehmen, der den Steuerpflichtigen zu einer Einstellung oder grundlegenden Umstellung seines  bisherigen Arbeitseinsatzes zwingt. Wie sich aus der Entstehungsgeschichte des § 16 Abs. 4 EStG (vgl. dazu BTDrucks VI/1901,  S.9) ergab, konnte der Unternehmer nicht auf andere zumutbare Tätigkeiten verwiesen werden, wie dies etwa in § 43 Abs. 2 SGB  VI vorgesehen ist.  
b) Daran hat sich auch nach der durch das JStG 1996 eingeführten Bezugnahme auf den sozialversicherungsrechtlichen Begriff  der dauernden Berufsunfähigkeit nichts geändert.  
Das Gericht folgt insoweit der sowohl von der Verwaltung (Verfügung der OFD Frankfurt vom 3. Dezember 1997 S 2242 A - 17 -  St II 20; Verfügung der OFD Kiel vom 5. Februar 1998 S 2242 A-St 132) als auch im Schrifttum (vgl. Schmidt/Wacker, EStG, 20.  Aufl., § 16 Rz. 579) vertretenen Ansicht.  
Maßgebend ist hierfür die Erwägung, dass § 16 Abs. 4 EStG - sowohl i.d.F. für Veranlagungszeiträume vor 1996 als auch i.d.F.  des JStG 1996 - gegenüber dem § 43 Abs. 2 SGB VI eine andere Zielsetzung hat. Durch § 16 Abs. 4 EStG soll eine durch dauernde  Berufsunfähigkeit veranlaßte Betriebsveräußerung oder -aufgabe begünstigt werden, da die aufgedeckten stillen Reserven in  aller Regel nicht nur aus dem Arbeitseinsatz des Unternehmers, sondern auch aus seinem Kapitaleinsatz herrühren. Wie auch  im Falle der alten Fassung des § 16 Abs. 4 EStG ist es nicht entscheidend, ob der Steuerpflichtige überhaupt noch in anderen,  berufsfremden Branchen tätig sein kann. Eine Verweisung auf andere Tätigkeiten ist nicht möglich. Für die Frage der Berufsunfähigkeit  ist die Möglichkeit der Ausübung eines Verweisungsberufs daher nur beachtlich, wenn der Verweisungsberuf im bisherigen Betrieb  ohne größere Schwierigkeiten ausgeübt werden kann (vgl. BFH-Urteile in BFHE 134, 548, BStBl II 1982, 293 und in BFHE 146,  399, BStBl II 1986, 601). Die Vorschrift des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist daher bei der Auslegung des Begriffs der Berufsunfähigkeit  i.S. des § 16 Abs. 4 EStG i.d.F. des JStG 1996 nicht heranzuziehen.  
4. Da im Streitfall der „Verweisungsberuf” im bisherigen Betrieb nicht ohne größere Schwierigkeiten ausgeübt werden konnte,  bleibt er für die steuerrechtliche Beurteilung der „dauernden Berufsunfähigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne” außer  Betracht. Demzufolge stellt sich auch nicht die Frage, ob die Klägerin die neue (ggf. zumutbare) Tätigkeit vollschichtig ausgeübt  hat bzw. im Zeitpunkt der Betriebsveräußerung eine solche Tätigkeit ausüben konnte.  
5. Unter Berücksichtigung des Freibetrags von 60.000 DM war die Einkommensteuer 1997 auf 2.545,21 ( (umgerechnet 4.978 DM)  herabzusetzen. Wegen der Steuerberechnung in DM wird auf die Prüfberechnung vom 18.11.1998, die das FA zum Zwecke der Aussetzung  der Vollziehung gefertigt hat, verwiesen (s. Rechtsbehelfshefter).  
6. Die Entscheidung über die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), die Kostenentscheidung  auf § 135 Abs. 1 FGO.