08.01.2010
Finanzgericht Baden-Württemberg: Urteil vom 28.09.2006 – 14 K 202/01
1. Aus Abschnitt II Nr. 1 des Verhandlungsprotokolls vom 18. Dezember 1991 lässt sich nicht ableiten, dass mehrere zusammenhängende Tage eines Arbeitseinsatzes als ein einziger Nichtrückkehrtag i. S. v. Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA zu werten sind (entgegen Urteile des BFH vom 15. September 2004, I R 67/03, BFHE 207, 452 und vom 20. Oktober 2004, I R 31/04, BFH/NV 2005 S. 840).
2. Die in dem Urteil des BFH vom 15. September 2004, I R 67/03, BFHE 207, 452 enthaltene Formulierung „nach getaner Arbeit” lässt nicht den Schluss zu, dass ein Nichtrückkehrtag erst dann angenommen werden kann, wenn die dem Arbeitnehmer aufgetragene mehrtägige Arbeit abgeschlossen ist.
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Finanzrechtsstreit
hat der 14. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 28. September 2006 durch Vorsitzenden Richter am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht … Richterin am Finanzgericht … ehrenamtliche Richter …
für Recht erkannt:
I. Die Einkommensteuerbescheide 1994 und 1995 vom 19. Juni 1998 sowie die Einspruchsentscheidung vom 10. August 2001 werden aufgehoben. Der Einkommensteuerbescheid 1996 vom 19. Juni 1998 wird dahingehend geändert, dass die von der Klägerin in der Schweiz erzielten Einkünfte nur bei der Bemessung des Steuersatzes berücksichtigt werden (Progressionsvorbehalt). Die Neuberechnung der Einkommensteuer 1996 wird dem beklagten Finanzamt übertragen.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt das beklagte Finanzamt.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die in Deutschland wohnende Klägerin in den Jahren 1994 bis 1996 mit ihren in der Schweiz erzielten Lohneinkünften als Drogentherapiemitarbeiterin gem. Art. 15 a DBA Schweiz als Grenzgängerin in Deutschland steuerpflichtig war.
Die im Jahr 1960 geborene Klägerin wohnte vom 1. Oktober 1992 bis zum 31. August 1996 in X und zog im Anschluss daran nach Y um.
Sie ist Sozialarbeiterin. In der Zeit vom 1. September 1990 bis zum 31. März 1996 war sie als Teilzeitkraft mit einem Pensum von 70 Prozent (= 30 Wochenstunden) beim Verein Drogenhilfe in C/Schweiz als Therapeutische Entzugs-Mitarbeiterin (TEM) angestellt. Nach kurzer Arbeitslosigkeit in der Zeit vom 1. April bis zum 30. Juni 1996 war sie seit 1. Juli 1996 beim Arbeitskreis Rauschmittel in Z beschäftigt.
Der Verein Drogenhilfe C/Schweiz betrieb in einem abgelegenen ehemaligen Bauernhaus in D im Schweizer Jura, ca. 30 Autominuten von C/Schweiz entfernt, eine Fachklinik für Drogenentzug, die unter der ärztlichen Leitung der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) C/Schweiz und unter Aufsicht der Sanitätsdirektion des Kantons C/Schweiz-Landschaft stand. In dieser Klinik wurden jährlich 22 Entzugsmaßnahmen von jeweils 15 Tagen Dauer – in Ausnahmefällen 30 Tagen – auf freiwilliger Basis der Teilnehmer in geschlossenen Gruppen von höchstens 10 Drogenabhängigen durchgeführt. Es handelte sich um einen sogenannten kalten Entzug ohne den Einsatz von Medikamenten. Ziel der Maßnahme war es, eine Entgiftung der Drogenabhängigen zu erreichen und sie zu motivieren, sich für einen längerfristigen stationären Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik oder für eine ambulante Therapie zu entscheiden. Für die Betreuung der Gruppen war jeweils ein Team von vier Therapeutischen Entzugs-Mitarbeitern zuständig.
