22.12.2010
Finanzgericht Thüringen: Urteil vom 26.04.2010 – 2 K 462/08
1. Werden bei einer Pkw-Kontrolle des HZA 760 Zigaretten mit polnischem Steuerzeichen aufgefunden, die von der Fahrzeugführerin, deren Großeltern und deren Vater in das Verbrauchsteuergebiet eingeführt wurden, erfolgt die Sicherstellung zu Unrecht, wenn die für den Eigenerwerb erworbenen Zigaretten im Rahmen der Freimenge abgabenfrei in das Verbrauchsteuergebiet eingeführt werden konnten.
2. Das von Art. 8 der Systemrichtlinie in § 20 Abs. 4 S. 1 TabStG übernommene Tatbestandsmerkmal „Eigenbedarf” ist nicht auf den Erwerb zum persönlichen Ver- oder Gebrauch beschränkt, sondern umfasst auch den Eigenbesitz, der beim Erwerb von Sachen zum Verschenken oder zum Teilen mit Familienangehörigen und Freunden zunächst erfolgen muss, damit die Waren überhaupt verschenkt oder verbraucht werden kann.
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Verfahren
hat der II. Senat des Thüringer Finanzgerichts am 26. April 2010 für Recht erkannt:
1. Der Sicherstellungsbescheid vom 27.11.2007, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.04.2008, wird aufgehoben.
2. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der erstattungsfähigen Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Gegenstand der Klage ist eine Sicherstellungsverfügung.
Die in München wohnende Klägerin besuchte ihre Großeltern in K-Stadt. Auf der Rückreise fanden Beamte des Hauptzollamtes (HZA) bei einer Kontrolle ihres Fahrzeugs auf der BAB 72 am 27.11.2007 insgesamt 760 Stück Zigaretten mit polnischen Steuerzeichen, von denen das Hauptzollamt mit Bescheid vom selben Tag insgesamt 560 Stück Zigaretten im Aufsichtswege gem. § 215 der Abgabenordnung (AO) i. V. m. §§ 19, 20 Abs. 1 und 4 Tabaksteuergesetz (TabStG) sicherstellte. Die Nacherhebung der hierauf ruhenden Abgaben führte das Hauptzollamt nicht durch.
Ihren im Ergebnis erfolglosen Einspruch gegen die Sicherstellung begründete die Klägerin im Wesentlichen mit nachstehender, von ihrem Vater und ihren Großeltern bestätigten Sachverhaltsschilderung: Sie seien alle am 26.11.2007 über den Grenzübergang Gastrose nach Polen gefahren. Dort habe jeder von ihnen eine Stange Zigaretten gekauft. Die anderen Zigarettenstangen seien ihr dann vor der Rückfahrt nach München geschenkt worden, da sie keinen Weihnachtsbesuch habe machen können. Auf der Heimreise sei sie auf der A 72 von Zollbeamten angehalten worden. Von den Zigaretten habe sie zu diesem Zeitpunkt noch 3 Stangen und 8 Schachteln Zigaretten bei sich gehabt (2 Stangen Pall Mall, 1 Stange Marlboro und 8 Schachteln Pall Mall). Die Zigaretten seien für ihren Eigenbedarf und nicht für gewerbliche Zwecke gedacht gewesen, was sie gegenüber den Beamten auch mehrfach abgegeben habe.
Die Einspruchsentscheidung vom 25.04.2008, zur Post gelangt am 05.05.2008, begründete der Beklagte im Wesentlichen damit, nur 200 Stck. Zigaretten seien gem. § 20 Abs 4 Satz 1 des TabStG steuerfrei. Die Klägerin habe die Pflicht gehabt, über die Tabakwaren ohne deutsche Steuerzeichen, soweit die Freimenge von 200 Stck. Zigaretten überschritten worden sei, unverzüglich bei Grenzübertritt, jedoch spätestens vor Beginn der Kontrolle eine Steueranmeldung abzugeben. Dem sei sie gegenüber den anwesenden Beamten nicht nachgekommen. Ihre Darstellung zum Verbringen der Zigaretten sei als Schutzbehauptung zu bewerten. Die Bestätigungen der Großeltern und ihres Vaters seien unbeachtlich, weil die Klägerin am 27.11.2007 mit der Gesamtmenge von 760 Stück Zigaretten festgestellt worden sei. Die 560 Stck. Zigaretten würden nach § 19 i. V. m. § 20 Abs. 4 Satz 2 TabStG als zu gewerblichen Zwecken verbracht gelten und unterlägen folglich der Sicherstellung nach § 215 AO.
