09.12.2010
Finanzgericht Münster: Urteil vom 02.09.2010 – 5 K 1129/05 U
Eine Ausnahme zum Grundsatz der Steuerfreiheit innergemeinschaftl. Lieferungen besteht dann, wenn die im Bestimmungsland vorgesehene Besteuerung der konkreten Lieferung nach dem übereinstimmenden Willen von Unternehmer u. Abnehmer durch Verschleierungsmaßnahmen und falsche Angaben gezielt umgangen werden soll, um den Beteiligten einen ungerechtfertigten Steuervorteil zu verschaffen.
Im Namen des Volkes
URTEIL
In dem Rechtsstreit
hat der 5. Senat in der Besetzung: Vorsitzender Richter am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht … Richterin am Finanzgericht … ehrenamtlicher Richter … ehrenamtliche Richterin … auf Grund mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 02.09.2010 für Recht erkannt:
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Voraussetzungen für die Steuerfreiheit von innergemeinschaftlichen Lieferungen vorliegen.
Die Klägerin (Klin.) betreibt einen Großhandel mit Reifen. Für das Streitjahr 2001 wurden von ihr in der USt-Erklärung innergemeinschaftliche Lieferungen in Höhe von insgesamt 13.274.972,00 DM (= 6.787.385,71 EUR) erklärt. In ihrer zusammenfassenden Meldung für 2001 hat sie demgegenüber insgesamt 13.607.235,00 DM (= 6.957.269,00 EUR) angegeben, von denen 880.045,00 EUR nach Österreich, 5.961.629,00 EUR nach Belgien und 115.594,00 EUR in die Niederlande geliefert worden sein sollen.
Es bestehen Erkenntnisse über die Empfänger von innergemeinschaftlichen Lieferungen wie folgt:
E1
Die Firma E1 bvba (= GmbH belgischen Rechts, andere Schreibweise: E2) wurde 1995 gegründet und hieß ursprünglich R bvba. Die Gesellschaftsanteile wurden von N und C erworben, die die Gesellschaft in E1 bvba umfirmierten. N und C wurden mit Strafurteil vom 22.02.2002 des Landgerichts O neben weiteren Personen u. a. wegen Mehrwertsteuerbetrug (Beteiligung an USt-Karussellen) und Urkundenfälschung verurteilt. Das Strafgericht stellte fest, dass die formell als Geschäftsführerin der E1 benannte, in Tunesien wohnende M E1 nur Strohfrau war, N und C als Geschäftsführer auftraten und der Erwerb der E1 zum Zwecke des Betriebs eines USt-Karussells erfolgt ist. C hat im Strafverfahren zugegeben (Bl. 67 des Strafurteils), dass die E1 als Scheinfirma fungiert hat. Die E1 hat nach den Feststellungen des Strafgerichts O für die Vorauszahlungszeiträume Januar bis Mai 2001 keine USt-Voranmeldungen abgegeben und auch keine Zahlungen auf USt-Verbindlichkeiten geleistet. Der belgische Staat macht gegen C Forderungen in Höhe von 7.661.716,87 EUR geltend, die – wegen fehlender Aufschlüsselung – nur in Höhe von 1,00 EUR vom Strafgericht O zugesprochen worden sind. Der registrierte Geschäftszweck der E1 lautete auf „Süßwarenfabrik, Großhandel mit Zucker, Süßwaren, Schokolade”. Das Unternehmen hatte keine Mitarbeiter. Es wurde im April 2002 „von der Mehrwertsteuer-Verwaltung gestrichen”.