Zur Vorbereitung der Entzugsmaßnahme hatte die Klägerin gemeinsam mit den übrigen Teammitgliedern in der Anlaufstelle des Vereins in C/Schweiz u. a. die folgenden Aufgaben:
die künftigen Entzugsgruppen zusammenzustellen und auf den Entzug vorzubereiten,
Vorgespräche mit den Drogenabhängigen, deren Angehörigen und anderen Bezugspersonen zu führen,
Finanzierungsfragen mit den Kostenträgern abzuklären,
Kontakt mit beratenden Stellen, Ämtern und Justizbehörden aufzunehmen,
an den Entzug anschließende stationäre oder ambulante Therapiemaßnahmen vorzubereiten,
die erforderliche Verpflegung für die Entzugsmaßnahme zusammenzustellen und zu besorgen,
die Teilnehmer am Tag des Beginns der Entzugsmaßnahme in der Anlaufstelle in C/Schweiz in Empfang zu nehmen,
sie über die Entzugsmaßnahme zu informieren und einen persönlichen Kontakt zu ihnen herzustellen,
sicherzustellen, dass sie keine Drogen an den Ort der Entzugsmaßnahme mitnehmen.
Die Teilnehmer durften dorthin außerdem kein Geld, keine Ausweise und keine Mobiltelefone mitnehmen, um ihnen einen Abbruch der Entzugsmaßnahme zu erschweren. Diese Gegenstände und andere überflüssige Gepäckstücke der Teilnehmer wurden in der Anlaufstelle des Vereins in C/Schweiz aufbewahrt.
Nach Abschluss der Vorbereitungen am Abend des Beginns der Entzugsmaßnahme fuhr die Klägerin mit den anderen drei Mitgliedern des Mitarbeiterteams und den Teilnehmern in einem Kleinbus an den Ort der Maßnahme in das Bauernhaus im Schweizer Jura. Dabei wurden zum Teil Feldwege benutzt und Umwege gefahren, um den Drogenabhängigen die Lage dieses Ortes zu verschleiern und auf diese Weise den Abbruch der Maßnahme zu erschweren.
In dem Bauernhaus wohnten die Drogentherapiemitarbeiter mit den Teilnehmern der Maßnahme in einer therapeutischen Wohngemeinschaft und haben sich gemeinsam mit ihnen verpflegt. Die Mitarbeiter wohnten jeweils in Zweibettzimmern und die Drogenabhängigen in der Regel in Zweibett- oder Dreibettzimmern. Die Maßnahmen erforderten eine Betreuung der Teilnehmer rund um die Uhr. Aus Sicherheitsgründen mussten stets mindestens zwei Therapiemitarbeiter anwesend sein. Täglich fanden Gruppentherapiesitzungen statt. Außerdem war es Aufgabe der Therapiemitarbeiter, in Einzelgesprächen die Drogenabhängigen zu unterstützen und zu motivieren, die Entgiftungsmaßnahme durchzuhalten, die damit verbundenen Schmerzen zu ertragen und sich für eine längerfristige stationäre Therapie zu entscheiden. Sie mussten Drogenabhängige mit schweren Entzugsymptomen pflegen und in akuten medizinischen oder psychischen Krisen sachgerecht intervenieren. Wegen der Einzelheiten wird auf das Pflichtenheft für die therapeutischen Entzugsmitarbeiter vom 22. September 1993 und das Schreiben des Drogenbeauftragten der Sanitätsdirektion des Kantons C/Schweiz-Landschaft vom 9. Oktober 1998 Bezug genommen (Gerichtsakte Blatt 34 bis 41).
Jeder Mitarbeiter hatte während der 15-tägigen Maßnahme Anspruch auf zwei Pausen von 24 bis 48 Stunden. Nach Aussage der Klägerin im Erörterungstermin vom 25. Juli 2006 hat sie die erste Pause jeweils am sechsten Tag der Maßnahme genommen und ist am siebten oder achten Tag wieder zurückgekehrt. Am elften oder zwölften Tag habe sie die zweite Pause genommen und sei dann wieder zurückgekommen. In den Pausen habe sie ein Zimmer in einem Hotel oder einem Gasthaus in der Nähe der Therapiemaßnahme gemietet oder sei zu Freunden nach C/Schweiz gefahren. Sie habe dem Team eine Telefonnummer hinterlassen, unter der sie während ihrer Pausen in dringenden Fällen erreichbar gewesen sei. Während der ersten und der letzten Tage der Entzugsmaßnahme seien alle vier Therapiemitarbeiter anwesend gewesen. In der Zwischenzeit seien stets mindestens zwei Mitarbeiter vor Ort gewesen. Nach Abschluss der Entzugsmaßnahme sei es ihre Aufgabe gewesen, mit dem Kleinbus die für die Teilnehmer in der Anlaufstelle in C/Schweiz aufbewahrten Gegenstände abzuholen und die Drogenabhängigen in die stationären Therapieeinrichtungen zu fahren. Wenn sich diese Einrichtungen im Tessin befunden hätten, habe sie dort noch einmal im Hotel übernachtet.
