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  • 02.11.2010

    Hessisches Finanzgericht: Urteil vom 20.04.2010 – 1 K 1727/05

    - Eine Änderung nach § 174 Abs. 3 AO setzt die erkennbare Annahme voraus, dass ein bestimmter Sachverhalt in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen ist (Kausalität). Dabei muss sich das Finanzamt in der Weise unmissverständlich festgelegt haben, dass die Nichtberücksichtigung des Sachverhaltes in einem Steuerbescheid einzig und allein auf der Zuordnung zum Regelungsbereich eines andern Bescheides beruht.


    - Besteht der Grund für die Nichtberücksichtigung des bekannten Sachverhaltes in der Unentschiedenheit, ob der Sachverhalt überhaupt der Besteuerung zu unterwerfen ist, so kommt § 174 Abs. 3 als Rechtsgrundlage für eine Steuerfestsetzung nicht in Betracht.


    Tatbestand

    Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Erlass des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids 1995 der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegenstand.

    Die Umsätze und Vorsteuern der Klägerin erklärte zunächst die E zusammen mit ihren eigenen Umsätzen in ihren Umsatzsteuererklärungen. Im Rahmen einer bei der E durchgeführten Betriebsprüfung wurde festgestellt, dass dies zu Unrecht erfolgt war, da die Klägerin weder rechtlich unselbständiger Teil der E noch deren Organtochter war.

    Bereits im Jahr 2002 wurde zwischen den Beteiligten des vorliegenden Verfahrens die Frage aufgeworfen, ob die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit überhaupt der Umsatzbesteuerung zu unterwerfen sei.

    Mit Schreiben vom 10.10.2002 teilte der Beklagte (das Finanzamt – FA –) dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit, dass die aufgeworfene Frage allein das Steuerrechtsverhältnis zur Klägerin betreffe und die Festsetzungen der E zu berichtigen wären. Zur Klärung der Rechtsfrage, ob die Tätigkeit der Klägerin der Umsatzbesteuerung unterliege, solle auch im Hinblick auf eine steuerliche Gleichbehandlung mit einem die gleiche Tätigkeit ausübenden anderen Unternehmen durch die OFD entschieden werden.

    Nachdem das für die Besteuerung der E zuständige Finanzamt die umsatzsteuerlichen Besteuerungsgrundlagen der Klägerin bei den Umsatzsteuerfestsetzungen der E der Jahre 1994 bis 1998 ausgeschieden hatte und am 12.08.2003 u.a. für das Streitjahr 1995 einen geänderten Umsatzsteuerbescheid erlassen hatte, erließ das FA gegenüber der Klägerin erstmalige Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 1994 bis 1998. Mit dem dem vorliegenden Rechtsstreit zugrunde liegenden Umsatzsteuerbescheid 1995 vom 18.12.2003 setzte das FA unter Hinweis auf § 174 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO) gegenüber der Klägerin die Umsatzsteuer auf … EUR fest.

    Die Klägerin legte gegen diesen Bescheid Einspruch ein, den sie im Wesentlichen damit begründete, dass im Zeitpunkt des Erlasses des Umsatzsteuerbescheides bereits Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Zugleich sollte unter Einschaltung der OFD … geklärt werden, ob nicht auch materiellrechtliche Gründe einer Besteuerung entgegenstünden. Das Einspruchsverfahren sollte einvernehmlich bis zur endgültigen Entscheidung der OFD … ruhen.

    Nachdem die OFD … der Klägerin mit Schreiben vom 14.03.2005 mitgeteilt hatte, dass es die gegenüber von ihr erbrachten Leistungen steuerbar und steuerpflichtig seien, nahm das FA das Rechtsbehelfsverfahren wieder auf und wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 25.05.2005 als unbegründet zurück. Die Einspruchsentscheidung beinhaltet allein verfahrensrechtliche Ausführungen zur Änderungsbefugnis des FA.

    Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Aufhebung des angefochtenen Umsatzsteuerbescheides.

    1. Zur Begründung macht sie zunächst verfahrensrechtliche Einwendungen geltend.

    Dem Erlass des angefochtenen Bescheides stehe die mit Ablauf des Jahres 2002 eingetretene Festsetzungsverjährung entgegen. Dem FA sei bereits seit November 2001 und lange vor Eintritt der Festsetzungsverjährung bekannt gewesen, dass zwischen ihr – der Klägerin – und der E keine umsatzsteuerliche Organschaft bestanden habe. Im Übrigen habe das FA selbst auf einen Änderungsantrag zu den Umsatzsteuerfestsetzungen 1996 und 1997 gegenüber der Klägerin erwidert, einer Änderung stehe der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegen.

    Entgegen der vom FA vertretenen Auffassung lägen im Streitfall auch die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 174 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO) nicht vor. Dem stehe bereits entgegen, dass eine Änderung nur bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist bei der Klägerin zulässig sei, da § 174 Abs. 3 Satz 2 AO keine Ablaufhemmung enthalte, sondern lediglich eine dahingehende Einschränkung, dass eine Änderung nur erfolgen könne, wenn auch hinsichtlich des „anderen Bescheides” noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Im Übrigen habe eine Anwendung des § 174 Abs. 3 AO zur Voraussetzung, dass zuvor bereits ein Umsatzsteuerbescheid gegenüber der Klägerin ergangen wäre, der geändert werden könne, woran es aber im Streitfall fehle.

    2. Des Weiteren macht die Klägerin materiellrechtliche Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung geltend…………

    Die Klägerin beantragt,

    den Umsatzsteuerbescheid 1995 vom 18.12.2003 und die Einspruchsentscheidung vom 25.05.2003 aufzuheben,

    hilfsweise,

    die Umsatzsteuer 1995 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung auf 0,-- EUR herabzusetzen,

    Das FA beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Es macht geltend, der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig.

    1. Mit ihrem Einwand, der Festsetzung stehe der Ablauf der Festsetzungsfrist bei der Klägerin entgegen, verkenne diese, dass § 174 Abs. 3 Satz 2 AO eine Festsetzung bis zum Ablauf der bei der E geltenden Festsetzungsfrist gestatte. Da im Zeitpunkt der Bekanntgabe des streitigen Bescheides die Festsetzungsfrist bei der E noch nicht abgelaufen gewesen sei und der Klägerin bekannt gewesen sei, dass eine Besteuerung bei ihr nur deshalb unterblieben war, weil ihre Umsätze und Vorsteuern von der E in deren Steuererklärungen erklärt worden waren und deshalb in deren Umsatzsteuerbescheiden enthalten waren, sei der erstmalige Erlass eines Umsatzsteuerbescheides gegenüber der Klägerin noch zulässig gewesen.

    Der vorsorglich ergangene Hinweis des Gerichts auf die in dem Urteil des BFH vom 15.01.2009 III R 81/07 (BFH/NV 2009, 1073 ff.) enthaltenen Ausführungen rechtfertige keine andere Beurteilung, da in diesem Fall – anders als Streitfall – weder erkennbar gewesen sei, ob eine Besteuerung erfolgen solle noch in welchem Jahr. Im Übrigen verweist das FA insoweit auf die in der Einspruchsentscheidung enthaltenen Ausführungen.

    2. Es folgen weitere Ausführungen zur materiellen Rechtmäßigkeit des Bescheides.

    Gründe

    Die Klage ist begründet.

    Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten nach § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO und war deshalb aufzuheben.

    Das FA war nicht befugt, am 18.12.2003 erstmals gegenüber der Klägerin

    einen Umsatzsteuerbescheid für 1995 zu erlassen.

    Für die Umsatzsteuer 1995 begann die Festsetzungsfrist gemäß § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO mit dem Ablauf des Jahres 1998 und endete gemäß § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO mit Ablauf des Jahres 2002. Tatsachen, die die Annahme einer leichtfertigen Steuerverkürzung und damit eine Verlängerung der Festsetzungsfrist begründen könnten, sind für den Senat nicht ersichtlich.

    Im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen erstmaligen Umsatzsteuerbescheides 1995, am 18.12.2003, war die Festsetzungsfrist somit bereits abgelaufen, sodass der angefochtene Bescheid nur bei Vorliegen der in § 174 Abs. 3 AO normierten Voraussetzungen hätte ergehen dürfen.

    Ist ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und stellt sich diese Annahme als unrichtig heraus, so kann die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung des Sachverhalts unterblieben ist, insoweit gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 AO nachgeholt, aufgehoben oder geändert werden. Gemäß Satz 2 ist die Nachholung, Aufhebung oder Änderung nur zulässig bis zum Ablauf der für die andere Steuerfestsetzung geltenden Festsetzungsfrist.

    Hierdurch soll verhindert werden, dass ein steuererhöhender oder steuermindernder Vorgang bei der Besteuerung überhaupt nicht berücksichtigt wird (negativer Widerstreit). Die Vorschrift erlaubt deshalb eine Änderung, wenn ein bestimmter Sachverhalt erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt wurde, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu erfassen sei (BFH-Urteil vom 15.01.2009 III R 81/07, BFH/NV 2009, 1073 ff.).

    Die erforderliche Erkennbarkeit für den von der Nachholung, Aufhebung oder Änderung betroffenen Steuerpflichtigen setzt voraus, dass für diesen bis zum Ablauf der für ihn geltenden regulären Festsetzungsfrist bei verständiger Würdigung erkennbar ist, dass der Sachverhalt nur deshalb bei ihm nicht berücksichtigt worden ist, weil er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei (BFH a.a.O.). Hierbei muss die erkennbare Annahme, dass ein bestimmter Sachverhalt in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, – in sinnvoller Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 174 Abs. 3 AO – für dessen Nichtberücksichtigung kausal geworden sein (BFH-Urteil vom 14.01.2010 IV R 33/07, BFH/NV 2010, 964).

    Die Behörde muss sich mit ihrer Meinungsbildung unmissverständlich festgelegt haben, und zwar in der Weise, dass sie sich gegen die Berücksichtigung in einem Steuerbescheid einzig und allein im Hinblick auf die Zuordnung zum Regelungsbereich eines anderen entschieden hat, nicht aber etwa, dass sie sich entschieden hat, einen bestimmten Sachverhalt überhaupt nicht zu berücksichtigen, weil sie ihn z.B. als nicht steuerbar, als steuerfrei oder als rechtsunerheblich angesehen hat. Da eine solche Annahme für die Entscheidung gegen die Berücksichtigung ursächlich gewesen sein muss, muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit z.B. ausgeschlossen werden können, dass die Erlassbehörde in Wahrheit der Meinung war, der Vorgang sei überhaupt nicht steuerbar oder steuerfrei (v. Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler AO/FGO, Rn. 183. f. zu § 174 AO).

    Eine derartige Einschränkung ist nach der Überzeugung des Senats auch deshalb geboten, weil § 174 Abs. 3 AO trotz Bestandskraft einen Eingriff in die Rechte des Steuerpflichtigen ermöglicht und zu einer Verlängerung der Festsetzungsfrist führen kann (vgl. insoweit Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 22.04.2009 6 K 2821/02, zitiert nach juris).

    Eine Berücksichtigung dieser Grundsätze hat für die Beurteilung des Streitfalles zur Folge, dass der Erlass des streitigen Bescheides nicht mehr zulässig war.

    Die zunächst erfolgte Berücksichtigung des Sachverhalts bei der Besteuerung der E war nicht kausal für die Nichtberücksichtigung des Sachverhalts bei der Klägerin.

    Das beklagte FA hatte zunächst überhaupt keine Kenntnis von dem Sachverhalt gehabt. Es hat aber noch innerhalb der Festsetzungsfrist – und zwar spätestens im Jahr 2002 – