Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • 02.11.2010

    Finanzgericht München: Urteil vom 14.10.2008 – 12 K 2884/06

    Die Abzweigung von Kindergeld an das die Kosten für das betreute Wohnen eines volljährigen Kindes übernehmende Jugendamt gem. § 74 Abs. 1 EStG scheidet aus, wenn die Unterhaltsbestimmung der –den Auszug des Kindes nicht befürwortenden – Eltern über die unveränderte Gewährung von Naturalunterhalt nach § 1612 Abs. 2 Satz 1 BGB (mangels gerichtlicher Abänderung) wirksam und damit auch für Dritte bindend ist, so dass die gesetzliche Unterhaltspflicht nicht verletzt wird.


    IM NAMEN DES VOLKES

    URTEIL

    In der Streitsache

    hat der 12. Senat des Finanzgerichts München unter Mitwirkung der Vorsitzenden Richterin am Finanzgericht … der Richterin am Finanzgericht … und … der Richterin am Finanzgericht … sowie der ehrenamtlichen Richter ohne mündliche Verhandlung am 14. Oktober 2008

    für Recht erkannt:

    1. Der Bescheid vom 3. April 2006 und die Einspruchsentscheidung vom 29. Juni 2006 werden aufgehoben.

    2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen werden nicht erstattet.

    3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

    Tatbestand

    Streitig ist, ob der Kindergeldanspruch der Klägerin für die Tochter A (geb. 1987) ab April 2006 zu Recht an das Landratsamt B abgezweigt wurde.

    A besuchte im Jahr 2006 ein Gymnasium in C. Das Landratsamt B – Amt für Jugend und Familie – (der Beigeladene) beantragte mit Schreiben vom 9. März 2006 die Abzweigung des Kindergeldes für A gemäß § 74 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG). Zur Begründung verwies es darauf, dass es für A seit April 2005 Hilfe für junge Volljährige durch Kostenübernahme für das betreute Wohnen leiste.

    Mit Bescheid vom 3. April 2006 zweigte die damals zuständige Familienkasse D ab April 2006 aus dem Kindergeldanspruch der Klägerin monatlich einen Betrag in Höhe von 154 EUR an das Jugendamt des Landkreises B ab.

    Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg (vgl. Einspruchsentscheidung vom 29. Juni 2006). Mit der hiergegen gerichteten Klage trägt die Klägerin vor, dass der Beigeladene A gegen ihren Willen in einer eigenen Wohnung untergebracht habe. Sie könne gem. § 1612 Abs. 2 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gegenüber einem volljährigen unverheirateten Kind bestimmen, in welcher Art und Weise sie dem Kind Unterhalt gewähre. Diese Bestimmung habe sie in der Weise getroffen, dass sie ihrem Kind im eigenen Haus Unterkunft angeboten habe und auch ansonsten den Unterhalt innerhalb der Familie habe gewähren wollen. Im Übrigen zahle sie das Schulgeld für die Tochter. Das Verhältnis zur Tochter sei nicht zerrüttet. Diese habe lediglich gegen den Willen der Eltern mit ihrem drogensüchtigen Freund zusammenleben wollen.

    Die Klägerin beantragt,

    den Bescheid vom 3. April 2006 und die Einspruchsentscheidung vom 29. Juni 2006 aufzuheben.

    Die Beklagte (die nunmehr zuständige Familienkasse E) beantragt Klageabweisung.

    Die Abzweigung sei zu Recht erfolgt, da die Eltern ihrer Unterhaltspflicht nicht nachgekommen seien. Bei der Bestimmung, in welcher Form Unterhalt gewährt werden soll, sei auf die Belange des Kindes Rücksicht zu nehmen. Nach den Feststellungen des Amtes für Jugend und Familie hätte diesen Belangen nur durch einen Auszug des Kindes Rechnung getragen werden können. Daher könnten die Eltern das Kind nicht auf Naturalunterhalt verweisen.

    Mit Beschluss vom 29. Mai 2008 wurde das Landratsamt B – Amt für Jugend und Familie –, vertreten durch den Landrat, zum Verfahren beigeladen.

    Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung – FGO –).

    Entscheidungsgründe

    Die Klage ist begründet.

    1. Die Beklagte hat ab April 2006 zu Unrecht das Kindergeld gemäß § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG an den Beigeladenen abgezweigt.

    Nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG kann das für ein Kind nach § 66 Abs. 1 EStG festgesetzte Kindergeld an das Kind oder die Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt.

    Im Streitfall fehlt es bereits an den tatbestandlichen Voraussetzungen für die Abzweigung.

    Die Klägerin ist ihrer gesetzlichen Unterhaltspflicht nachgekommen.

    Gemäß § 1612 Abs. 2 Satz 1 BGB können Eltern, die einem unverheirateten volljährigen Kind Unterhalt gewähren, bestimmen, in welcher Art und für welche Zeit im Voraus der Unterhalt gewährt werden soll. Dabei ist auf die Belange des Kindes die gebotene Rücksicht zu nehmen. Gemäß Satz 2 dieser Vorschrift kann das Familiengericht auf Antrag des Kindes die Bestimmung der Eltern ändern. Ist die Unterhaltsbestimmung der Eltern gegenüber dem Kind wirksam, kann das Kind keinen Barunterhalt verlangen. Lehnt es den Unterhalt in der elterlich bestimmten Art ab, kann es weder eine Teilunterhaltsrente noch Taschengeld noch den Wert des von den Eltern ersparten Unterhalts verlangen (MünchKommBGB/Born 5. Auflage 2008 § 1612 RdNr. 67). Die Unterhaltsbestimmung muss dabei im Verhältnis zum Kind den gesamten Unterhaltsbedarf umfassen (§ 1610 Abs. 2 Satz 1 BGB), denn dann werden unterhaltsrechtliche Belange des Kindes regelmäßig nicht beeinträchtigt (vgl. Münch-KommBGB/Born § 1612 RdNr. 54).

    Die dem Kind gegenüber wirksam getroffene Bestimmung gilt auch gegenüber Dritten (MünchKommBGB/Born § 1612 RdNr. 52). Eine Unwirksamkeit ist lediglich in Missbrauchsfällen anzunehmen, nicht jedoch bereits bei Vorliegen besonderer Gründe. Diese sind allein im Rahmen der Möglichkeit der gerichtlichen Abänderung der elterlichen Entscheidung von Bedeutung (MünchKommBGB/Born § 1612 RdNr. 69). Als Missbrauchsfälle sind etwa jahrelanges Hinnehmen des Auszugs des Kindes oder ein einvernehmlicher Auszug mit anschließender Weigerung zum Barunterhalt denkbar.

    Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf den Streitfall liegt keine Unterhaltsverletzung durch die Eltern vor. Die Eltern boten ihrer volljährigen unverheirateten Tochter wie auch schon für die Vergangenheit vollumfänglichen Naturalunterhalt und Zahlung des Schulgeldes an. Da sie von Anfang an gegen den Auszug der Tochter waren, sieht der Senat auch kein missbräuchliches Verhalten der Eltern, das zu einer Unwirksamkeit der Bestimmung der Art des Unterhalts führen würde. Die Tatsache, dass es zu Spannungen zwischen Eltern und Kind kam, führt für sich allein nicht zu einer Unwirksamkeit der Bestimmung. Hierbei handelt es sich um Gründe, die nur im Rahmen einer gerichtlichen Abänderung der Unterhaltsbestimmung durch das Familiengericht Berücksichtigung finden könnten. Da eine solche Abänderung nicht erfolgt ist, sind auch Dritte an die wirksame Bestimmung der Eltern über Gewährung von Naturalunterhalt gebunden.

    Da die Voraussetzungen für eine Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG nicht vorliegen, liegen die Voraussetzungen für die von der Familienkasse zu treffende Ermessensentscheidung über eine Abzweigung von Kindergeld nicht vor. Somit sind der Bescheid vom 3. April 2006 und die Einspruchsentscheidung vom 29. Juni 2006 aufzuheben.

    Nicht zu entscheiden hatte das Gericht über den zwischenzeitlich gestellten Antrag des Beigeladenen auf Erstattung von Kindergeld nach § 74 Abs. 2 EStG, da es sich hierbei um zwei verschiedene Verfahren handelt, die nebeneinander stehen. In einem finanzgerichtlichen Verfahren, in dem über die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts nach § 74 Abs. 1 EStG zu entscheiden ist, kann nicht eingewendet werden, die Familienkasse sei wegen des Erstattungsanspruchs ebenso zahlungsverpflichtet, wie sie es bei einer rechtmäßigen Abzweigung wäre (Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 13. August 2007 III B 51/07, BFH/NV 2007, 2276).

    2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 1, 139 Abs. 4 FGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und den Vollstreckungsschutz folgt aus §§ 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.

    VorschriftenEStG § 74 Abs. 1 S. 1, EStG § 74 Abs. 1 S. 4, BGB § 1612 Abs. 2 S. 1