Nach Auskunft des Vereins Drogenhilfe C/Schweiz mit Schreiben vom 16. März 1998 hat die Klägerin in den Jahren 1994 bis 1996 an folgenden Therapiemaßnahmen in der Entzugsklinik mitgewirkt:
1994: | 1995 | 1996 | |||
04.01. bis 18.01. | 11 Tage | 24.01. bis 07.02. | 11 Tage | 16.01. bis 23.01. | 8 Tage |
01.02. bis 15.02. | 11 Tage | 21.02. bis 07.03. | 11 Tage | 06.02. bis 12.02. | 7 Tage |
26.04. bis 10.05. | 11 Tage | 04.04. bis 18.04. | 11 Tage | 20.02. bis 26.02. | 7 Tage |
19.07. bis 02.08. | 11 Tage | 16.05. bis 30.05. | 11 Tage | 01.03. bis 04.03. | 4 Tage |
11.10. bis 25.10. | 11 Tage | 11.07. bis 25.07. | 11 Tage | ||
22.11. bis 06.12. | 11 Tage | 03.10. bis 17.10. | 11 Tage | ||
31.10. bis 14.11. | 11 Tage | ||||
Summe | 66 Tage | 77 Tage | 26 Tage |
Auf Grund der Besonderheiten ihrer Arbeitseinsätze habe für die Klägerin für jeweils an mehr als 60 Tagen pro Jahr keine Möglichkeit zu einer Rückkehr an ihren Wohnort in Deutschland bestanden. Wegen der organisatorisch bedingten Notwendigkeit, jeweils mehrere Tage und Nächte in Folge in der Entzugstation zu verbringen, habe für die Klägerin keine „normale” Grenzgängerbewilligung eingeholt werden können, sondern nur eine befristete Aufenthaltsbewilligung für jeweils maximal 120 Tage im Kalenderjahr. Mit dem kantonalen Arbeitsamt habe insoweit eine besondere Vereinbarung bestanden, da Grenzgänger nach Schweizer Recht die Nacht nicht in der Schweiz verbringen dürften. Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben des Vereins Drogenhilfe vom 16. März 1998 und die in Kopie vorgelegten Aufenthaltsbewilligungen der Fremdenpolizei C/Schweiz-Landschaft vom 29. Dezember 1993 und 15. März 1995 Bezug genommen (Gerichtsakte Blatt 42 bis 46).
Nach Ziff. 8. ihres Arbeitsvertrages vom 17. Oktober 1990 hatte die Klägerin Anspruch auf regelmäßige Supervision und auf Teamweiterbildung. Sie war verpflichtet, an Supervisionssitzungen und an Veranstaltungen im Rahmen der Teamweiterbildung teilzunehmen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Arbeitsvertrag Bezug genommen (Einkommensteuerakte Blatt 12 bis 15). Dieselbe Verpflichtung ergab sich auch aus Ziff. 2 des bereits erwähnten Pflichtenheftes vom 22. September 1993 (vgl. Gerichtsakte Blatt 36 f.).
In den streitigen Veranlagungszeiträumen 1994 bis 1996 nahm die Klägerin an folgenden Fortbildungsmaßnahmen der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft in W am xxx See teil:
1994 | 1995 | 1996 | |||
17. bis 21. 01. | 4 Tage | 20. bis 24.03. | 4 Tage | 17. bis 19.03. | 2 Tage |
21. bis 25. 03. | 4 Tage | 19. bis 21 06. | 4 Tage | ||
20. bis 24. 06. | 4 Tage | 04. bis 08.09. | 4 Tage | ||
05. bis 09.09. | 4 Tage | 06. bis 09.09. | 3 Tage | ||
07. bis 10.11. | 4 Tage | 04. bis 06.12. | 2 Tage | ||
04. bis 06.12. | 2 Tage | ||||
Summe | 22 Tage | 17 Tage | 2 Tage |
Auf die Veranstaltungsübersichten der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Jahre 1994 bis 1996 wird verwiesen (Gerichtsakte Blatt 106 ff.).