Die Klin. führte in der Zeit vom 23.01.2001 bis 14.05.2001 insgesamt elf Mal Bestätigungsverfahren nach § 18 e UStG beim Bundesamt für Finanzen hinsichtlich der Firma E1 zur USt-ID-Nr. 123 mit dem Ergebnis durch, dass die soeben genannte USt-ID-Nr. als ungültig bezeichnet wurde. Erstmals am 06.06.2001 wurde die Gültigkeit der USt-ID-Nr. vom Bundesamt für Finanzen bestätigt. Weitere Bestätigungen der Gültigkeit der USt-ID-Nr. erfolgten unter dem 22.06.2001 und 19.07.2001. Bei den Steuerakten befindet sich eine Vollmacht der E1 für C vom 12.04.2001. Diese Vollmacht soll von „E1.B.” unterzeichnet sein. Im Zeitraum 04.05.2001 bis 19.06.2001 berechnete die Klin. nach Ermittlungen des USt-Sonderprüfers insgesamt Lieferungen in Höhe von 3.509.636,00 DM (= 1.794.448,00 EUR) an die Firma E1, D-straat …, B-1000 Brüssel. Im 4. Quartal 2001 buchte die Klin. einen negativen Umsatz in Höhe von 312.414,00 DM (= 159.734,74 EUR), weil Forderungen in dieser Höhe nicht erfüllt worden sein sollen. Die Klin. stellte der E1 die gelieferten Reifen ohne Mehrwertsteuerausweis in Rechnung. Die Rechnungen weisen die Lieferadressen aus, aber enthalten keinen Hinweis auf die USt-Freiheit gemäß § 6 a UStG. Die Klin. hat Lieferscheine bzw. „Leveringsbons” vorgelegt. Auf den Leveringsbons ist der Erhalt der Ware jeweils quittiert. Im Jahreskonto 16006 der Klin. waren Umsätze in Höhe von insgesamt 3.687.963,21 EUR verzeichnet.
Die Klin. trug mit Schriftsatz an den Beklagten (Bekl.) vom 06.01.2004, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, vor, ihr erster Kontakt mit der Firma E1 sei im April 2001 erfolgt. Der Fahrer der Klin. habe C bei einem anderen Kunden getroffen und ihm die Telefonnummer des Geschäftsführers der Klin. gegeben. Der Geschäftsführer der Klin., Herr G, habe dann mit C telefoniert und einen Termin in Brüssel vereinbart. Herr G sei zum privaten Wohnsitz des Herrn C in U gefahren. Es seien alle Kontakte zur E1 über C gelaufen. Die Lieferungen seien im Auftrag von C an andere Reifenhändler erfolgt, bei denen immer C angetroffen worden sei. Die gelieferten Reifen seien von der Klin. teilweise von einer Firma H in X und teilweise von einer Firma Q in Österreich gekauft und dann nach Belgien exportiert worden. Die zunächst gezahlte Mehrwertsteuer sei sodann erstattet worden. In einer schriftlichen Stellungnahme vom 28.10. / 13.11.2003 an das Bundesamt für Finanzen, auf die Bezug genommen wird, erklärte die Klin., die Auslieferungen der Ware nach Belgien seien ab der Betriebsstätte in Neuss, wo sich das Lager der Klin. befinde, erfolgt. Die Lieferungen seien ausnahmslos durch den eigenen Lkw der Klin. erfolgt. In Belgien sei immer C angetroffen worden.
J bvba, USt-ID-Nr. 456
Diese Firma (GmbH belgischen Rechts) wurde am 14.01.2000 gegründet. Gesellschafter war C. Der angegebene Gesellschaftszweck war der Handel mit Kraftfahrzeugen. Die Klin. stellte am 26.01.2001 und 08.02.2001 einfache Bestätigungsanfragen beim Bundesamt für Finanzen, die die USt-ID-Nr. bestätigt haben. Die Klin. hatte seit Mai 2000 Geschäftsbeziehungen mit J. Im Streitjahr 2001 sind keine Lieferungen der Klin. an J abgerechnet worden. Den Rechnungen an A (s. u.) waren aber Lieferscheine der J beigefügt. Rechnungen an J und A wurden teilweise zusammen bezahlt. Das Strafgericht in O hat in seinem Urteil vom 22.02.2002, auf das insoweit Bezug genommen wird, festgestellt, dass die J mit der Firma E1 in ein USt-Karussell eingebunden war. Handelnde Personen waren insbesondere C und N.
A bvba, O, USt-ID-Nr. BE 789
Dieses Unternehmen (GmbH belgischen Rechts; im Folgenden: A) wurde am 23.09.1993 gegründet. Als Gesellschaftszweck war der Großhandel mit Textilien angegeben. Die Klin. hat in ihren Aufzeichnungen (Jahreskonto 12007) im Zeitraum 01.01.2001 bis 30.04.2001 Lieferungen an die A in Höhe von insgesamt 7.634.185,41 DM (= 3.903.297,02 EUR) verzeichnet. Die Klin. hat im Streitjahre 2001 zehn Mal einfache Bestätigungsabfragen beim Bundesamt für Finanzen durchgeführt, die die Gültigkeit der USt-ID-Nr. bestätigt haben. Geschäftsführer der A waren nach den Feststellungen des Strafgerichts O im Urteil vom 22.02.2002 (Bl. 80), auf das insoweit Bezug genommen wird, C und ein K. Das Strafgericht O stellte außerdem fest, dass die A in ein Mehrwertsteuer-Karussell eingebunden war, das C und K mit weiteren Personen organisiert hatten und das weitere Firmen umfasste. Den Rechnungen der Klin. an A waren teilweise Lieferscheine der J beigefügt. Die Rechnungen wurden überwiegend von der Firma E1 oder C bezahlt. Feststellungen zum Abgabe- und Zahlungsverhalten der A und zur Versteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs der Reifen durch die A enthält das Strafurteil nicht.
Die Klin. erklärte am 20.06.2002 für das Streitjahr 2001 eine USt in Höhe von ./. 1.221.613,20 DM (./.624.600,91 EUR). Dieser Erklärung stimmte der Bekl. zunächst zu. In 2003 begannen eine USt-Sonderprüfung und Ermittlungen des Finanzamts für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung I bei der Klin. für das Streitjahr 2001. Im Februar 2004 erging ein Teilbericht der USt-Sonderprüfung, in dem der Prüfer feststellte, dass die Lieferungen an die Firma E1 nicht steuerbefreit seien. Er erhöhte die steuerpflichtigen Umsätze zu 16 % um netto 2.756.225,00 DM und verminderte die steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen um 3.197.222,00 DM auf nunmehr 10.077.750,00 DM. Es wird auf Tz 14 a, 15 des o. g. Außenprüfungsberichts Bezug genommen.
Der Bekl. änderte nach Maßgabe des Außenprüfungsberichts die USt-Festsetzung für 2001 und setzte die USt auf ./. 780.618,00 DM (./.399.123,65 EUR) fest. Der Änderungsbescheid vom 01.03.2004 stand weiterhin unter Vorbehalt der Nachprüfung (VdN). Der dagegen von der Klin. eingelegte Einspruch war erfolglos (Einspruchsentscheidung – EE – vom 08.02.2005). Die EE wurde am 14.02.2005 vom Bekl. mit einfachem Brief versandt.
Dagegen richtet sich die Klage vom 14.03.2005.
Während des Klageverfahrens erfolgte eine weitere USt-Sonderprüfung für 2000 und 2001. Die Prüfer erkannten nunmehr sämtliche von der Klin. erklärten innergemeinschaftlichen Lieferungen nicht mehr an. Die Prüfer verminderten die steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen um 10.077.750,00 DM (= 5.152.671,76 EUR) und erhöhten die steuerpflichtigen Umsätze zu 16 % um netto 8.687.715,00 DM (= 4.441.958,15 EUR). Es wird wegen der Einzelheiten auf den Prüfungsbericht vom 29.12.2006 Bezug genommen. Der Bekl. erließ nach Maßgabe des Prüfungsberichts am 18.01.2007 einen Änderungsbescheid für USt 2001 und setzte die USt auf 609.417,00 DM (= 311.589,98 EUR) fest.
Mit weiterem Änderungsbescheid für 2001 vom 14.07.2010 wurde die USt auf 265.841,00 DM (135.922,34 EUR) festgesetzt. In diesem Änderungsbescheid wurde nur noch die Steuerfreiheit der Lieferungen an A und E1 nicht anerkannt. Die anderen von der Klin. erklärten innergemeinschaftlichen Lieferungen wurden als steuerfrei behandelt.
Die Klin. begründet ihre Klage wie folgt:
Sie unterhalte kein eigenes Lager, sie habe die Reifen auftragsbezogen von den Lieferanten H in X und Q in Österreich bezogen. Die Reifen seien von der Klin. mit eigenem Lkw bei den Vorlieferanten abgeholt und unmittelbar zu der vom Käufer benannten Lieferadresse befördert worden. Manchmal, wenn die Erwerbe in mehreren Chargen erfolgt seien, seien die einzelnen Chargen in S zwischengelagert und dann zusammen mit der letzten Charge an den belgischen Abnehmer befördert worden. Die Klin. habe somit Reihengeschäfte gemäß § 3 Abs. 6 S. 6 UStG getätigt. Sie habe die ruhende Lieferung ausgeführt, deren Ort sich nach § 3 Abs. 7 S. 2 Nr. 2 UStG bestimme. Der Leistungsort liege somit in Belgien, sodass die Lieferungen in Deutschland nicht steuerbar seien. Die jeweiligen Vorlieferer seien entgegen der Auffassung des Bekl. in die einzelnen Reihengeschäfte einbezogen worden. Die Klin. unterhalte nämlich kein Lager, von dem aus etwaige Lieferungen vorgenommen worden sein könnten. Die Waren seien vielmehr unmittelbar von den Vorlieferanten an die Empfänger weitergeliefert worden, was sich aus den Lieferscheinen ergebe. Auf eine Kenntnis der Vorlieferer, dass die Ware unmittelbar einem Schlusskunden geliefert werde, komme es nicht an und diese Kenntnis sei oftmals auch nicht erwünscht, um Kundenbeziehungen nicht offen zu legen. Die Vorlieferanten der Klin. hätten die USt zu Recht offen ausgewiesen, sodass der Vorsteuerabzug der Klin. nicht zu beanstanden sei.
Aber auch wenn steuerbare Lieferungen angenommen würden, sei Steuerfreiheit gegeben. Die erforderlichen Buchnachweise seien erbracht bzw. es könne Vertrauensschutz gemäß § 6 a Abs. 4 UStG in Anspruch genommen werden. Der von der Klin. mit Schriftsatz an das Bundesamt für Finanzen vom 28.10. / 13.11.2003, S. 2 und 3 dargestellte Sachverhalt, dass die Auslieferung der Waren durch eigenen Lkw auf Kosten der Klin. nach Belgien erfolgt sei, sei auch dem USt-Sonderprüfer mitgeteilt worden. Dieser Umstand habe offenbar zu der Auffassung des Bekl. im Bericht vom 16.02.2004 geführt, dass die Klin. ohne einen eigenen Lagerplatz zu unterhalten, einen Großhandel mit Reifen unterhalten habe. Die Angabe im o. g. Schreiben, dass die Auslieferung der Waren ab der Betriebsstätte der Klin. in S erfolgt sei, wo sich auch das Lager befunden habe, sei zu ergänzen. In dem Lager in S, das auf dem Gelände eines anderen Unternehmens des Geschäftsführers der Klin. bestanden habe, seien nur in geringem Umfang Reifen in gängigen Größen vorgehalten worden. Bei größeren Bestellungen, wie sie durch die belgischen Abnehmer abgegeben worden seien, habe die Klin. die Reifen auftragsbezogen erworben. Soweit diese Erwerbungen in mehreren Chargen erfolgt seien, seien die einzelnen Chargen in S zwischengelagert und dann zusammen mit der letzten Charge an den belgischen Abnehmer befördert worden. Vereinzelt sei die Ware auch abgeholt worden.
Die Wohnanschrift des damaligen Fahrers der Klin., Y, sei der Klin. nicht bekannt. Der Ansprechpartner für die Lieferungen nach Belgien, C, habe angegeben, dass er Geschäftsführer von in Belgien ansässigen Reifeneinzelhandels- und – großhandelsgesellschaften sei. Das Großhandelsunternehmen sei J gewesen. Dieses Unternehmen habe die erworbenen Reifen weiter veräußert an belgische Abnehmer. Auf den Lieferscheinen der J seien daher die letzten Abnehmer der Ware angegeben. Nach der jüngeren höchstrichterlichen Rechtsprechung lägen die Voraussetzungen für die Anerkennung von innergemeinschaftlichen Lieferungen vor. Die in § 6 a Abs. 3 UStG, § 17 a ff UStDV geforderten Nachweise seien keine materiellen Voraussetzungen für innergemeinschaftliche Lieferungen mehr. Es sei vielmehr maßgeblich, ob nach der objektiven Beweislage feststehe, dass die Voraussetzungen des § 6 a Abs. 1 UStG vorlagen. Eine Besteuerung im Abgangsstaat scheide aus, wenn die Erfassung der Umsätze im Bestimmungsstaat erfolge. Aus dem Urteil des Strafgerichts O ergebe sich keine Beteiligung der Klin. an den von C betriebenen USt-Karussellen. Die Klin. sei insoweit weder Gehilfin noch Mittäterin gewesen. Die Straftaten seien für einen ordentlichen und gewissenhaften Kaufmann auch nicht erkennbar gewesen. Die Klin. habe auch nicht in stillem Einvernehmen mit dem Erwerber, C, an der Steuerhinterziehung mitgewirkt, geschweige denn einen „Unrechtspakt” mit ihm geschlossen. Durch die Verhängung der Strafen und die Feststellung des Haftungsanspruchs des belgischen Staates gegenüber den Tätern sei eine Verfolgung der steuerlichen Tatbestände in Belgien sichergestellt.
Wegen der Einzelheiten des Vortrags der Klin. wird auf ihre Schriftsätze vom 14.03.2005, 03.05.2005, 02.09.2005, 24.07.2006, 19.03.2007, 11.07.2008, 15.07.2008, 31.07.2008, 18.05.2009, 22.09.2009, 23.04.2010 Bezug genommen.
Die Klin. beantragt,
die USt 2001 auf ./. 624.600,01 EUR (= erklärungsgemäß) festzusetzen,
hilfsweise im Unterliegensfall,
die Revision zuzulassen.
Der Bekl. beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er meint, die Lieferanten der Klin. (z. B. die Firma H in X) seien nicht in Reihengeschäfte einbezogen, da sie nicht die Endabnehmer der Waren in Belgien gekannt hätten. Die Firma H und die Klin. hätten auch nicht die steuerlichen Folgen eines Reihengeschäfts gezogen. Als Reihengeschäft blieben neben der Klin. die von C beherrschten Unternehmen und die Letztabnehmer. Die bewegten Lieferungen seien der Klin. zuzurechnen. Da diese innergemeinschaftliche Lieferungen geltend mache, müsse sie die erforderlichen Nachweise beibringen. Aus dem Urteil des Strafgerichts O ergebe sich, dass C zusammen mit weiteren Personen USt-Karusselle betrieben habe. Die Voraussetzungen für innergemeinschaftliche Lieferungen nach Belgien hätten nicht vorgelegen. Die Klin. habe nach den Umständen aus dem Jahre 2000 von der betrügerischen Zwischenschaltung von Firmen gewusst bzw. hätte davon wissen müssen. So sei der häufige Wechsel von Firmennamen, die immer wieder vom selben Personenkreis betrieben worden seien, auffallend. Der häufige Wechsel habe auch zu Ungereimtheiten geführt. So seien Rechnungen an A Lieferscheine der J beigefügt gewesen. Die Rechnungen A trügen als Rechnungsnummer bereits im Januar 2001 die Bezeichnung „E”, obwohl die E1 erst im Mai beliefert worden sei. Rechnungen J und Z seien zusammen bezahlt worden. Gutschriften zu Rechnungen an F trügen die handschriftliche Ergänzung „A” oder wiesen „C” als Auftraggeber aus. Die Rechnungen an A seien überwiegend von C oder E1 bezahlt worden. Es sei häufig an die selben Endabnehmer geliefert worden, obwohl jeweils andere Firmen zwischengeschaltet worden seien.
Wegen der Einzelheiten des Vortrags des Bekl. wird auf seine Schriftsätze vom 17.08.2005, 01.03.2007, 28.08.2008, 03.03.2009, 19.03.2009, 17.08.2009, 14.07.2010 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist teilweise begründet.
Der Änderungsbescheid vom 14.07.2010 ist teilweise rechtswidrig und verletzt die Klin. in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 S. 1 FGO).
Im Hinblick auf die Umsätze nach Belgien sind die Lieferungen an E1 nicht als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen anzuerkennen. Die Lieferungen an A sind steuerfrei.
1.) Die Reifenlieferungen der Klin. sind im Inland steuerbar. Der Leistungsort ist nicht gemäß § 3 Abs. 7 Satz 2 Nr. 2 UStG in das Ausland verlagert worden. Die von der Klin. behaupteten Reihengeschäfte mit ihren Lieferanten (§ 3 Abs. 6 Satz 5, Abs. 7, § 25 b UStG) lagen zur Überzeugung des Senats nicht vor. Es fehlt an der „Unmittelbarkeit” der Beförderung vom ersten Unternehmer (Lieferant der Klin.) an den letzten Abnehmer. Die Klin. hat in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 28.10. / 13.11.2003 an das Bundesamt für Finanzen selbst vorgetragen, die Auslieferung der Waren sei vom Lager in S aus erfolgt. Diese Einlassung ist im Klageverfahren zwar mit Schriftsatz vom 15.07.2008 relativiert worden. Die Klin. behauptet im Klageverfahren, im Lager in S seien nur geringe Mengen Reifen gelagert worden. Es seien dort jedoch bei Bestellungen der Klin. bei ihren Lieferanten, die in mehreren Chargen geliefert worden seien, Einzelchargen dort gelagert und dann später insgesamt die gesamte Auslieferung der Reifen von S nach Belgien aus erfolgt. Vereinzelt seien die Waren auch von den Abnehmern in Neuss abgeholt worden. Eine unmittelbare Beförderung von den Lieferanten der Klin. zu den Endabnehmern ist somit nach der eigenen Einlassung der Klin. im Regelfall nicht erfolgt. Die Klin. hat in ihren Aufzeichnungen die Lieferungen auch durchgängig selbst als innergemeinschaftliche Lieferungen behandelt. Letztlich hat die Klin. auch nicht ansatzweise dargelegt, welche Lieferungen von ihren Lieferanten unmittelbar an (welche?) Endabnehmer befördert worden sein sollen, sodass der Senat insoweit auch keine weitere Sachverhaltsaufklärung betreiben kann.
2.) Die steuerbaren Lieferungen an E1 sind nicht als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. b i. V. m. § 6 a UStG anzuerkennen.
Der Senat lässt dahinstehen, ob im Hinblick auf die Lieferungen an E1 von der Klin. der Belegnachweis nach § 6 a Abs. 3 UStG i. V. m. § 17 a UStDV geführt wurde, denn im Streitfall bestehen keine Zweifel daran, dass die Reifen von der Klin. an einen Unternehmer in Belgien (E1 / C) geliefert wurden. Die objektiven Voraussetzungen für innergemeinschaftliche Lieferungen lagen vor, sodass die jüngere Rechtsprechung des BFH (z. B. vom 12.05.2009, V R 65/06, BFH/NV 2009, 1555; vom 28.05.2009, V R 23/08, BFH/NV 2009, 1565, jeweils m. w. N.), der der Senat folgt, nach Maßgabe des EUGH-Urteils vom 27.09.2007 C-146/05, Collée, BFH/NV Beil. 2008, 34) grundsätzlich Steuerfreiheit annimmt.
Dieser Grundsatz findet jedoch dann eine Ausnahme, wenn die im Bestimmungsland (Belgien) vorgesehene Erwerbsbesteuerung der konkreten Lieferung nach dem übereinstimmenden Willen von Unternehmer und Abnehmer durch Verschleierungsmaßnahmen und falschen Angaben gezielt umgangen werden soll, um dem Unternehmer oder dem Abnehmer einen ungerechtfertigten Steuervorteil zu verschaffen. Zur Versagung der Steuerfreiheit muss objektiv feststehen, dass die Klin. die missbräuchliche oder betrügerische Praktik des Erwerbers kannte und / oder sich daran beteiligt hat (BGH-Beschlüsse vom 07.07.2009, 1 StR 41/09, BFH/NV 2009, 1951; vom 20.11.2008 1 StR 354/08, BFH/NV 2009, 699; FG Baden-Württemberg vom 12.11.2009, 12 K 273/04, EFG 2010, 673; im Ergebnis ebenso FG des Saarlandes vom 30.06.2010, 1 K 1319/07, Juris; zweifelnd BFH-Beschluss vom 29.07.2009, XI R 24/09, BFH/NV 2009, 1567, vorgehend FG Baden-Württemberg vom 11.03.2009, 1 V 4305/08, Juris).
Im Streitfall ist der Senat nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 96 FGO) der Überzeugung, dass die Klin. wusste, dass die E1 nicht der wirkliche Abnehmer der Reifen war, sondern nur zwischengeschaltet wurde, um die Erwerbsbesteuerung des wahren Abnehmers (C) zu vermeiden. Die Überzeugung des Senats ergibt sich aus folgenden Indizien:
Die Klin. hat insgesamt elf Mal Bestätigungsverfahren mit negativem Ergebnis für die E1 durchgeführt. Der eingetragene Geschäftszweck des E1 war der Handel mit Süßigkeiten. Das Unternehmen hatte keine Mitarbeiter. Der Kontakt fand ausschließlich zwischen der Klin. und C statt. Kontakte zwischen der Geschäftsführung der E1 und der Klin. gab es nicht. Die Kontakte zwischen C und der Klin. können entgegen ihrer Behauptung im Schriftsatz an den Bekl. vom 06.01.2004 nicht erst ab April 2001 entstanden sein, denn die Klin. hat bereits seit Januar 2001 versucht, die USt-ID-Nr. der E1 vom Bundesamt für Finanzen bestätigen zu lassen. Die Verschleierungsmaßnahmen durch Zwischenschaltung der E1 dienten im Streitfall nach der Überzeugung des Senats der Vermeidung einer Erwerbsbesteuerung der Lieferungen der Klin. in Belgien. Die E1 hat keine USt-Voranmeldungen abgegeben und auch keine USt-Zahlungen geleistet. Der wirkliche Abnehmer C hat ebenfalls keine Erwerbsbesteuerung durchgeführt. Zwar ist im Urteil des Strafgerichts O – worauf die Klin. zu Recht hinweist – nichts über eine Täterschaft oder eine Beteiligung der Klin. am USt-Betrug des C ausgeführt.
Dies war aber auch nicht möglich, weil die Klin. nicht der Strafgewalt des belgischen Gerichts unterliegt. Im Übrigen ist für die Versagung der Steuerfreiheit unerheblich, ob der Abnehmer oder der Lieferant strafrechtlich belangt wurden (zur Strafbarkeit des Abnehmers: BGH-Beschluss vom 20.11.2008, 1 StR 354/08, a. a. O.; FG BadenWürttemberg vom 12.11.2009, 12 K 273/04 a. a. O.). Maßgeblich ist lediglich, ob die Erwerbsbesteuerung der konkreten Lieferung im Bestimmungsland umgangen werden sollte und diese Tatsache dem Lieferanten bekannt war oder er dies hätte wissen müssen. Diese Voraussetzungen lagen zur Überzeugung des Senats vor.
Die Klin. kann auch keinen Vertrauensschutz gemäß § 6 a Abs. 4 UStG beanspruchen. Sie konnte die Unrichtigkeit der Angaben des C, nämlich dass E1 nicht der wirkliche Abnehmer der Reifen war, erkennen und hat diese Tatsache zur Überzeugung des Senats (s. dazu oben) auch erkannt. Ob ein Steuerpflichtiger eine Tatsache wissen konnte oder hätte wissen müssen, ist eine tatsächliche Würdigung, die dem Gericht obliegt (BFH vom 19.04.2007, V R 48/04, BStBl. II 2009, 315). Im Streitfall hat der Senat auf Grund der o. g. Indizien die Überzeugung erlangt, dass die Klin. die Unredlichkeit des C und die bloß formale Zwischenschaltung der E1 kannte.
3.) Die Lieferungen der Klin. an die A sind gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. b i. V. m. § 6 a UStG steuerfrei. Der Senat lässt auch im Hinblick auf diese Lieferungen dahinstehen, ob der Buch- und Belegnachweis geführt wurde, denn auch im Hinblick auf diese Lieferungen bestehen keine Zweifel daran, dass die Reifen von der Klin. an einen anderen Unternehmer nach Belgien geliefert wurden. Es steht somit auf Grund der objektiven Beweislage zweifelsfrei fest, dass die objektiven Merkmale der innergemeinschaftlichen Lieferungen vorliegen.
Im Hinblick auf die Lieferungen an A ist jedoch kein Ausschluss der Steuerfreiheit wegen einer Steuerhinterziehung des Erwerbers anzunehmen. Zwar hatte C zusammen mit weiteren Personen nach den Feststellungen des Strafgerichts O die A dazu genutzt, USt-Hinterziehungen zu begehen. Dieser Umstand allein reicht jedoch nicht aus. Ein Ausschluss der Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 1 Buchst. b i. V. m. § 6 a UStG kommt nach der o. g. Rechtsprechung nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass Lieferer und Erwerber zusammen gewirkt haben, um die Erwerbsbesteuerung der konkreten Lieferung zu umgehen. Die konkret zu beurteilende Lieferung muss daher Gegenstand einer Hinterziehung der Erwerbsbesteuerung im Bestimmungsland sein. Im Streitfall bestehen keine Erkenntnisse darüber, ob die A die Erwerbsbesteuerung der Reifenlieferungen durchgeführt hat oder nicht. Anders als bei der E1 ist im Hinblick auf die A vom Strafgericht O keine Verletzung von USt-Erklärungs- und Zahlungspflichten für den Zeitraum ab Januar 2001 festgestellt worden. Ob A die Erwerbsbesteuerung aus den Lieferungen der Klin. durchgeführt hat, ist daher ungeklärt. Im Streitfall hat der Bekl., der insoweit die Feststellungslast trägt, nicht dargelegt und nachgewiesen, dass die A lediglich zwischengeschaltet wurde, um die Erwerbsbesteuerung des C zu umgehen und die Klin. dies wusste oder hätte wissen müssen.
4.) Im Hinblick auf die Lieferungen der Klin. an Abnehmer in Österreich und die Niederlande hat der Bekl. nach richterlichem Hinweis vom 22.04.2010 die Lieferungen im letzten Änderungsbescheid vom 14.07.2010 zu Recht als steuerfrei behandelt.
5.) Steuerberechnung:
steuerpflichtige Umsätze lt. Bescheid | |
vom 14.07.2010 | 18.533.111,00 DM |
abzüglich Umsätze A | |
(brutto 7.634.185,41 DM) | - 6.581.194,00 DM |
steuerpflichtig neu | 11.951.917,00 DM |
USt darauf | 1.912.307,00 DM |
Vorsteuer wie bisher | - 2.699.456,00 DM |
USt neu lt. Urteil | - 787.149,00 DM |
(= - 402.463,00 EUR) |
6.) Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO, § 708 Nr. 10, § 711 ZPO. Die Revisionszulassung erfolgt gemäß § 115 Abs. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung.