09.03.2011
Finanzgericht Baden-Württemberg: Gerichtsbescheid vom 23.12.2010 – 1 K 4861/08
1. Insolvenzgeld unterliegt in vollem Umfang und nicht nur in Höhe des von einer Bank vorfinanzierten Arbeitslohns im Veranlagungszeitraum der Bewilligung und Auszahlung durch die Arbeitsverwaltung dem Progressionsvorbehalt nach § 32 b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG.
2. Dies gilt auch dann, wenn das Insolvenzgeld dem Ausgleich nicht realisierbarer Ansprüche auf Arbeitslohn für Lohnzahlungszeiträume des vor der Auszahlung des Insolvenzgeld liegenden Veranlagungszeitraums dient.
3. Leistungen der vorfinanzierenden Bank, an die der Arbeitnehmer den Insolvenzgeldanspruch gegen die Arbeitsverwaltung abgetreten hat, sind weder als Arbeitslohn noch als Insolvenzgeldzahlung, sondern als nicht steuerbare Valutierung eines Darlehens zu qualifizieren.
Im Namen des Volkes
Gerichtsbescheid
In dem Finanzrechtsstreit
hat der 1. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg am 23. Dezember 2010 durch Vorsitzenden Richter am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht …
für Recht erkannt:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, zu welchem Zeitpunkt Insolvenzgeld (§§ 183 ff. Sozialgesetzbuch Drittes Buch – SGB III –) im Falle der Vorfinanzierung durch Dritte dem Progressionsvorbehalt gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes (EStG, in der im Streitjahr 2007 geltenden Fassung – a. F. –; jetzt: § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG) zu unterwerfen ist.
Der Kläger war im Jahre 2006 (dem Vorjahr des Streitjahres 2007) bei der B GmbH (Arbeitgeberin) als Schreiner beschäftigt und erzielte aus dieser Tätigkeit Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Im Herbst 2006 geriet die Arbeitgeberin in finanzielle Schwierigkeiten, so dass über ihr Vermögen ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt werden musste. Vom zuständigen Amtsgericht wurde als vorläufiger Insolvenzverwalter der Rechtsanwalt C aus X eingesetzt.
In der Folgezeit bemühte sich der vorläufige Insolvenzverwalter darum, die weitere Finanzierung der laufenden Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer sicherzustellen. Zu diesem Zweck schloss er am 16./22. November 2006 eine gemeinsame Vereinbarung mit der Arbeitgeberin und einem finanzierenden Geldinstitut, der Bank… in X, ab, derzufolge die Bank sich bereit erklärte, den Arbeitnehmern Beträge maximal in Höhe des Nettoauszahlungsbetrags der Löhne und Gehälter der Abrechnungsmonate Oktober und November 2006 zu zahlen. Die Zahlung sollte in der Weise erfolgen, dass die Bank die Ansprüche der Arbeitnehmer auf Arbeitsentgelt gegen die Arbeitgeberin für den genannten Zeitraum und in der genannten Höhe durch gesonderte Verträge mit den jeweiligen Arbeitnehmern zum Preis von 100% der Forderung aufkaufte. Die Arbeitgeberin verpflichtete sich gemeinsam mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter, diesen Betrag gegenüber der Bank mit einem Zinssatz von 10% zu verzinsen, die von der Bank erworbenen Lohn- und Gehaltsforderungen zu erfüllen, rechtzeitig Anträge auf Insolvenzgeld bei der Arbeitsverwaltung zu stellen und eine Eröffnung des Insolvenzverfahrens bis zum 1. Januar 2007 sicherzustellen. Der Kaufpreis sollte ausbezahlt werden, sobald der Bank die „Einzelabtretungen” (gemeint wohl: die einzelnen Forderungsverkäufe) der betroffenen Arbeitnehmer über die zu bevorschussenden Lohn- und Gehaltsansprüche vorlagen. Weitere Verpflichtungen über die Bevorschussung der Netto-Arbeitsentgelte hinaus übernahm die Bank nicht; so sollte die Bank insbesondere nicht für Lohnfolgekosten wie etwa das Nettoarbeitsentgelt übersteigende Steuern und Sozialabgaben einstehen. Die Arbeitgeberin verpflichtete sich, eventuell gegenüber den bevorschussten Löhnen und Gehältern geringer ausfallende Insolvenzgeldzahlungen gegenüber der Bank auszugleichen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Wortlaut der Vereinbarung (Bl. 80 ff. der Gerichtsakten) verwiesen.
Aufgrund dieser Vereinbarung verkaufte der Kläger am 20. November 2006 die ihm zustehenden Ansprüche auf Arbeitsentgelt in Höhe der Nettoauszahlungsbeträge für die Monate Oktober und November 2006 an die Bank. Zugleich trat der Kläger seine Ansprüche auf Zahlung von Insolvenzgeld gegen die Arbeitsverwaltung an die Bank ab und bevollmächtigte die Bank, diese Ansprüche bei der Arbeitsverwaltung geltend zu machen. Die verkauften Beträge beliefen sich auf 1.561,14 EUR für Oktober 2006 und auf 1.350,96 EUR für November 2006. Sie wurden von der Bank abredegemäß auf einem durch den vorläufigen Insolvenzverwalter zuvor treuhänderisch für die Arbeitgeberin bei ihr eingerichteten Konto bereitgestellt und von dort am 7. Dezember 2006 und am 15. Dezember 2006 auf Veranlassung des vorläufigen Insolvenzverwalters unter Angabe des Verwendungszwecks „Insolv. Ausfallgeld Oktober” bzw. „Insolvenzausfallgeld Nov 06” an den Kläger ausbezahlt.
Nachdem wenig später das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Arbeitgeberin eröffnet worden war, bewilligte die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit X (die Arbeitsverwaltung) – mit Bescheid vom 14. Februar 2007 für den Insolvenzgeldzeitraum vom 1. Oktober bis zum 31. Dezember 2006 gegenüber dem Kläger Insolvenzgeld in Höhe von insgesamt 4.337,01 EUR. Von diesem Betrag wurden die auf die Monate Oktober und November 2006 entfallenden Leistungen von 1.561,14 EUR und 1.350,96 EUR unter Hinweis auf die Vorfinanzierung des Insolvenzgelds in Höhe von insgesamt 2.912,10 EUR abgesetzt und an die Bank weitergeleitet. Nur der verbleibende Betrag von 1.424,91 EUR für den Monat Dezember 2006 wurde am 19. Februar 2007 an den Kläger ausgezahlt. Zugleich wurde dem Kläger eine Bescheinigung über den Bezug von Insolvenzgeld in Höhe von 4.337,01 EUR ausgestellt. Eine elektronische Fassung dieser Insolvenzgeldbescheinigung übersandte die Arbeitsverwaltung an das beklagte Finanzamt (den Beklagten).
In seiner Einkommensteuererklärung für das Jahr 2006 gab der Kläger an, in jenem Veranlagungszeitraum Lohnersatzleistungen unter anderem in Form von „Insolvenzgeld – ausgezahlter Vorfinanzierungsbetrag” in Höhe von 2.912,10 EUR und die Restzahlung erst im folgenden Veranlagungszeitraum, dem Streitjahr 2007, erhalten zu haben. Da indessen im Jahr 2006 die Werbungskosten den Bruttoarbeitslohn des Klägers um 3.668 EUR überstiegen und demzufolge – mangels anderer Einkünfte – sowohl der Gesamtbetrag seiner Einkünfte als auch sein zu versteuerndes Einkommen negativ waren, setzte der Beklagte die Einkommensteuer 2006 auf null EUR fest, ohne dass sich die erklärten Lohnersatzleistungen im Rahmen des Progressionsvorbehalts steuerlich zu seinem Nachteil hätten auswirken können.
Im Zuge der Veranlagung des Klägers zur Einkommensteuer des Streitjahrs 2007 erfasste der Beklagte das Insolvenzgeld sämtlicher Monate von Oktober bis Dezember 2006 in voller Höhe von 4.337 EUR bei der Anwendung des Progressionsvorbehalts. Der Beklagte brachte vom Gesamtbetrag der Einkünfte einen Verlustvortrag in Höhe des Werbungskostenüberschusses des Vorjahrs von 3.338 EUR in Abzug und setzte sodann durch Bescheid vom 10. April 2008 die Einkommensteuer des Klägers auf 3.424 EUR fest.
Mit seinem fristgerecht eingelegten Einspruch machte der Kläger geltend, ihm sei im Streitjahr nur ein Teilbetrag des Insolvenzgeldes in Höhe des Monatsbetrags für Dezember 2006 von 1.424,91 EUR zugeflossen. Die vorfinanzierten Beträge für die Monate Oktober und November 2006 habe er demgegenüber bereits im Jahre 2006 erhalten, so dass sie sich nur in jenem Jahr steuerlich auswirken könnten. Denn maßgebend für die Versteuerung sei der Veranlagungszeitraum des tatsächlichen Zuflusses der jeweiligen Einnahmen.
Der Einspruch blieb erfolglos. Mit (Teil-) Einspruchsentscheidung vom 15. September 2008 wies ihn der Beklagte im Streitpunkt zurück. Dazu führte der Beklagte aus, dem Kläger sei auch solches Insolvenzgeld zuzurechnen, dass einem Dritten – und damit im Streitfall der vorfinanzierenden Bank – zustehe. Deshalb sei beim Kläger neben dem direkt an ihn ausgezahlten Betrag auch der an die Bank gezahlte Betrag von 2.912,10 EUR in Ansatz zu bringen.
Hiergegen richtet sich die Klage, mit der der Kläger sein Vorbringen aus dem Einspruchsverfahren weiterverfolgt und vertieft. Der Kläger ist der Auffassung, unabhängig vom Leistungsbescheid der Arbeitsverwaltung habe er schon vorher einen Anspruch auf das Insolvenzgeld gehabt, der durch Zahlung für die Monate Oktober und November 2006 mit Zustimmung der Arbeitsverwaltung bereits im Vorjahr 2006 erfüllt worden sei. Seit diesem Zufluss habe er ohne Gefahr einer Rückzahlung uneingeschränkt über den ausgezahlten Betrag verfügen können, so dass er im Streitjahr selbst keinen Anspruch auf ihn mehr gehabt habe. Die Bereicherung und damit auch die Stärkung seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit seien bereits im Jahre 2006 eingetreten. Dass der steuerliche Zufluss im Veranlagungszeitraum 2006 auch aus anderen Gründen (nämlich wegen des geringen zu versteuernden Einkommens und des Umstands, dass sich das Insolvenzgelds deswegen im Rahmen des Progressionsvorbehalts nicht auswirken konnte) für ihn vorteilhaft gewesen sei, könne nicht entscheidungserheblich sein. Es gelte allein das Zuflussprinzip.
Der Beklagte hat den angefochtenen Einkommensteuerbescheid im Laufe des Klageverfahrens durch Bescheide vom 10. Februar 2009 und vom 23. Februar 2010 aus nicht im Streit stehenden Gründen geändert und die Einkommensteuer zuletzt auf 3.062 EUR festgesetzt.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
den Einkommensteuerbescheid 2007 vom 23. Februar 2010 in Gestalt der Teil-Einspruchsentscheidung vom 15. September 2008 in der Weise zu ändern, dass die Einkommensteuer unter Berücksichtigung von Lohnersatzleistungen von 1.424 EUR anstelle von 4.337 EUR im Rahmen des Progressionsvorbehalts nach § 32b EStG neu festgesetzt wird.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte weist darauf hin, dass die Bewilligung und Auszahlung des Insolvenzgelds in voller Höhe erst im Streitjahr erfolgt sei. Auch unter Anwendung des Zuflussprinzips sei im Falle von Forderungsübergängen ein Zufluss beim Steuerpflichtigen erst dann gegeben, wenn die Forderung beim neuen Gläubiger – im Streitfall: bei der vorfinanzierenden Bank – eingehe. Letztlich stelle der Forderungsankauf der (Netto-) Lohnansprüche durch die Bank nur eine besondere Ausprägung der Zahlungsweise des Arbeitsentgelts in Form eines abgekürzten Zahlungsweges dar. Im Jahre 2006 könne dem Kläger daher in Höhe des streitigen Betrags von 2.912,10 EUR kein Insolvenzgeld, sondern allenfalls Arbeitslohn zugeflossen sein, der dann allerdings konsequenterweise in vollem Umfang der Besteuerung zu unterwerfen sei. Dies würde im Streitfall jedoch eine Minderung des Verlustvortrags aus dem Jahre 2006 in das Streitjahr von bislang 3.668 EUR auf dann 756 EUR und damit für das Streitjahr ein dementsprechend höheres zu versteuerndes Einkommen zur Folge haben. In solchen Fällen gehe die Finanzverwaltung zugunsten der betroffenen Arbeitnehmer davon aus, dass die Arbeitnehmer auch bei einer Vorfinanzierung des Arbeitsentgelts insoweit steuerfreies Insolvenzgeld bezögen, sobald mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Voraussetzungen für die Zahlung von Insolvenzgeld gegeben seien. Dieses Insolvenzgeld müsse dann jedoch im Zeitpunkt seiner Bewilligung und Auszahlung an den vorfinanzierenden Dritten dem Progressionsvorbehalt unterliegen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist nicht begründet. Die angefochtene Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr 2007 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
Der Beklagte hat das mit Bescheid der Arbeitsverwaltung vom 14. Februar 2007 zugunsten des Klägers bewilligte Insolvenzgeld zutreffend in vollem Umfang und nicht bloß – wie vom Kläger angestrebt – in einer um die abgesetzten Zahlungen an die vorfinanzierende Bank verminderten Höhe dem Progressionsvorbehalt unterworfen. Denn auch diese Zahlungen waren dem Kläger mit Wirkung für das Streitjahr zuzurechnen (§ 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a letzter Halbsatz EStG a. F.).
1. Das Insolvenzgeld steht nach § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III unter bestimmten weiteren Voraussetzungen solchen Arbeitnehmern zu, die bei Eintritt eines der dort genannten Insolvenzereignisse für die vorausgegangenen drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Es gehört daher zu den in § 3 Nr. 2 EStG genannten „übrigen Leistungen” nach dem SGB III und ist damit nach dieser Vorschrift als Einnahme steuerfrei (vgl. R 4 Abs. 2 der Lohnsteuer-Richtlinien – LStR – 2005, jetzt R 3.2 Abs. 2 LStR 2008; Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach – HHR –, Einkommensteuergesetz – Körperschaftsteuergesetz, § 3 Nr. 2 EStG Anm. 3; Fissenewert in Frotscher, EStG, § 3 Nr. 2 Rz. 5).
Zugleich bestimmt § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG a. F., dass bei Steuerpflichtigen auf das zu versteuernde Einkommen ein besonderer Steuersatz anzuwenden ist, wenn sie (unter anderem auch) Insolvenzgeld bezogen haben; dabei ist gemäß dem letzten Halbsatz dieser Vorschrift das nach § 188 Abs. 1 SGB III einem Dritten zustehende Insolvenzgeld dem Arbeitnehmer zuzurechnen. Der besondere Steuersatz errechnet sich nach § 32b Abs. 2 Nr. 1 EStG a. F. (jetzt: § 32b Abs. 2 Satz 1 Nr. 1) unter Einbeziehung des Insolvenzgeldes bei der Anwendung des nach § 32a Abs. 1 EStG nicht linear, sondern progressiv verlaufenden Einkommensteuertarifs (sog. Progressionsvorbehalt).
2. Der Kläger hat das bewilligte steuerfreie Insolvenzgeld in voller Höhe einschließlich der durch die Bank vorfinanzierten Teilbeträge erst im Streitjahr 2007 bezogen.
a) § 188 Abs. 1 SGB III bestimmt, dass, soweit der Arbeitnehmer vor seinem Antrag auf Insolvenzgeld Ansprüche auf Arbeitsentgelt einem Dritten übertragen hat, der Anspruch auf das Insolvenzgeld diesem Dritten zusteht. Damit konnte, nachdem der Kläger seine Arbeitslohnforderungen für die Monate Oktober und November 2006 in Höhe des Nettoarbeitsentgelts an die Bank …. verkauft hatte, fortan nicht mehr der Kläger, sondern nur noch die Bank von der Arbeitsverwaltung den entsprechenden Teil des Insolvenzgeldes beanspruchen. Indessen stellten auch diese Teilbeträge mit ihrer Bewilligung im Februar 2007 Insolvenzgeld dar, dessen Auszahlung an die Bank dem Kläger nach § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG a. F. zuzurechnen ist.
b) Dies stellt ergänzend auch § 32b Abs. 4 Satz 3 EStG a. F. (jetzt: § 32b Abs. 3 Satz 3 EStG) nochmals ausdrücklich klar. Dort ist ausgeführt, dass in den Fällen des § 188 Abs. 1 SGB III der Empfänger des an Dritte ausgezahlten Insolvenzgeldes der Arbeitnehmer ist, der seinen Arbeitsentgeltanspruch übertragen hat. Für den Empfänger im Sinne dieser Vorschrift hat die Bundesagentur für Arbeit die Daten über das im Kalenderjahr gewährte Insolvenzgeld an die Finanzverwaltung zu übermitteln (§ 32b Abs. 4 Satz 1 EStG a. F., jetzt: § 32b Abs. 3 Satz 1 EStG).
Zwar kommt § 32b Abs. 4 Satz 3 EStG nach seiner Entstehungsgeschichte und nach seiner systematischen Stellung im Gesetz in erster Linie verfahrensrechtliche Bedeutung zu. Die Regelung wurde durch Art. 1 Nr. 12 Buchst. c des Zweiten Gesetzes zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Steueränderungsgesetz 2003 – StÄndG 2003) vom 15. Dezember 2003 (BGBl I 2003, 2645, BStBl I 2003, 710) in das EStG aufgenommen. Mit ihr sollte nach den Vorstellungen des Gesetzgebers für den Fall der Abtretung des Arbeitsentgelts und der Auszahlung des Insolvenzgeldes an einen Dritten bloß klargestellt werden, dass mit dem Begriff des „Empfängers” in diesem Fall der Arbeitnehmer gemeint sein sollte (Begründung zum Gesetzentwurf der damaligen Koalitionsfraktionen, BTDrucks 15/1562, S. 33). Diese Klarstellung erschien dem Gesetzgeber offenbar deshalb als notwendig, weil die Arbeitsverwaltung zuvor eine andere Auffassung vertreten und deshalb ursprünglich die Erstellung von Bescheinigungen über das ihrer Ansicht nach vom Dritten und nicht vom Arbeitnehmer empfangene Insolvenzgeld verweigert hatte (Probst in HHR, § 32b EStG Anm. 158; vgl. Verfügungen der Oberfinanzdirektion – OFD – Hannover vom 19. Juni 2002 – S 2295 – 49 – StO 211, S 2295 – 79 – StH 215, Der Betrieb – DB – 2002, 1477, und der OFD Kiel vom 6. Februar 2003 – S 2295 A, Einkommensteuer-Kartei Schleswig-Holstein EStG Karte 1.1). Normadressat der Vorschrift ist daher nicht der Steuerpflichtige, sondern die Bundesagentur für Arbeit (Starke in HHR, § 32b EStG Anm. J 03-3; Handzik in Littmann/Bitt/Pust, Das Einkommensteuerrecht, § 32b EStG Rz. 143). Dies ändert allerdings nichts daran, dass die Regelung ersichtlich davon ausgeht, dass die Leistung von Insolvenzgeld auch im Bereich des § 188 Abs. 1 SGB III in eben demjenigen Kalenderjahr an den Arbeitnehmer gewährt wird, in dem das Insolvenzgeld von der Arbeitsverwaltung an den (vorfinanzierenden) Dritten zur Auszahlung gelangt (vgl. auch Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 16. März 1993 – XI R 52/88, BFHE 171, 70, BStBl II 1993, 507).
c) Entgegen der Auffassung des Klägers folgt aus § 11 Abs. 1 Satz 1 EStG (sog. Zuflussprinzip) nicht, dass das auf die Bank …. als Dritten übergegangene Insolvenzgeld bereits im Zeitpunkt seiner Vorfinanzierung (und damit im Vorjahr 2006) i. S. des § 32b Abs. 1 EStG „bezogen” worden wäre.
Zutreffend ist zwar, dass nach dieser Vorschrift Einnahmen innerhalb des Kalenderjahrs bezogen sind, in dem sie dem Steuerpflichtigen zugeflossen sind. Indessen betrifft die Regelung nur die zeitliche Zurechnung der Einnahmen, ohne dabei eine Aussage darüber zu treffen, ob, in welcher Höhe und aus welchem Rechtsgrund der Steuerpflichtige den in Streit stehenden Betrag im Einzelnen vereinnahmt hat (vgl. Heinicke in Schmidt, EStG, 29. Aufl., § 11 Rz. 1). Aus dem Umstand allein, dass dem Kläger im Jahre 2006 von Seiten der Bank …. ein Betrag von 2.912,10 EUR zugeflossen ist, ergibt sich daher noch nicht, dass es sich dabei auch um Insolvenzgeld i. S. des § 3 Nr. 2 EStG und des § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG a. F. gehandelt hat.
Tatsächlich hat die im Vorjahr 2006 stattgefundene Auszahlung des vorfinanzierten Betrags beim Kläger vielmehr weder – wie er meint – zu einem Zufluss von (steuerfreiem) Insolvenzgeld noch – wie der Beklagte angedeutet hat – zu einem Zufluss von (steuerpflichtigem) Arbeitslohn geführt.
aa) Um einen Zufluss von Insolvenzgeld kann es sich schon deshalb nicht gehandelt haben, weil der Anspruch auf Insolvenzgeld im maßgeblichen Zeitpunkt, in dem der Kläger die Zahlungen der Bank …. vereinnahmt hat, noch nicht zur Entstehung gelangt war. Dass Vorfinanzierungszahlungen anderer Rechtsträger als der Arbeitsverwaltung als Zahlungen von Insolvenzgeld qualifiziert werden könnten, ist daneben auch nach dem Wortlaut und der Systematik der Vorschriften über das Insolvenzgeld (§§ 183 ff. SGB III) ausgeschlossen.
§ 183 Abs. 1 SGB III bindet den Anspruch auf Insolvenzgeld an das Vorliegen eines der drei dort genannten Insolvenzereignisse (Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers, Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse oder vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt). Keines dieser Insolvenzereignisse war im Dezember 2006, als dem Kläger das künftige Insolvenzgeld durch die Bank …. vorfinanziert wurde, bereits eingetreten. Zwar ist zu einem späteren Zeitpunkt das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Arbeitgeberin des Klägers tatsächlich eröffnet worden; dieses Ereignis wirkt jedoch auf den Auszahlungszeitpunkt nicht zurück und kann damit die Vorfinanzierungsleistung der Bank auch nicht zur Zahlung von Insolvenzgeld umqualifizieren. Dies ergibt sich auch daraus, dass der Wortlaut des Gesetzes an etlichen Stellen zwischen dem Anspruch des Arbeitnehmes „auf Arbeitsentgelt” und dem Anspruch „auf Insolvenzgeld” deutlich unterscheidet (vgl. § 183 Abs. 1 Satz 1, § 184 Abs. 1 Halbsatz 1, § 187 Satz 1, § 188 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 SGB III). Vor Eintritt des Insolvenzereignisses besteht unter bestimmten zusätzlichen Voraussetzungen die Möglichkeit, einen „Vorschuss auf das Insolvenzgeld” zu gewähren, der indessen nur durch die Arbeitsverwaltung und nicht durch Dritte erbracht werden kann und – anders als im Streitfall – an die vorherige Beendigung des Arbeitsverhältnisses gebunden ist (§ 186 Satz 1 SGB III).
bb) Auch Arbeitslohn, der nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG als steuerpflichtig zu behandeln wäre, ist dem Kläger durch die in Streit stehende Vorfinanzierungszahlung nicht zugeflossen.
Da der Kläger seine Ansprüche auf Arbeitsentgelt unter gleichzeitiger Abtretung der (künftigen) Ansprüche auf das Insolvenzgeld für die Monate Oktober und November 2006 an die Bank … verkauft hat, sind auch die aufgrund dieses Rechtsgeschäfts als Vorfinanzierung empfangenen Gegenleistungen nur der Bank, nicht aber der (gegebenenfalls durch den vorläufigen Insolvenzverwalter vertretenen) Arbeitgeberin des Klägers zuzurechnen. Ungeachtet dessen, dass der Kläger den vorfinanzierten Betrag aufgrund einer Zahlung des vorläufigen Insolvenzverwalters von einem für die Arbeitgeberin eingerichteten Treuhandkonto vereinnahmt hat, war Leistender dieser Zahlung allein die Bank, die sich lediglich zur Abwicklung der Zahlung (wie auch der offenbar gleichzeitig erfolgenden Auszahlungen an die anderen von der Arbeitgeberinsolvenz betroffenen Kollegen des Klägers) der Unterstützung des vorläufigen Insolvenzverwalters bedient hat. Damit stellten die Leistungen der Bank jedoch keinen Arbeitslohn dar, weil sie ihre Grundlage nicht im Arbeitsverhältnis, sondern in einem mit dem Kläger gesondert eingegangenen Darlehensverhältnis hatten (vgl. Starke in HHR, § 32b EStG Anm. J 03-3). Der Sachverhalt liegt insoweit nicht anders, als wenn der Arbeitnehmer seinen ausstehenden Lohnanspruch als Sicherheit für ein ihm gegebenes Darlehen an ein Kreditinstitut abtritt; auch hier liegt in der Valutierung des Darlehens noch kein Lohnzufluss.
d) Der Kläger hat die streitigen Insolvenzgeldzahlungen schließlich auch nicht deswegen im Vorjahr 2006 bezogen, weil es sich um laufende Ersatzleistungen für ausstehende Arbeitslohn des Jahres 2006 gehandelt hat.
Im Schrifttum wird verschiedentlich die Auffassung vertreten, auch die vom Sozialleistungsträger (hier: der Arbeitsverwaltung) ausgezahlten steuerfreien Lohn- und Einkommensersatzleistungen würden für einen bestimmten Zeitraum gezahlt, nämlich für jene Monate, in denen der Steuerpflichtige keine oder zu geringe eigene Einkünfte bezieht. Sie träten damit an die Stelle von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, die nach § 11 Abs. 1 Satz 4 i. V. m. § 38a Abs. 1 Satz 2 EStG als laufender Arbeitslohn in dem Kalenderjahr als bezogen (und damit als zugeflossen) gelten, in dem der Lohnzahlungszeitraum endet. Sowohl vom Sinn und Zweck der Sozialleistungen her als auch aufgrund der mit dem Monatsprinzip verknüpften Technik in der Abrechnung sei folglich eine entsprechende Anwendung des § 38a Abs. 1 Satz 2 EStG auf Lohnersatzleistungen vorzunehmen (Kieschke/Klezath/Muuss/Müller-Gatermann, Deutsche Steuer-Zeitung – DStZ – 1982, 67, 78; Frenz in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Einkommensteuergesetz – Kommentar, § 32b Rz. B 25; Probst in HHR, § 32b EStG Anm. 55). Für den Streitfall hätte dies zur Folge, dass sämtliche von der Arbeitsverwaltung bewilligten Insolvenzgelder nur im Jahre 2006 dem Progressionsvorbehalt zu unterwerfen wären, weil sie zum Ausgleich für aufgrund der Insolvenz der Arbeitgeberin nicht mehr zu realisierende Ansprüche auf Arbeitsentgelt für die Lohnzahlungszeiträume Oktober bis Dezember 2006 bestimmt waren. Der Senat folgt dieser Auffassung indessen nicht, weil Insolvenzgeld gemäß § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III nur für längstens drei Monatsgehälter gezahlt wird und ein derart kurzer Zeitraum nicht ausreichend ist, als dass entsprechend dem Sinn des § 38a Abs. 1 Satz 2 EStG von „laufendem Arbeitslohn” die Rede sein könnte.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
4. Dem Senat erschien es angezeigt, ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden (§ 90a Abs. 1 FGO).
5. Die Revision war zur Fortbildung des Rechts zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO), da die Frage, zu welchem Zeitpunkt vorfinanziertes Insolvenzgeld i. S. des § 32b Abs. 1 EStG „bezogen” wird, höchstrichterlich noch nicht geklärt ist und in der Rechtsanwendungspraxis für eine Vielzahl von Fällen von Bedeutung erscheint.