Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • 14.06.2013

    Finanzgericht Hamburg: Urteil vom 19.03.2013 – 1 K 121/12

    Für sein in England bei der Mutter lebendes Kind steht
    dem in Deutschland lebenden Vater Kindergeld zu.


    Tatbestand

    Streitig ist die Gewährung von Kindergeld für
    den in England lebenden Sohn des Klägers.


    Der Kläger hat in A einen Wohnsitz und geht hier einer
    Beschäftigung als Arbeitnehmer nach. Sein am ... 1996 geborener
    Sohn B lebte nach Trennung und Scheidung des Klägers von
    der Kindesmutter bei seiner Mutter. Die Kindesmutter zog zum 01.07.2011
    mit B nach England. Im Hinblick auf diesen Wegzug wurde die bisher
    ihr gegenüber erfolgte Kindergeldfestsetzung für
    B ab Juli 2011 aufgehoben. In England hatte sie in dem hier maßgeblichen
    Zeitraum Juli 2011 bis Februar 2012 keinen Anspruch auf eine dem
    Kindergeld vergleichbare Familienleistung, das „child benefit”.
    Dies ist mit dem Formular ... GB vom 19.07.2011 durch die zuständige
    Behörde im United Kingdom, das Child Benefit Office, bestätigt
    worden. Am 13.02.2012 kehrte B nach Deutschland zurück
    und lebte vorübergehend bis zum 11.04.2012 im Haushalt des Klägers.


    Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12.10.2011 den Antrag des
    Klägers auf Gewährung von Kindergeld für B ab 01.07.2011 ab
    im Hinblick auf eine vorrangige Berechtigung der Kindesmutter gemäß § 64 Abs.
    2 S. 1 Einkommensteuergesetz - EStG -. Der am 18.10.2011 eingelegte Einspruch
    wurde mit Einspruchsentscheidung vom 16.05.2012 als unbegründet zurückgewiesen.
    Die Beklagte ging in der Einspruchsentscheidung von einem vorrangigen
    Anspruch der Kindesmutter unter Heranziehung der Verordnung (EG)
    Nr. 883/2004 (Grundverordnung) und der hierzu ergangenen
    Durchführungsverordnung Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)
    aus. Für nähere Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung
    Bezug genommen.


    Der Kläger hat am 15.06.2012 Klage erhoben mit dem
    Ziel der Gewährung von Kindergeld für das Kind
    B für den Zeitraum Juli 2011 bis Februar 2012.


    Mit Bescheid vom 03.08.2012 hat die Beklagte gegenüber
    dem Kläger Kindergeld für das Kind B für
    den Zeitraum Februar bis April 2012 festgesetzt. Der Kläger
    hat im Hinblick auf diese Festsetzung die Hauptsache für
    Februar 2012 für erledigt erklärt. Die Beklagte
    hat sich hierzu nicht geäußert.


    Der Kläger ist der Auffassung, die Beklagte sei ihm
    gegenüber zur Festsetzung von Kindergeld ab Juli 2011 verpflichtet.
    Er erfülle die Voraussetzungen der §§ 62
    ff. EStG. Dagegen stehe der Kindesmutter nach der Wohnsitzverlegung
    nach England weder in Deutschland noch in England ein Anspruch auf
    Kindergeld oder vergleichbare Familienleistungen zu. In England
    setze ein Kindergeldanspruch einen ununterbrochenen Mindestaufenthalt
    des Anspruchsberechtigten von 180 Tagen voraus. Diese Voraussetzung
    sei bis zur Rückkehr des Kindes B nach Deutschland am 13.02.2012
    nicht erfüllt gewesen. Die Grundverordnung (EG) und die
    Durchführungsverordnung (EG) führten nicht dazu,
    dass dem Kläger kein Kindergeld zu gewähren sei.


    Der Kläger beantragt sinngemäß,

    den Bescheid vom 12.10.2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung
    vom 16.05.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem
    Kläger für das Kind B Kindergeld für
    den Zeitraum Juli 2011 bis Januar 2012 zu gewähren, sowie
    festzustellen, dass die Hauptsache für Februar 2012 erledigt
    ist.


    Die Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Die Beklagte ist der Auffassung, dem Kläger stehe kein
    Kindergeld für den streitigen Zeitraum für das
    Kind B zu. Es komme auch ein Anspruch auf Kindergeld in einem anderen
    Staat der Europäischen Union in Betracht, nämlich
    in Großbritannien. Nach der Grundverordnung (EG) und der
    Durchführungsverordnung (EG) werde, unabhängig
    von der Frage, ob ein Anspruch auf Familienleistungen in einem anderen
    Staat der Europäischen Union bestehe oder nicht, bei mehreren
    Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen
    Haushalt aufgenommen habe (vgl. § 64 Abs. 2 S. 1 EStG).
    Dies sei im Streitfall die Kindesmutter. Diese sei daher vorrangig
    Berechtigte.


    Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet
    und einer Entscheidung durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin
    zugestimmt.


    Dem Gericht haben die Kindergeldakten der Beklagten bezüglich
    des Klägers (KG-Nr. -1) und bezüglich der Kindesmutter
    (KG-Nr. -2) vorgelegen.


    Gründe

    Die Entscheidung ergeht mit Zustimmung der Beteiligten gemäß § 79a
    Abs. 3,4 Finanzgerichtsordnung - FGO - durch die Berichterstatterin
    als Einzelrichterin und gemäß § 90 Abs.
    2 FGO mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche
    Verhandlung.


    I.

    Die Klage ist begründet. Die Beklagte hat rechtswidrig
    den Antrag des Klägers auf Gewährung von Kindergeld
    für das Kind B ab Juli 2011 abgelehnt und den Kläger
    dadurch in seinen Rechten verletzt, § 101 S. 1 FGO. Nachdem
    die Beklagte während des Klageverfahrens Kindergeld für
    Februar 2012 festgesetzt hat, ist die Hauptsache insoweit erledigt
    und dies im Tenor festzustellen; ohne die erfolgte Kindergeldfestsetzung
    wäre die Beklagte auch für Februar 2012 zu verpflichten
    gewesen.


    1. Der Kläger hat für
    seinen Sohn B einen Anspruch auf Kindergeld gemäß §§ 62
    Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 3 i. V. m. 32 Abs. 1 EStG.


    Der Kläger hat im Inland einen Wohnsitz und gehört
    daher zum Kreis der Anspruchsberechtigten gemäß § 62
    Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zudem unterliegt er gemäß Art.
    11 Abs. 1, Abs. 3 Buchstabe a) Grundverordnung den deutschen Rechtsvorschriften,
    weil er in Deutschland eine Beschäftigung ausübt.
    Die Kindesmutter hat dagegen keinen Kindergeldanspruch gem. § 62
    Abs. 1 EStG, da sie im Streitzeitraum im Inland keinen Wohnsitz
    oder gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Auch eine Berechtigung
    nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) ist nicht ersichtlich, weil
    die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BKGG nicht vorliegen.


    Der leibliche Sohn B des Klägers lebte im Streitzeitraum
    in England und damit in einem Mitgliedstaat der Europäischen
    Union, so dass er zum Kreis der Kinder gehört, für
    die gem. § 63 Abs. 1 EStG Kindergeld zu gewähren ist.


    2. Dem Kläger ist entgegen der Auffassung
    der Beklagten nicht etwa deshalb kein Kindergeld zu zahlen, weil
    das Kindergeld nach § 64 Abs. 2 S. 1 EStG i. V. m. Art.
    67, 68 Grundverordnung und Art. 60 Abs. 1 Durchführungsverordnung
    unter Heranziehung der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache
    Slanina, C-363/08 vorrangig
    der in England lebenden Kindesmutter zustünde.


    a) Der Anwendungsbereich der Prioritätsregeln in Art.
    67, 68 Grundverordnung und Art. 60 Abs. 1 Durchführungsverordnung
    ist im Streitfall von vornherein nicht eröffnet, weil keine
    Anspruchskonkurrenz zwischen Ansprüchen auf Familienleistungen
    für das Kind B in zwei Mitgliedstaaten der Europäischen
    Union besteht. Lediglich für den Fall einer solchen Anspruchskonkurrenz
    gelten die genannten Prioritätsregeln. Dies folgt bereits
    daraus, dass gem. Abs. 35 der Erwägungen, die der Grundverordnung zu
    Grunde liegen, ungerechtfertigte Doppelleistungen für den
    Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen auf Familienleistungen
    nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats
    mit Ansprüchen auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften
    des Wohnmitgliedstaats der Familienangehörigen vermieden
    werden sollen. Dementsprechend regelt Art. 68 Grundverordnung, welche
    Ansprüche maßgeblich sind, wenn für denselben
    Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen
    Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten
    zu gewähren sind. Eine solche Situation besteht im Streitfall
    jedoch nicht, da lediglich Ansprüche des Klägers
    auf Kindergeld gem. §§ 62, 63 EStG bestehen und
    kein Anspruch der Kindesmutter auf Familienleistungen in England
    besteht.


    b) Ein Kindergeldanspruch der Kindesmutter folgt auch nicht aus
    Art. 67 Grundverordnung. Die Vorschrift besagt lediglich, dass eine
    Person auch für Familienangehörige, die in einem
    anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach
    den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats hat,
    als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat
    wohnen. Diese Regelung betrifft allein den Sohn des Klägers,
    für den er nach dieser Regelung einen Kindergeldanspruch
    unabhängig davon hat, in welchem Mitgliedstaat der Europäischen
    Union der Sohn wohnt. Dies steht im Einklang mit der Regelung in § 63
    Abs. 1 S. 3 EStG. Für die Kindesmutter ist diese Regelung
    dagegen nicht anzuwenden, weil es nicht um Familienleistungen für
    sie geht.


    Da von vornherein damit der Anwendungsbereich der Art. 67, 68
    Grundverordnung nicht eröffnet ist, kommt es auf die nähere
    Ausgestaltung des Verfahrens in Art. 60 Abs. 1 Durchführungsverordnung
    nicht an. Insbesondere kann diese Vorschrift nicht dafür
    herangezogen werden, um neben dem Anspruch des Klägers
    aus §§ 62, 63 EStG einen weiteren inländischen
    Kindergeldanspruch, der in England lebenden Kindesmutter zu konstruieren
    und so erst zu einer unter Anwendung von § 64 EStG zu lösenden
    Anspruchskonkurrenz zu kommen.


    c) Nach Auffassung des Gerichts wird es dem Sinn und Zweck der
    Regelungen in der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung,
    bei einem Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen
    nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zur Vermeidung
    ungerechtfertigter Doppelleistungen festzulegen, welche Ansprüche
    vorrangig bestehen, nicht gerecht, wenn in einer Konstellation,
    in der lediglich ein Anspruch nach den Rechtsvorschriften Deutschlands
    besteht, ein weiterer Anspruch eines in einem anderen Mitgliedstaat
    lebenden möglichen Berechtigten in Deutschland konstruiert
    wird. Dies hat der Senat bereits in mehreren Urteilen entschieden
    (vgl. Urteile vom 31.01.2012, 1 K 204/11, EFG 2012, 1364;
    vom 23.04.2012, 1
    K 238/11, EFG 2012, 1682; vom 10.05.2012, 1K 19/11, EFG 2012, 1684;
    vom 13.08.2012, 1
    K 268/11, EFG 2012,2 1296; vom 14.10.2012, 1 K 197/11,
    juris) im Einklang mit zahlreichen weiteren finanzgerichtlichen
    Entscheidungen, auf die in den genannten Entscheidungen Bezug genommen
    worden ist (anderer Ansicht soweit ersichtlich lediglich FG Bremen
    Urteil vom 10.11.2011, 3
    K 26/11 (1), EFG 2012,143). Auf diese Rechtsprechung
    wird verwiesen.


    II.

    Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

    Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit
    beruht auf §§ 151 Abs. 1, Abs. 3, 155 FGO i. V.
    m. §§ 708 Nr. 10 und 711 ZPO.


    Die Revision wird gemäß § 115 Abs.
    2 Nr. 2 FGO zugelassen zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
    und Fortbildung des Rechts im Zusammenhang mit der Anwendung der
    Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009
    im Hinblick auf die bereits anhängigen Revisionsverfahren
    beim BFH, z. B. V
    R 46/11, XI
    R 23/12, VI
    R 31/12, III
    R 4/12.

    VorschriftenEStG §§ 64 Abs. 2, 63 Abs. 1, 32 Abs. 1