29.01.2010
Finanzgericht Münster: Urteil vom 05.11.2009 – 11 K 4246/08 Kg
1) In der schlichten Auszahlung von Kindergeld ohne einen Bewilligungsbescheid liegt kein Verwaltungsakt, mit dem eine Bewilligung von Kindergeld für die Vorzeit abgelehnt worden wäre (Abweichung von FG Rheinland-Pfalz v. 14.7.2009 - 5 K 1302/08; v. 28.8.2008 - 5 K 1301/08).
2) Sieht die Kindergeldkasse in den Fällen des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG von einer schriftlichen Bescheiderteilung ab, so setzt sie das Kindergeld - in der Regel - formlos fest, wobei in der ersten Auszahlung der Festsetzungsbescheid zu sehen ist.
3) Ein fristgerecht gestellter Antrag auf Zahlung von Kindergeld löst eine Ablaufhemmung für die Festsetzung aus, und zwar ohne eine zeitliche Beschränkung auch für die Vergangenheit, wenn im verwendeten Antragsformularvordruck keine Rubrik für die Frage der zeitlichen Ausdehnung des beantragten Kindergelds vorgesehen ist.
Im Namen des Volkes
URTEIL
In dem Rechtsstreit
hat der 11. Senat in der Besetzung: Vorsitzender Richter am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht … Richterin am Finanzgericht … ehrenamtlicher Richter … ehrenamtlicher Richter … auf Grund mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 05.11.2009 für Recht erkannt:
Tatbestand:
Streitig ist, ob durch die Auszahlung von Kindergeld für den Zeitraum vor der Auszahlung ein Kindergeldanspruch bestandskräftig abgelehnt worden ist.
Mit Antrag vom 07.07.2000, bei der Beklagten eingegangen am 13.07.2000, beantragte der Kläger für seine am 04.03.1986 und 06.09.1999 geborenen Kinder X. und Y. Kindergeld bei der Familienkasse des Arbeitsamtes T.. Der Kläger gab dabei an, dass er Vietnamese sei und über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland verfüge. Mit Kassenanordnung vom 19.07.2000 verfügte die Familienkasse des Arbeitsamtes T. die Kindergeldzahlung ab Juni 2000. Ein besonderer Bescheid erging nicht.
Mit Schreiben vom 03.06.2008, bei der Beklagten eingegangen am 05.06.2008, beantragte der Kläger aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 06.07.2004 eine Nachzahlung des Kindergeldes für den Zeitraum, in dem er nur über eine Aufenthaltsbefugnis verfügt hatte. Mit Bescheid vom 24.06.2008 lehnte die Beklagte die Gewährung von Kindergeld für diesen Zeitraum ab und führte zur Begründung die abgelaufene Festsetzungsfrist an.
Der Kläger hat mit Schreiben vom 02.07.2008 hiergegen Einspruch eingelegt. Den Ein-spruch hat die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 15.10.2008 als unbegründet zurückgewiesen und zur Begründung erneut auf die Verjährungsfristen verwiesen.
Mit seiner am 12.11.2008 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung führt er aus, dass er schon im Jahre 2000 einen Antrag auf Kindergeld gestellt habe und ab Juni 2000 Kindergeld bewilligt worden sei.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 24.06.2008 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 15.10.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger gegenüber rückwirkend Kindergeld von Januar 1996 bis Mai 2000 festzusetzen,
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt sie aus, dass die Ansprüche des Klägers verjährt seien. Soweit der Kläger auf seinen Antrag aus dem Jahre 2000 abstelle, sei durch die Auszahlung des Kindergeldes ab Juni 2000 für den Zeitraum davor eine Festsetzung bestandskräftig abgelehnt worden. Der Kläger habe seinerzeit keinen Einspruch eingelegt.
Der Berichterstatter hat mit den Beteiligten am 22.04.2009 die Sach- und Rechtslage eingehend erörtert; auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
Der Senat hat am 05. November 2009 in der Sache mündlich verhandelt; auf die Sitzungsniederschrift wird ebenfalls Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage führt auch in der Sache
zum Erfolg. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Beklagte hat zu Unrecht die Festsetzung von Kindergeld für die beiden Kinder des Klägers für den Zeitraum Januar 1996 bis Mai 2000 abgelehnt.
I.
1. Materiell-rechtlich besteht zwischen den Beteiligten kein Streit über den Anspruch auf Kindergeld im streitbefangenen Umfang. Der Senat hat ebenfalls keine Bedenken. Die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Nr. 2 c und Nr. 3 EStG lagen vor. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass er in den Streitjahren berechtigt erwerbstätig war. Er hat im Jahre 1996 als Koch in B. und 1997 bis 2000 in einem Restaurant in F. gearbeitet. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung einen Nachweis über Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung für den Streitzeitraum beigebracht. Nach schriftlicher Auskunft der Einbürgerungsbehörde des Kreises C. vom 03.11.2001 wurde dem Kläger am 02.12.1991 erstmals eine Aufenthaltsbewilligung und am 18.03.1993 erstmals eine Aufenthaltsbefugnis erteilt.
2. Die Auffassung der Beklagten, in der Auszahlung des Kindergeldes ab Juni 2000 sei ein (Ablehnungs-) Bescheid zu sehen, der durch formlose Bekanntgabe wirksam geworden sei, teilt der Senat nicht. Die Beklagte hat keinen (bestandskräftig gewordenen) Ablehnungsbescheid erlassen. Die Form eines Verwaltungsaktes ist in § 119 Abs. 2 AO geregelt. Er kann schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden. Da vorliegend ein ablehnender Verwaltungsakt – unstreitig – weder schriftlich, elektronisch noch mündlich erlassen wurde, bleibt nur die Alternative „in anderer Weise”. Gemäß § 70 Abs. 1 Satz 1 EStG wird das Kindergeld von der Familienkasse durch Bescheid festgesetzt und ausgezahlt. Das Kindergeld ist nach § 31 Satz 3 EStG materiell-rechtlich eine Steuervergütung. Für diesen Steuervergütungsanspruch, der nach den Bestimmungen der §§ 62 ff. EStG entsteht, gelten nach § 155 Abs. 6 AO sinngemäß die Vorschriften über die Steuerfestsetzung (§§ 155 bis 177 AO). Daher hat – wie § 70 Abs. 1 Satz 1 EStG klarstellt – die Festsetzung des Kindergeldes grundsätzlich durch schriftlichen Bescheid (§ 157 Abs. 1 Satz 1 AO) zu erfolgen, mit dem gegenüber dem Anspruchsberechtigten über Grund und Höhe des Kindergeldanspruchs entschieden wird. Diese Entscheidung, die die begrifflichen Merkmale eines Verwaltungsaktes (§ 118 Satz 1 AO) erfüllt, muss gemäß § 70 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG nicht in der Form (und mit dem Inhalt) eines Steuerbescheides (§ 157 AO) ergehen, wenn dem Antrag des Anspruchsberechtigten entsprochen wird. Damit hat der Gesetzgeber zwar für diesen Fall auf eine schriftliche Bescheiderteilung verzichtet, um das bei der Arbeitsverwaltung eingespielte Verfahren der Kindergeldzahlung im Interesse der Bürger und der Verwaltung beibehalten zu können (BT-Drucksache 13/1558 S. 161); dies enthebt aber nicht von dem Erfordernis der Festsetzung des Kindergeldes durch Bescheid. Für diesen Bescheid (Verwaltungsakt) gelten statt der für Steuerbescheide konkretisierten und spezialisierten Regeln des § 157 AO die allgemeinen Regeln der §§ 118 ff. AO, nach denen gemäß § 119 Abs. 2 Satz 1 AO der Verwaltungsakt auch in sonstiger Weise erlassen werden kann.
Sieht die Familienkasse in den Fällen des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG von einer schriftlichen Bescheiderteilung ab, so setzt sie das Kindergeld – in der Regel – in anderer Weise (d.h. formlos) fest. Zahlt die Familienkasse das Kindergeld tatsächlich aus, so ist in der ersten Auszahlung (Überweisung) des Kindergeldes und der Bekanntgabe des Auszahlungsbetrages die Festsetzung zu sehen. Der Verwaltungsakt ergeht durch konkludentes Verhalten, indem Entscheidung der Familienkasse und Ausführung zusammenfallen. Die Auszahlung (Überweisung) des Kindergeldes ist dabei nicht bloßer Realakt, sondern sie bringt zugleich konkludent gegenüber dem Empfänger die Entscheidung über das Bestehen des Anspruchs auf das beantragte Kindergeld (die Steuervergütung) als der sachlogischen Voraussetzung für die Auszahlung der beantragten Geldleistung zum Ausdruck. Denn der objektivierte Erklärungsinhalt einer Auszahlung als Kindergeld ist die Erklärung der Behörde, dass das Kindergeld in jener Höhe gewährt wird (vgl. FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24. April 1998 4 K 1755/97, JurisDok).
Anders verhält es sich jedoch im vorliegenden Rechtsstreit. Nach den dargestellten Grundsätzen hat die Beklagte zwar für den (hier nicht streitigen) Zeitraum ab Juni 2000 das Kindergeld „in anderer Weise” festgesetzt. Für den streitbefangenen Zeitraum liegt aber keine Willensäußerung der Beklagten vor, auch nicht in konkludenter Form (ebs. FG Rheinland-Pfalz Urteil vom 10. Juni 2009 2 K 1807/08 JurisDok.)
3. Der Kindergeldanspruch ist nicht wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist erloschen (§ 47 AO). Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Das Kindergeld wird nach § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt. Es gelten daher die Vorschriften der AO (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AO). Nach § 155 Abs. 4 AO sind die Vorschriften über die Steuerfestsetzung (§§ 155 bis 178 AO), also auch die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung (§§ 169 bis 171 AO), sinngemäß auf die Festsetzung einer Steuervergütung anzuwenden (ebs. FG Rheinland-Pfalz Urteil vom 10. Juni 2009 2 K 1807/08 JurisDok.).
Die Festsetzungsfrist für Steuervergütungen beträgt 4 Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO). Sie beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch auf die Steuervergütung entstanden ist (§ 170 Abs. 1 AO). Das Kindergeld wird auf Antrag (§ 67 Satz 1 EStG) vom Beginn des Monats an gezahlt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, bis zum Ende des Monats, in dem die Anspruchsvoraussetzungen weggefallen sind (§ 66 Abs. 2 EStG). Der Anspruch auf das Kindergeld entsteht somit für jeden Monat, in dem die Anspruchsvoraussetzungen zu irgendeinem Zeitpunkt vorgelegen haben. Die Festsetzungsfrist für das in den einzelnen Monaten des jeweiligen Kalenderjahres gezahlte Kindergeld beginnt daher mit Ablauf dieses Kalenderjahres. Die Festsetzungsfrist für das in den Kalenderjahren 1996 – 2000 zu zahlende Kindergeld war somit grundsätzlich mit Ablauf der Jahre 2000 – 2004 abgelaufen.
Ein fristgerecht gestellter Antrag auf Zahlung von Kindergeld löst jedoch nach § 171 Abs. 3 AO eine Ablaufhemmung aus. Ob und in welchem Umfang Kindergeld beantragt wird, ist im Einzelfall durch Auslegung zu ermitteln. Im Streitfall hat der Kläger mit am 13. Juli 2000 bei der Beklagten eingegangenem Formularvordruck Kindergeld beantragt und diesem die Kopie einer Bescheinigung über die Aufenthaltserlaubnis vom 12. Mai 2000 beigefügt.
Im Formularvordruck ist keine Rubrik für die Frage der zeitlichen Ausdehnung des beantragten Kindergeldes vorgesehen. Der Senat hatte vor diesem Hintergrund den Kindergeldantrag auszulegen. Im Interesse des Antragstellers ist der Kindergeldantrag (und im Übrigen auch der Klageantrag bei Gericht) ohne ausdrückliche zeitliche Beschränkung von der Behörde und dem Gericht subjektiv und objektiv dahin auszulegen, dass damit die maximale Festsetzung von Kindergeld, insbesondere auch für die Vergangenheit, erstrebt wird. Der zeitlich nicht beschränkte Kindergeldantrag beinhaltet also keine Beschränkung des Begehrens auf Festsetzung von Kindergeld nur für die Zukunft respektive ab Antragseingang (FG Hamburg 30.11.2007 1 K 266/06, EFG 2008, 315; dazu auch Hildesheim in Bordewin/Brandt, EStG, § 67 Rz. 22a).
Der Senat sieht keine Veranlassung, hiervon im Streitfall abzuweichen, zumal zu berücksichtigen ist, dass die Rechtslage zu § 62 EStG nicht so klar ist bzw. war, dass daraus eine restriktive Antragsauslegung stattfinden könnte, wie sie die Beklagte nunmehr vornimmt.
Der Antrag auf Kindergeld vom 13. Juli 2000 hat die Festsetzungsfrist für die streitbefangenen Kindergeldzeiträume unterbrochen, so dass der beantragten Kindergeldfestsetzung auch der Eintritt der Festsetzungsverjährung nicht entgegensteht.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Die Revision war gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (gegenteilige Verwaltungsanweisungen der Beklagten) und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs erfordert (s. gegenteilige Entscheidungen des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz Urteile vom 14. Juli 2009 5 K 1302/08 und vom 28. August 2008 5 K 1301/08 beide n.v.).