Für ihre Tätigkeit in der Schweiz erhielt die Klägerin die folgenden Bruttolöhne, von denen Quellensteuern in folgender Höhe einbehalten wurde:
Bruttolohn | einbehaltene Quellensteuer | |
SFr. | SFr. | |
1994 | 60.963,60 | 6.559 |
1995 | 63.965,30 | 8.098 |
1996 | 19.818,00 | 1.852 |
Außerdem forderte die Steuerverwaltung des Kantons C/Schweiz-Stadt von der Klägerin mit Bescheiden vom 24. Juni 1998 weitere Quellensteuer für 1995 in Höhe von 1.945 SFr. und für 1996 in Höhe von 1.656 SFr. nach. Wegen der Einzelheiten wird auf die Lohnausweise für 1994 bis 1996 und die genannten Bescheide vom 24. Juni 1998 verwiesen (Gerichtsakte Blatt 48 bis 52).
Für ihre Tätigkeit für den Arbeitskreis Rauschmittel in Z in der Zeit vom 1. Juli 1996 bis zum 31. Dezember 1996 erhielt die Klägerin einen Bruttolohn in Höhe von 22.973,75 DM. Außerdem erhielt sie für die Zeit ihrer Arbeitslosigkeit vom 1. April 1996 bis 29. Juni 1996 Arbeitslosengeld in Höhe von 5.124,60 DM.
Das seinerzeit zuständige Finanzamt O war der Auffassung, die Klägerin sei nach den Anweisungen des Bundesministers der Finanzen in Bundessteuerblatt (BStBl) I 1997, 723 mit ihren Einkünften aus der Schweiz als Grenzgängerin in Deutschland steuerpflichtig. Mit Bescheiden vom 19. Juni 1998 setzte es die Einkommensteuer 1994 bis 1996 auf die folgenden Beträge fest, auf die es Schweizer Abzugssteuer in folgender Höhe anrechnete:
festgesetzte Einkommensteuer | angerechnete Schweizer Abzugssteuer | ||
DM | DM | ||
1994 | 10.794 | 3.210 | |
1995 | 12.859 | 3.455 | |
1996 | 6.402 | 1.071 |
Gegen diese Bescheide legte der Steuerberater der Klägerin am 7. Juli 1998 Einspruch ein, den das Finanzamt O mit Einspruchsentscheidung vom 10. August 2001 als unbegründet zurückwies, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird (Rechtsbehelfsakte Blatt 16 bis 19).
Dagegen richtet sich die vorliegende Klage vom 4. September 2001, die am 6. September 2001 bei Gericht einging. Wegen der Einzelheiten der Klagebegründung wird auf die Schriftsätze des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 14. August 2002 (Gerichtsakte Blatt 15 ff), 17. April 2003 (Gerichtsakte Blatt 59 ff) und vom 18. August 2006 (Gerichtsakte Blatt 98 ff) sowie auf die dazu eingereichten Anlagen Bezug genommenen.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
die angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1994 und 1995 i. d. F. der Einspruchsentscheidung aufzuheben und den angefochtenen Einkommensteuerbescheid 1996 dahingehend abzuändern, dass die in der Schweiz erzielten Einkünfte der Klägerin unberücksichtigt bleiben.
Das Finanzamt beantragt, die Klage abzuweisen.
Es hält an der in der Einspruchsentscheidung vertretenen Auffassung fest.
Ergänzend trägt es vor, entscheidungserheblich sei, ob die sich über mehrere Kalendertage erstreckende Arbeitszeit der Klägerin (nach ihrer Aussage im Erörterungstermin jeweils „sechs Tage am Stück”) als mehrere Arbeitstage oder nur als ein Arbeitstag im Sinne des Verhandlungsprotokolls vom 18. Dezember 1991 anzusehen sei. Letzteres werde nach dem beigefügten Auszug aus der Grenzgänger-Dienstbesprechung der Oberfinanzdirektion Karlsruhe vom 23. März 2006 unter Hinweis auf die Urteile des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15. September 2004 und 20. Oktober 2004 a.a.O. bejaht. Der Grund liege darin, dass der BFH in diesen beiden Entscheidungen an die Begriffe „getaner Arbeit” und „tatsächlich erfolgte (nicht fingierte) Rückkehr” anknüpfe. Bei dieser Auslegung ergäben sich im Falle der Klägerin aus den jeweils 15-tägigen Entzugsmaßnahmen keine durch mehrtägige Arbeitsausübung bedingten Nichtrückkehrtage. Wegen der Einzelheiten wird auf die Schriftsätze des Finanzamts vom 21. Oktober 2002 (Gerichtsakte Blatt 56 f) und 18. September 2006 (Gerichtsakte Blatt 131) sowie die Niederschrift über die Grenzgänger-Dienstbesprechung der Oberfinanzdirektion Karlsruhe vom 23. März 2006 (Gerichtsakte Blatt 133 ff) Bezug genommen.
Am 25. Juli 2006 fand vor dem Berichterstatter ein Erörterungstermin statt, in dem die Klägerin ihre Tätigkeit als Drogentherapiemitarbeiterin ausführlich schilderte. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift Bezug genommen (Gerichtsakte Blatt 89 ff.). Am 28. September 2006 fand eine mündliche Verhandlung statt, auf deren Niederschrift verwiesen wird.
Dem Gericht haben die für die Klägerin beim Finanzamt geführten Einkommensteuerakten für die Jahre 1994 bis 1997 und die Rechtsbehelfsakten vorgelegen.
Die Zuständigkeitsgrenzen der Finanzämter O und P wurden durch Erlass des Finanzministeriums Baden-Württemberg vom 21. Juni 2006 (BStBl I 2006, 419) mit Wirkung zum 10. Juli 2006 geändert. Auf Grund dieses Organisationsaktes wechselte die Gemeinde Y, in der die Klägerin wohnt, vom Zuständigkeitsbereich des Finanzamts O in den Zuständigkeitsbereich des Finanzamts P. Der Berichterstatter teilte den Beteiligten mit Schreiben vom 23. August 2006 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BFH mit, dass nach Auffassung des Senats ein gesetzlicher Wechsel des Beklagten stattgefunden habe und Beklagter nunmehr das Finanzamt P sei. Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 23. August 2006 Bezug genommen (Gerichtsakte Blatt 116 f).
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Die Klägerin war in den Jahren 1994 bis 1996 nicht Grenzgängerin i. S. v. Art. 15a DBA Schweiz und daher mit ihren in der Schweiz erzielten Einkünften nicht in Deutschland steuerpflichtig.
Nach Art. 15 Abs. 1 i. V. m. Art. 24 Abs. 1 Nr. 1d DBA Schweiz ist bei einem in Deutschland ansässigen Arbeitnehmer mit Arbeitsort in der Schweiz grundsätzlich die Schweiz zur Besteuerung der Arbeitseinkünfte berechtigt und Deutschland zur Freistellung dieser Einkünfte verpflichtet. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt für Grenzgänger i. S. v. Art. 15a DBA Schweiz. Deren Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen können nach Abs. 1 Satz 1 dieser Bestimmung in dem Vertragsstaat besteuert werden, in dem sie ansässig sind. Nach Art. 15a Abs. 2 Satz 1DBA Schweiz ist Grenzgänger im Sinne des Abs. 1 jede in einem Vertragsstaat ansässige Person, die in dem anderen Vertragsstaat ihren Arbeitsort hat und von dort regelmäßig an ihren Wohnsitz zurückkehrt. Kehrt diese Personen nicht jeweils nach Arbeitsende an ihren Wohnsitz zurück, entfällt die Grenzgängereigenschaft gem. Art. 15a Abs. 2 Satz 2DBA Schweiz nur dann, wenn die Person bei einer Beschäftigung während des gesamten Kalenderjahres an mehr als 60 Arbeitstagen auf Grund ihrer Arbeitsausübung nicht an ihren Wohnsitz zurückkehrt.
