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  • 10.02.2011

    Finanzgericht des Saarlandes: Urteil vom 14.10.2010 – 1 K 1503/08

    1. Eine Tatsache, von der der Bearbeiter im Zusammenhang mit der Bearbeitung eines anderen Steuerfalls Kenntnis erlangt hat (hier die Höhe der eigenen Einkünfte des mit Unterhaltsleistungen unterstützten Sohnes), ist dem FA – vorbehaltlich einer Verletzung der Amtsermittlungspflicht – nicht in einer die Änderung (des Einkommensteuerbescheids der Unterstützung leistenden Eltern) wegen neuer Tatsachen ausschließenden Weise als bekannt zuzurechnen.

    2. Übersieht der Sachbearbeiter, dass der Steuerpflichtige von seinem Arbeitgeber pauschalversteuerten Aufwendungsersatz für die beruflich veranlassten Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte erhalten hat, obwohl dies aus der der Einkommensteuererklärung beigefügten Lohnsteuerkarte ohne weiteres ersichtlich war, so liegt eine offenbare Unrichtigkeit vor.

    3. Die Anwendungspraxis und die ergangene Rechtsprechung zu § 129 AO begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.


    IM NAMEN DES VOLKES

    URTEIL

    In dem Rechtsstreit

    hat der 1. Senat des Finanzgerichts des Saarlandes durch den Richter am Finanzgericht Hardenbicker als Vorsitzender, den Richter am Finanzgericht Dr. Bartone, die Richterin am Finanzgericht Eggers-von Wittenburg, sowie die ehrenamtlichen Richter Schmitt (Geschäftsführer) und Keller (Geschäftsführer i. R.) aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 14. Oktober 2010

    für Recht erkannt:

    Die Klage wird als unbegründet abgewiesen.

    Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

    Die Revision wird zugelassen.

    Tatbestand

    Der Rechtsstreit betrifft die Anfechtung eines Änderungsbescheides, mit dem der ursprüngliche Steuerbescheid zu Lasten der Klägerin geändert wurde.

    Die Klägerin und ihr im Oktober 2007 verstorbener Ehemann, dessen Gesamtrechtsnachfolgerin sie als Alleinerbin ist, gaben ihre Einkommensteuer für 2000 am 22. Oktober 2001 beim Beklagten ab und wurden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Im Einkommensteuerbescheid für 2000 vom 7. November 2001, der am 24. Oktober vom Sachbearbeiter freigegeben worden war, berücksichtigte der Beklagte dabei erklärungsgemäß Unterhaltsaufwendungen der Klägerin und ihres Ehemanns für den gemeinsamen Sohn in Höhe von 6.938 DM (ESt, Bl. 35). Dabei ging der Beklagte von einem eigenen Einkommen des Sohnes in Höhe von 7.762 DM aus, wie es die Klägerin und ihr Ehemann in ihrer Einkommensteuererklärung für 2000 angegeben hatten. Diesen Betrag hatten sie – ohne dies in der Steuererklärung kenntlich zu machen – aus den Einkünften des Sohnes von 31.047 DM abgeleitet, indem sie den Betrag durch vier dividiert hatten. Aus der Steuererklärung ergab sich aber, dass für den im Jahr 1972 geborenen Sohn kein Anspruch auf Kindergeld bestand, dass dieser Student mit Wohnsitz in Frankreich sei und mit seiner Ehefrau und zwei Kindern einen eigenen Haushalt unterhalte (ESt, Bl. 29 – Rückseite). Der Sohn der Klägerin, der in derselben Dienststelle von demselben Sachbearbeiter veranlagt wurde, hatte seinerseits seine Einkommensteuererklärung für das Streitjahr am 9. Oktober 2001 abgegeben und war mit Einkommensteuerbescheid vom 29. Oktober 2001 veranlagt worden, nachdem die abschließende Zeichnung durch den Sachbearbeiter am 12. Oktober 2001 erfolgt war.

    Darüber hinaus legte der Beklagte bei der Einkommensteuerfestsetzung bei den Einkünften des Ehemanns aus nichtselbständiger Arbeit Werbungskosten in Form von Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in Höhe von 7.392 DM zugrunde. Er berücksichtigte dabei nicht die auf der Lohnsteuerkarte des Ehemanns ausgewiesenen, von der Klägerin und ihrem Ehemann im Erklärungsvordruck jedoch nicht eingetragenen pauschalbesteuerten Arbeitgeberleistungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in Höhe von 7.020 DM (ESt, Bl. 30).

    Am 19. Dezember 2002 erließ der Beklagte einen Änderungsbescheid, den er auf die §§ 129, 173 Abs. 1 Nr. 1 AO stützte. In diesem Bescheid wurde die Arbeitgeberleistung für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte berücksichtigt und die Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit entsprechend gekürzt. Außerdem erkannte der Beklagte keine Unterhaltsaufwendungen mehr an, da er das eigene Einkommen des Sohnes mit 31.047 DM berücksichtigte.

    Hiergegen legten die Klägerin und ihr Ehemann am 20. Januar 2003 Einspruch ein (Rbh, Bl. 8 f.), den der Beklagte mit seiner Einspruchsentscheidung vom 19. August 2008 zunächst vollständig als unbegründet zurückwies (Rbh, Bl. 85 ff.).

    Hiergegen richtet sich die am 9. Oktober 2008 erhobene Klage.

    Die Klägerin ist der Ansicht, die Änderung des ursprünglichen Einkommensteuerbescheids sei rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht vorlägen. Denn die Höhe der Einkünfte ihres Sohnes sei dem Beklagten schon vor Erlass des Änderungsbescheides bekannt gewesen. Bereits vor der Bearbeitung ihrer Einkommensteuererklärung habe der derselbe Sachbearbeiter bereits die Einkommensteuererklärung des Sohnes für 2000 bearbeitet, die dieser knapp zwei Wochen zuvor eingereicht habe. Zudem habe der Beklagte die zu berücksichtigenden Einkünfte des Sohnes in Bezug auf das Existenzminimum von dessen beiden Kindern fehlerhaft berechnet.

    Im Übrigen dürfte § 129 AO zwar unter Zugrundelegung der Grundsätze, welche der BFH in seiner Rechtsprechung entwickelt habe, im vorliegenden Fall anwendbar sein, jedoch entspreche die Anwendungspraxis nicht verfassungsrechtlichen Grundsätzen, so dass der Änderungsbescheid auch insoweit rechtswidrig sei (Bl. 61 f.). Denn es sei mehr als zweifelhaft, ob die Anwendungspraxis die Kollision der Gesetzmäßigkeit und des Vertrauensschutzes sowie der Rechtssicherheit zu Gunsten der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung auflösen dürfe. Im Streitfall sei davon auszugehen, dass der Fehler, der die Änderung ausgelöst habe, vom Beklagten schuldhaft verursacht worden.

    Am 2. Juli 2009 erließ der Beklagte einen weiteren Änderungsbescheid, in dem er 3.920 DM als außergewöhnliche Belastung in Form von Unterhaltsaufwendungen berücksichtigte.

    Die Klägerin beantragt,

    unter Änderung des Bescheids für 2000 über Einkommensteuer vom 19. Dezember 2002 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. August 2008 und in der Fassung vom 2. Juli 2009 die Einkommensteuer für 2000 unter Berücksichtigung von Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in Höhe von 7.392 DM (3.779,47 EUR) sowie von weiteren außergewöhnlichen Belastungen in Höhe von 3.018 DM (1.543,08 EUR) neu festzusetzen.

    Der Beklagte beantragt

    die Klage abzuweisen.

    Der Beklagte ist der Ansicht, die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO seien gegeben. Die Tatsache des höheren Einkommens des Sohnes sei erst nachträglich bekannt geworden. Schon aufgrund des Charakters des Besteuerungsverfahrens als Massenverfahren könne dem Finanzamt allein die Tatsache bekannt sein, die sich zur Zeit der ursprünglichen Veranlagung aus den Einkommensteuerakten der Klägerin und ihres Ehemanns selbst ergebe. Bei der von der Klägerin und ihrem Ehemann abgegebenen Steuererklärung sei er jedenfalls von der Richtigkeit der darin gemachten Angaben ausgegangen und habe keine Veranlassung gesehen, die Einkünfte des Sohnes zusätzlich zu ermitteln. Der Steuerbescheid des Sohnes sei erst bei der Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu den Steuerakten der Klägerin genommen worden. Eine Kenntnis des tatsächlichen Einkommens des Sohnes habe demnach erst zu diesem Zeitpunkt vorgelegen.

    Wegen der Änderung gemäß § 129 AO hinsichtlich der pauschalversteuerten Arbeitgeberleistungen verweist der Beklagte vollinhaltlich auf das Urteil des Finanzgerichts des Saarlandes vom 12. August 2008 2 K 2307/04 (Rbh, Bl. 74 ff.) mit dem die Klage der Klägerin als unbegründet abgewiesen wurde. Der Beklagte ist der Ansicht, weder die Vorschrift des § 129 AO, noch deren Anwendungspraxis und die dazu ergangene Rechtsprechung begegneten verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Vertrauen in einen offenbar unrichtigen Verwaltungsakt sei nicht schutzwürdig. Auf das Verschulden komme es hierbei nicht an. Der offenbar unrichtige Verwaltungsakt könne berichtigt werden.

    Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die beigezogenen Behördenakten (sechs Bände; FG, Bl. 96) und die Sitzungsniederschrift der mündlichen Verhandlung verwiesen.

    Entscheidungsgründe

    1. Die zulässige Klage ist unbegründet.

    Der angefochtene Änderungsbescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Denn der Beklagte hat die Änderung des Einkommensteuerbescheids für 2000 zu Recht auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO hinsichtlich der außergewöhnlichen Belastung und hinsichtlich der Werbungskosten auf § 129 AO gestützt.

    1.1 Die Änderung des Einkommensteuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist rechtmäßig, weil die im Rahmen des § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG zu berücksichtigenden Einkünfte des unterhaltenen Sohns ohne Zweifel eine Tatsache darstellten, die zu einer höheren Steuer führten und zudem rechtserheblich sind, da der Beklagte bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders entschieden und bereits den ursprünglichen Einkommensteuerbescheid mit dem nunmehrigen Inhalt erlassen hätte. Außerdem – nur darauf kommt es im Streitfall an – ist die hier maßgebliche Tatsache nachträglich bekanntgeworden.

    1.1.1 Nachträglich bekanntgeworden ist die Tatsache, weil sie bei Erlass des ursprünglichen Einkommensteuerbescheids – das heißt, in dem Zeitpunkt, in dem die Willensbildung des zuständigen Sachbearbeiters über die Steuerfestsetzung abgeschlossen war – bereits vorhanden, aber dem Beklagten noch nicht bekannt war (vgl. zum Beispiel BFH vom 18. August 2005 IV R 9/04, BFH/NV 2006, 390). Für die Beurteilung der Frage des nachträglichen Bekanntwerdens der Tatsache ist ausschließlich auf das Bekanntwerden der neuen Tatsache beim Beklagten abzustellen, und zwar bei den Personen, die innerhalb der Behörde dazu berufen sind, den betreffenden Steuerfall zu bearbeiten (vgl. zum Beispiel BFH vom 5. Dezember 2002 IV R 58/01, BFH/NV 2003, 588).

    1.1.1.1 Im Streitfall hat der Sachbearbeiter erst im Verfahren betreffend die Änderung des ursprünglichen Steuerbescheids Kenntnis davon erlangt, dass der Sohn der Klägerin über höhere zu berücksichtigende Einkünfte verfügt. Aus dem Vortrag der Beteiligten und aus den Akten ergibt sich nichts Gegenteiliges. Vielmehr spricht der vom Beklagten vorgetragene und mit dem Akteninhalt übereinstimmende Geschehensablauf dafür, dass erst im Zuge der Überprüfung, wie der pauschalbesteuerte Aufwendungsersatz für beruflich veranlasste Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in den Vorjahren behandelt wurde, der (neue) Sachbearbeiter die Einkünfte des Sohnes im Zusammenhang mit der Geltendmachung der Unterhaltsaufwendungen überprüft und die vom Sohn erklärte Höhe der eigenen Einkünfte festgestellt hat. Dies ergibt sich aus den in den Einkommensteuerakten auf dem ursprünglichen Einkommensteuerbescheid vorgenommenen Aktenvermerk (ESt, Bl. 34), wonach sowohl eine Änderung nach § 129 AO als gleichzeitig auch eine solche nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO vorgenommen wurde. Erst im Zuge dieses Änderungsverfahrens wurde die Einkommensteuerakte des Sohnes beigezogen und eine Ausfertigung von dessen Einkommensteuerbescheid für 2000 in die Einkommensteuerakte der Klägerin eingeheftet. Hierfür spricht die Reihenfolge der eingehefteten Blätter. Der Senat hat keinen Anlass anzunehmen, dass insoweit auf Seiten des Beklagten Manipulationen vorgenommen wurden.

    1.1.1.2 Dem Beklagten ist auch nicht die Kenntnis des Sachbearbeiters aus den Einkommensteuerakten des Sohns für den Steuerfall der Klägerin zuzurechnen. Zwar sind der zuständigen Dienststelle des Beklagten der Inhalt der dort geführten Akten und aufbewahrten Schriftstücke sowie die dem zuständigen Sachbearbeiter für seine Arbeit zugänglichen Dateien bzw. elektronischen Akten zuzurechnen, ohne dass es auf dessen individuelle Kenntnis im Einzelfall ankäme (vgl. hierzu zum Beispiel BFH vom 11. Februar 1998 I R 82/97, BStBl II 1998, 552; BFH vom 5. Dezember 2002 IV R 58/01, BFH/NV 2003, 588).

    Dabei kommt es indessen nur auf die denselben Steuerfall, das heißt die dasselbe Steuersubjekt betreffenden Akten an (vgl. Frotscher in Schwarz, AO, § 173, Rz. 50). Daher ist eine Tatsache nicht bekannt, wenn der Bearbeiter von ihr im Zusammenhang mit der Bearbeitung eines anderen Steuerfalls Kenntnis erlangt hat, weil dies die Anforderungen an das Erinnerungsvermögen der innerhalb des Finanzamts zuständigen Personen, die eine Vielzahl von Steuerfällen zu bearbeiten haben, überspannen würde (vgl. FG Düsseldorf vom 31. Oktober 1991 14 K 185/87 E, juris; FG Köln vom 13. März 2003 6 K 5158/99, EFG 2003, 1060; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 173 AO, Rz. 56.4). Dem Sachbearbeiter des Finanzamts muss und kann der Inhalt sämtlicher in seinem Veranlagungsbezirk geführten Akten nicht bei der Bearbeitung einer jeden Steuerfestsetzung bekannt sein (FG Köln vom 13. März 2003 6 K 5158/99, EFG 2003, 1060; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 173 AO, Rz. 56.4; in diesem Sinne wohl auch Koenig in Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl. 2009, § 173, Rz. 62).

    Daher kann die Klägerin nichts zu ihren Gunsten daraus ableiten, dass derselbe Sachbearbeiter des Beklagten für die Bearbeitung sowohl ihrer Einkommensteuererklärung als auch der ihres Sohnes zuständig war. Dass die Einkommensteuererklärungen sowohl der Klägerin als auch ihres Sohnes in einem relativ engen zeitlichen Zusammenhang abgegeben und vom selben Sachbearbeiter bearbeitet wurden, ist ein Zufall, der indessen nicht bewirkt, dass dem Sachbearbeiter alle fallübergreifenden Tatsachen als bekannt zuzurechnen wären.

    Zwar hat der BFH in seinem Urteil vom 14. November 2007 XI R 48/06, BFH/NV 2008, 367, geäußert, dass unter Umständen jenes Falles ein nachträgliches Bekanntwerden nur dann nicht vorgelegen hätte, wenn vor Erlass der erstmaligen Steuerbescheide der Vorsteher des Finanzamts positive Kenntnis der maßgeblichen Tatsache erlangt hätte oder wenn derselbe Sachgebietsleiter für beide Veranlagungsbezirke zuständig gewesen wäre und positive Kenntnis erlangt hätte. Daraus lässt sich für den hier zu entscheidenden Fall indessen nicht ableiten, dass sich das Finanzamt umgekehrt in jedem Fall die Kenntnis des Sachbearbeiters von „fallübergreifenden” Tatsachen zurechnen lassen müsste.

    1.1.1.3 Eine andere Beurteilung kann sich nur unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Amtsermittlungspflicht ergeben. Denn es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BFH und der herrschenden Meinung, dass der Grundsatz von Treu und Glauben (vgl. § 242 BGB) es dem Finanzamt verbietet, unter Berufung auf das nachträgliche Bekanntwerden einer Tatsache einen Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu erlassen, wenn dem Finanzamt die Tatsache vor dem Erlass des zu ändernden Steuerbescheids infolge einer Verletzung der ihm obliegenden Ermittlungspflicht aus § 88 Abs. 1 AO (zunächst) verborgen geblieben ist (siehe zum Beispiel BFH vom 30. Juni 2003 IX B 121/02, juris; BFH vom 14. November 2007 XI R 48/06, BFH/NV 2008, 367; Rüsken in Klein, AO, 10. Aufl. 2009, § 173, Rz. 80 f., jeweils mit weiteren Nachweisen der BFH-Rechtsprechung).

    Eine Verletzung der aus § 88 Abs. 1 AO folgenden Amtsermittlungspflicht kann dem Beklagten nicht entgegengehalten werden. Denn es bestand im vorliegenden Fall keine besondere Veranlassung für den Sachbearbeiter, die Steuerakten des Sohnes bei der Bearbeitung der von der Klägerin und ihrem Ehemann eingereichten Einkommensteuererklärung beizuziehen, um die Angaben zu überprüfen. Denn die Angaben zu den Unterhaltsaufwendungen waren aus sich heraus nachvollziehbar, so dass eine besondere Überprüfung nicht angezeigt war.

    Insbesondere musste der Sachbearbeiter nicht wegen der von der Klägerin mitgeteilten Familienverhältnisse des Sohnes und dessen geringer Einkünfte die Überlegung anstellen, dass dieser mitgeteilte Betrag nicht ausreichen konnte, um das Existenzminimum einer vierköpfigen Familie sicherzustellen. Denn Unterhaltsaufwendungen hatten die Klägerin und ihr Ehemann lediglich für ihren Sohn, dem gegenüber sie aus § 1601 BGB grundsätzlich unterhaltsverpflichtet sind, gemäß § 33a EStG geltend gemacht. Für die Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 33a EStG erfüllt waren, war es nicht erforderlich, die gesamten Familienverhältnisse des Sohnes zu überprüfen und entsprechende Ermittlungen anzustellen.

    1.1.2 Die Tatsache führt auch zu einer höheren Einkommensteuer.

    Denn nach § 33a Abs. 1 Satz 1 EStG wird auf Antrag die Einkommensteuer eines Steuerpflichtigen dadurch ermäßigt, dass ihm im Streitjahr 13.500 DM im Kalenderjahr vom Gesamtbetrag der Einkünfte (§ 2 Abs. 3 EStG) abgezogen werden, wenn ihm Aufwendungen für den Unterhalt einer gesetzlich unterhaltsberechtigten Person – im Streitfall der Sohn der Klägerin – erwachsen. Allerdings vermindert sich der Betrag von 13.500 DM um den Betrag, um den die Einkünfte und Bezüge der unterhaltenen Person, welche zur Bestreitung des Unterhalts geeignet und bestimmt sind, den Betrag von 1.200 DM im Kalenderjahr übersteigen (§ 33a Abs. 1 Satz 4 EStG).

    Da die eigenen Einkünfte des Sohnes ursprünglich nur in Höhe von 7.762 DM berücksichtigt wurden, letztlich aber tatsächlich 9.580 DM anzurechnen waren, konnten statt der ursprünglich geltend gemachten und berücksichtigten Unterhaltsaufwendungen in Höhe von 6.938 DM lediglich 3.920 DM als außergewöhnliche Belastung anerkannt werden. Hieraus ergab sich eine gegenüber der ursprünglichen höhere Einkommensteuerfestsetzung.

    1.2 In Bezug auf die Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte liegen die Voraussetzungen für eine Korrektur des Ausgangsbescheids nach § 129 AO vor.

    1.2.1 Nach § 129 AO können Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind, jederzeit berichtigt werden. „Ähnliche offenbare Unrichtigkeiten” sind einem Schreib- oder Rechenfehler ähnliche mechanische Versehen. Sie können beispielsweise bei Eingabe- oder Übertragungsfehlern vorliegen. So können Fehler bei Eintragungen in Eingabewertbögen für die automatische Datenverarbeitung als rein mechanische Versehen ähnliche offenbare Unrichtigkeiten sein, etwa beim Übersehen notwendiger Eintragungen (siehe zum Beispiel BFH vom 1. Juli 2010 IV R 56/07, juris).

    Bei der erstmaligen Veranlagung hat der Sachbearbeiter offenkundig übersehen, dass der verstorbene Ehemann der Klägerin von seinem Arbeitgeber pauschalversteuerten Aufwendungsersatz für die beruflich veranlassten Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte erhalten hat, obwohl dies aus der der Einkommensteuererklärung beigefügten Lohnsteuerkarte ohne weiteres ersichtlich war. Die Klägerin und ihr Ehemann hatten zwar die hierfür vorgesehene Zeile 39 in Anlage N zur Einkommensteuererklärung nicht ausgefüllt, jedoch ist nicht ersichtlich, dass der Sachbearbeiter insoweit den Fahrtkostenersatz des Arbeitgebers aufgrund eines die Berichtigung nach § 129 AO ausschließenden Tatsachen- oder Rechtsirrtums unberücksichtigt ließ. Für einen solchen Tatsachen- oder Rechtsirrtum besteht nicht der geringste vernünftige Grund. Im Gegenteil: Die offenbare Unrichtigkeit ist so offenkundig, dass sie jeglichen begründeten Zweifel hieran ausschließt.

    1.2.2 Die Anwendungspraxis und die ergangene Rechtsprechung zu § 129 AO begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sämtliche Prozessordnungen und Verwaltungsverfahrensgesetze sehen die Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten vor. Dabei ist das Vertrauen in den Fortbestand eines offenbar unrichtigen Verwaltungsaktes nicht schutzwürdig, und zwar um so weniger, als die Klägerin und ihr Ehemann selbst die Eintragung des pauschalversteuerten Fahrtkostenersatzes wissentlich und willentlich unterlassen haben, wie die Bevollmächtigte der Klägerin in der mündlichen Verhandlung eindrucksvoll schilderte. Die Kollision der Gesetzmäßigkeit und des Vertrauensschutzes sowie der Rechtsicherheit darf und muss hier gerade zu Gunsten der Gesetzmäßigkeit aufgelöst werden.

    Denn dem Vertrauensschutz gebührt nicht grundsätzlich Vorrang vor dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit. Bei offenbaren, also gerade eindeutigen und nachvollziehbaren Fehlern ist dem Grundsatz der materiellen Richtigkeit Vorrang vor Vertrauensschutzerwägungen zu gewähren.

    Hierin ist gerade kein Verstoß gegen das aus Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Rechtsstaatsprinzip zu sehen. Denn der Vertrauensschutz ist hier gerade wegen der Offenkundigkeit der Fehler eingeschränkt, auch wenn die Fehler auf Unachtsamkeit; Flüchtigkeit, Gedankenlosigkeit oder ähnlichem beruhen.

    Zwar darf der Bürger darauf vertrauen, dass auch im Massenverfahren hoheitliche Aufgaben ordnungsgemäß wahrgenommen werden und gerade nicht oberflächlich und gedankenlos gehandelt wird. Der Rechtsfrieden und die Rechtsicherheit sind hier aber zu Gunsten der Gesetzmäßigkeit einzuschränken, da es wegen der Voraussetzung der offenbaren Unrichtigkeit in § 129 AO zwangsläufig zu einer Einschränkung des Vertrauensschutzes kommt. Abgesehen davon sieht der Senat auf Seiten der Klägerin kein schutzwürdiges Vertrauen, das einer Korrektur entgegenstehen würde. Denn einerseits hat die Klägerin im Verfahren betont, dass sie in steuerrechtlicher Hinsicht Laie sei, andererseits hat sie jedoch ihrer Einkommensteuererklärung in Bezug auf den Fahrtkostenersatz eine fehlerhafte Rechtsauffassung zugrunde gelegt, ohne fachkundigen Rat einzuholen.

    2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO

    3. Der Senat hat die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. FGO zur Rechtsfortbildung zugelassen.

    Denn die hier entscheidungserhebliche Rechtsfrage war bislang noch nicht Gegenstand der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Es handelt sich um die Rechtsfrage, ob das Finanzamt sich im Rahmen der Änderung wegen so genannter neuer Tatsachen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 FGO auch die Kenntnis des zur Bearbeitung des Falles berufenen Amtsträgers von solchen Tatsachen zurechnen lassen muss, die sich aus den Steuerakten eines anderen Steuerpflichtigen ergeben, die aber gleichwohl für die Besteuerung des von dem Änderungsbescheid betroffenen Steuerpflichtigen von Bedeutung sind. Bislang haben sich – soweit ersichtlich – nur das FG Düsseldorf (Urteil vom 31. Oktober 1991 14 K 185/87 E, juris) und das FG Köln (Urteil vom 13. März 2003 6 K 5158/99, EFG 2003, 1060) zu dieser Frage explizit geäußert (vgl. auch von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 173 AO, Rz. 56.4). Der BFH hat insoweit lediglich – noch unter Geltung der RAO – entschieden, dass das Wissen der für die Körperschaftsteuerveranlagung zuständigen Dienststelle bereffend eine GmbH gegenüber dem für die Einkommensteuerveranlagung zuständigen Bezirk betreffend die Alleingesellschafterin unbeachtlich ist (BFH vom 1. Dezember 1967 VI 379/65, BStBl II 1968, 145; vgl. auch von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 173 AO, Rz. 185).

    VorschriftenAO § 173 Abs. 1 Nr. 1, AO § 88, AO § 129, GG Art. 20 Abs. 3