Gegen die Einspruchsentscheidung hat die Klägerin mit einer bei Gericht am 30.05.2008 eingegangenen Klageschrift, in der sie ihre Sachverhaltsschilderung aus der Einspruchsbegründung wiederholt, Klage erhoben. Sie ist der Auffassung, die Voraussetzungen für eine Sicherstellung nach § 215 AO seien nicht erfüllt. Es läge kein Verstoß gegen §§ 19 und 20 TabStG vor. Nicht nur ihr habe die Einfuhr von 200 Stck. Zigaretten freigestanden, sondern auch ihrem Vater und ihren Großeltern. Der Vorwurf des gewerblichen Zwecks sei unhaltbar. Denn die Zigaretten seien nicht zu kommerziellen Zwecken, sondern ausschließlich für ihren privaten Konsum bestimmt gewesen. Im Übrigen führe die Rechtsauffassung des Beklagten dazu, dass alle innerhalb der Reisefreimengen eingeführten Waren an den Einführer gebunden seien. Dies verstoße gegen den Gleichheitssatz und gegen geltendes EU-Recht.
Die Klägerin beantragt,
den Sicherstellungsbescheid vom 27.11.2007, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.04.2008, aufzuheben.
Das Hauptzollamt beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die der Klägerin geschenkten Zigaretten seien von der Abgabenbefreiung des § 20 Abs. 4 TabStG ausgenommen. Waren dienten nur dem Eigenbedarf, wenn sie dazu bestimmt seien, den persönlichen Bedarf derjenigen Privatperson zu decken, die sie erworben habe. Dies sei nicht der Fall, wenn Waren auch oder ausschließlich für den Bedarf anderer Privatpersonen erworben würden (z. B. bei Geschenken). Dies folge aus dem Urteil C-5/05 vom 23.11.2006 des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (– EuGH –, Sammlung der Rechtsprechung – Slg – 2006, I-11075). Danach sei der Begriff „Eigenbedarf” in Art. 8 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25.02.1992 (ABl. L 76, S. 1 – Systemrichtlinie –), in der durch die Richtlinie 92/108/EWG des Rates vom 14.12.1992 (ABl. L 390, S. 124) geänderten Fassung, nach dem Wortlaut der Vorschrift so zu verstehen, dass die Waren dazu bestimmt sein müssen, den persönlichen Bedarf der Privatperson, die sie erworben hat, zu decken. Folglich seien Waren von der Abgabenfreiheit ausgeschlossen, die von Privatpersonen erworben werden, um den Bedarf anderer Personen zu decken. Denn der Besitz an den letztgenannten Waren könne nämlich nicht als Besitz angesehen werden, der für die Privatperson, die diese Waren erworben habe, rein persönlichen Charakter habe.
Im Streitfall unterlägen die von den Großeltern und dem Vater der Klägerin in das Verbrauchsteuergebiet verbrachten 560 Stck. Zigaretten deshalb auf jeden Fall der Sicherstellung nach § 19 TabStG i.V.m. § 215 AO, da diese nicht zum Eigenbedarf, sondern zum Bedarf der Klägerin erworben worden seien. Insoweit habe den Großeltern und dem Vater der Klägerin keine Freimenge nach § 20 Abs. 4 TabStG zugestanden.
Mit Beschluss vom 14.09.2009 hat der Senat den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 FGO auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO. Der Beklagte durfte die angefochtene Sicherstellungsverfügung gegenüber der Klägerin nicht erlassen, da die Zigaretten im Rahmen der Freimenge abgabenfrei in das Verbrauchsteuergebiet eingeführt worden waren.
Nach § 19 Satz 4 TabStG i. V. m. § 215 AO sind Tabakwaren, die unzulässigerweise entgegen § 12 Abs.1 TabStG, d. h. ohne Entwertung und Anbringung von Steuerzeichen, aus dem freien Verkehr anderer Mitgliedstaaten zu gewerblichen Zwecken in das Steuergebiet verbracht wurden, sicherzustellen. Im Streitfall unterlag die Einfuhr der Zigaretten der in diesem Zeitpunkt noch für Einfuhren aus der Republik Polen geltenden Mengenbeschränkung des § 20 Abs. 4 Satz 1 Buchstabe a TabStG. Hiernach waren nur insgesamt 200 Zigaretten, die Privatpersonen bis zum 31.12.2008 in der Republik Polen im freien Verkehr für ihren Eigenbedarf erwarben und selbst in das Steuergebiet verbrachten, steuerbefreit.
Unstreitig stammen die im PKW der Klägerin aufgefundenen Zigarettenpackungen aus dem freien Verkehr der Republik Polen. Ebenso unstreitig übersteigen die bei der Klägerin sichergestellten Zigaretten die damals für sie geltende Freigrenze des § 20 Abs. 4 Satz 1 Buchstabe a TabStG. Gleichwohl sind die Voraussetzungen für die Sicherstellung im Streitfall nicht erfüllt. Denn die Zigaretten sind entgegen der Auffassung des HZA im Rahmen der Freimengenregelung des § 20 Abs. 4 Satz 1 Buchstabe a TabStG durch die Klägerin, ihre Großeltern und ihren Vater in das Verbrauchsteuergebiet eingeführt worden. Die Vorschrift ist die Umsetzung des Art. 8 der Systemrichtlinie in das nationale Tabaksteuergesetz. Nach Art. 8 der Systemrichtlinie werden für Waren, die Privatpersonen für ihren Eigenbedarf erwerben und die sie selbst befördern, die Verbrauchsteuern nach den Grundsätzen des Binnenmarktes im Erwerbsmitgliedstaat erhoben. Entgegen der vom HZA vertretenen Auslegung des in § 20 Abs. 4 Satz 1 TabStG übernommenen Tatbestandsmerkmals „Eigenbedarf”, ist die Abgabenfreiheit nicht ausschließlich auf den persönlichen Veroder Gebrauch der Ware beschränkt. Eine solche Auslegung finde keine Stütze in Art 8 der Systemrichtlinie und ist auch im Hinblick auf die Erfordernisse des Binnenmarktes nicht angezeigt, da nur Einfuhren mit gewerblichem Charakter ausdrücklich von der Abgabenfreiheit ausgeschlossen werden sollen. Insbesondere ist die limitierende Auslegung nicht nach dem Urteil des EuGH C-5/05 vom 23.11.2006 (a.a.O.) zwingend. Dem Urteil lag der Sachverhalt zugrunde, dass eine Person im Namen einer Gruppe verbrauchsteuerpflichtigen Wein und Schaumwein für ihren Eigenbedarf und für den Eigenbedarf der übrigen Gruppenmitglieder in Frankreich erworben und sich nach Holland hatte liefern lassen. Dort wurde die Ware unter anteiliger Entrichtung des Kauf- und Frachtpreises zwischen den Bestellern verteilt. Ausgehend von diesem Sachverhalt definiert der EuGH den Begriff „Eigenbedarf” in Art 8 der Systemrichtlinie so, dass die Waren dazu bestimmt sein müssen, den persönlichen Bedarf der Privatperson, die sie erworben hat, zu decken. Ausgeschlossen von der Abgabenfreiheit seien hingegen solche Waren, die von Privatpersonen erworben werden, um den Bedarf anderer Personen zu decken. Denn der EuGH sieht den Besitz an den letztgenannten Waren nicht als Besitz an, der für die Privatperson, die diese Waren erworben hat, rein persönlichen Charakter hat (EuGH-Urteil C-5/05 vom 23.11.2006, a.a.O., Rd. 35).
Erkennbar ist damit der Erwerb von Waren in der Absicht Fremdbesitz an ihnen zu begründen, nicht von Art. 8 der Systemrichtlinie erfasst. Hiervon zu unterscheiden und abweichend zu behandeln ist demgegenüber der Eigenbesitz, der – wie hier – beim Erwerb von Sachen zum Verschenken oder zum Teilen mit Familienangehörigen und Freunden zunächst erfolgen muss, damit die Waren überhaupt verschenkt oder verbraucht werden können. Insoweit geht „Eigenbesitz” dem Merkmal „Eigenbedarf” begriffsnotwendig voraus. Ansonsten wäre nach einem ausschließlich am persönlichen Ver- und Gebrauch ausgerichtetem Verständnis des Tatbestandmerkmals „Eigenbedarf” ein abgabenfreier Verbrauch nur durch den Erwerber selbst zulässig. In letzter Konsequenz dürften dann Zigaretten, Sekt und Spirituosen vom Einführer nicht mit seinen Familienmitgliedern oder Freunden geteilt werden. Das widerspricht aber einer „vernünftigen” Auslegung (vgl. Fußnote 27 der Schlussanträge des Generalanwalts Francis G. Jacobs vom 01.12.2005 C-5/05).
Dieses Verständnis des Begriffs „Eigenbedarf” ist auch im Hinblick auf die Regelungen der Verordnung über die Einfuhrabgabenfreiheit von Ware im persönlichen Gepäck von Reisenden (Einreise-Freimengen-Verordnung) naheliegend. Danach können Waren, die für den „persönlichen Ge- oder Verbrauch” bestimmt sind, in den in der Verordnung bestimmten Mengen abgabenfrei aus Nicht-Eu-Staaten eingeführt werden. Zum persönlichen Ge- oder Verbrauch zählen danach insbesondere Reisemitbringsel, die als Geschenk bestimmt sind (vgl. zu den Reisefreigrenzen bei Einreise aus Ländern außerhalb der Europäischen Union:
http://www.zoll.de/e0_downloads/d0_veroeffentlichungen/z4_reisefreimengen_ausse rhalb_eu.pdf).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung. Für die Zulassung der Revision sieht das Gericht keinen Anlass, § 115 Abs. 2 FGO, da die Vorschrift des § 20 Abs. 4 TabStG auslaufendes Recht ist.