Bei der Auslegung dieser Vorschriften ist das Verhandlungsprotokoll vom 18. Dezember 1991 zu Art. 15a DBA Schweiz (Bundesgesetzblatt – BGBl – II 1993, 1889 = BStBl I 1993, 929) zu beachten, das Gesetzeskraft hat, weil das Zustimmungsgesetz vom 30. Dezember 1993 (BGBl II 1993, 1886 = BStBl I 1993, 927) dem Verhandlungsprotokoll vom 18. Dezember 1991 ausdrücklich zustimmt (vgl. Urteil des BFH vom 16. Mai 2001, I R 100/00, BStBl II 2001, 633).
Nach Abschnitt II Nr. 1 des Verhandlungsprotokolls vom 18. Dezember 1991 wird die Annahme einer regelmäßigen Rückkehr an den Wohnsitz „im Sinne des Artikels 15a Abs. 2 Satz 1” nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich die Arbeitsausübung bedingt durch betriebliche Umstände, wie zum Beispiel bei Schichtarbeitern oder Krankenhauspersonal mit Bereitschaftsdienst, über mehrere Tage erstreckt.
Der BFH ist der Ansicht, diese Bestimmung enthalte eine verbindliche Vorgabe für die Auslegung der „60 Tage Regelung” in Art. 15 a Abs. 2 Satz 2DBA Schweiz (vgl. u.a. das o.a. Urteil des BFH vom 16. Mai 2001 sowie seine Urteile vom 15. September 2004, I R 67/03 – Sammlung der Entscheidungen des BFH – BFHE – 207, 452 und vom 20. Oktober 2004, I R 31/04, Sammlung amtlich nicht veröffentlichte Entscheidungen des BFH – BFH/NV 2005, 840).
Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. Abschnitt II Nr. 1 des Verhandlungsprotokolls vom 18. Dezember 1991 bezieht sich nach seinem eindeutigen Wortlaut ausschließlich auf Art. 15a Abs. 2 Satz 1DBA Schweiz und enthält nur eine Aussage zu dem in dieser Bestimmung enthaltenen Tatbestandsmerkmal der regelmäßigen Rückkehr an den Wohnsitz. Die genannte Bestimmung des Verhandlungsprotokolls will verhindern, dass Schichtarbeiter, Krankenhausbedienstete und Arbeitnehmer mit ähnlich unregelmäßigen Arbeitszeiten aus dem Anwendungsbereich des Art. 15a DBA Schweiz ausscheiden. Sie enthält keine Aussage zu der „60 Tage Regelung” in Art. 15a Abs. 2 Satz2DBA Schweiz. Entgegen der Auffassung des Finanzamts lässt sich aus der genannten Bestimmung des Verhandlungsprotokolls nicht ableiten, dass mehrere zusammenhängende Tage eines Arbeitseinsatzes – hier die Teilnahme an den jeweils mehrtägigen Therapiemaßnahmen – als ein einziger Nichtrückkehrtag i. S. v. Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA gewertet werden.
Dies ergibt sich auch nicht aus der neueren modifizierten Rechtsprechung des BFH in seinen o.a. Urteilen vom 15. September 2004 und 20. Oktober 2004. Die in den Leitsätzen dieser Urteile enthaltene Formulierung „nach getaner Arbeit” lässt nicht den Schluss zu, dass ein Nichtrückkehrtag erst dann angenommen werden kann, wenn die dem Arbeitnehmer aufgetragene mehrtägige Arbeit abgeschlossen ist. Eine solche Folgerung ergibt sich auch nicht aus der in Art. 15 a Abs. 2 Satz 2 erster Halbsatz DBA Schweiz enthaltenen Formulierung „nach Arbeitsende”. Diese Formulierung steht in keinem unmittelbaren Bezug zu der im zweiten Halbsatz enthaltenen Formulierung „an mehr als 60 Arbeitstagen” und erlaubt nicht den Schluss, bei einem mehrtägigen Arbeitseinsatz seien mehrere Tage „nach Arbeitsende” zu einem Arbeitstag zusammenzufassen.
Nach Abschnitt II Nr. 2 des Verhandlungsprotokolls vom 18. Dezember 1991 sind Arbeitstage im Sinne des Abkommens die in dem Arbeitsvertrag vereinbarten Tage. Der Arbeitnehmer hätte sicherlich kein Verständnis dafür, wenn der Arbeitgeber die Tage eines mehrtägigen Arbeitseinsatzes bei der Ermittlung des Arbeitslohnes zu einem einzigen Arbeitstag zusammenfassen würde.
Es ist kein sachlicher Grund dafür erkennbar, bei der Beurteilung der Grenzgängereigenschaft danach zu unterscheiden, ob der Arbeitnehmer bei einem mehrtägigen Arbeitseinsatz vor oder erst nach Abschluss der aufgetragenen Arbeit an seinen Wohnsitz zurückgekehrt ist. Unerheblich ist, aus welchen beruflichen Gründen der Arbeitnehmer nicht an seinen Wohnsitz zurückgekehrt ist. Entscheidend ist gem. Art. 15 a Abs. 2 Satz 2 DBA Schweiz, ob er an mehr als 60 Arbeitstagen auf Grund seiner Arbeitsausübung nicht an seinen Wohnsitz zurückgekehrt ist. Ist diese Grenze überschritten, geht die berufliche Bindung des Arbeitnehmers an den Staat der Arbeitsausübung über die eines typischen Grenzgängers deutlich hinaus, sodass nach dem Willen der Vertragsstaaten der betreffende Arbeitnehmer nicht gem. Art. 15 a DBA Schweiz als Grenzgänger im Wohnsitzstaat, sondern entsprechend der Grundregel des Art. 15 Abs. 1 Satz 2 DBA Schweiz in dem Staat besteuert werden soll, in dem er die Arbeit ausübt.
Zwischen den Beteiligten des vorliegenden Verfahrens ist unstreitig, dass die Klägerin in den Jahren 1994 und 1995 im Rahmen der Drogentherapiemaßnahmen jeweils mehr als 60 mal aus beruflichen Gründen in der Schweiz übernachten musste und nicht an ihren Wohnsitz zurückkehren konnte. Im Jahr 1996, in dem die Klägerin nur bis zum 31. März in der Schweiz beschäftigt war, handelte es sich im Zusammenhang mit den Therapiemaßnahmen unstreitig um 26 Übernachtungen aus beruflichem Anlass. Diesen Übernachtungen ging jeweils ein arbeitsvertraglicher Arbeitstag voraus, der nach Abschnitt II Nr. 2 des Verhandlungsprotokolls vom 18. Dezember 1991 Arbeitstag i. S. v. Art. 15 a Abs. 2 Satz 2 DBA Schweiz ist. Die Klägerin ist daher im Sinne dieser Bestimmung in den Jahren 1994 und 1995 an mehr als 60 Arbeitstagen auf Grund ihrer Arbeitsausübung nicht an ihren Wohnsitz zurückgekehrt und hat daher die Grenze für die Anwendung der Grenzgängerregelung des Art. 15 a DBA Schweiz überschritten, mit der Folge, dass sie nicht im Wohnsitzstaat Deutschland, sondern gem. Art. 15 Abs. 1 Satz 2 DBA Schweiz im Staat der Arbeitsausübung, in der Schweiz, zu besteuern ist. Im Jahr 1996, in dem sie nur in den ersten drei Monaten in der Schweiz beschäftigt war, betrug die Grenze für die Anwendung der Grenzgängerregelung 3 mal 5 Tage = 15 Tage (vgl. Abschnitt II Nr. 3 des Verhandlungsprotokolls vom 18. Dezember 1991). Diese Grenze ist ebenfalls überschritten.
Die angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1994 und 1995 vom 19. Juni 1998 sowie die Einspruchsentscheidung vom 10. August 2001 sind daher aufzuheben. Der Einkommensteuerbescheid 1996, ebenfalls vom 19. Juni 1998, ist dahingehend abzuändern, dass die von der Klägerin in der Schweiz erzielten Einkünfte nur bei der Bemessung des Steuersatzes berücksichtigt werden (Art. 24 Abs. 1 Satz 2 DBA Schweiz, § 32 b Abs. 1 Nr. 2 EStG). Die Neuberechnung der Einkommensteuer 1996 wird dem Finanzamt übertragen (§ 100 Abs. 2 Satz 2 Finanzgerichtsordnung – FGO –).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Revision wird zugelassen, weil die vorliegende Entscheidung von der Rechtsprechung des BFH abweicht und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine erneute Entscheidung des BFH zu Art. 15 a DBA Schweiz erfordert (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO).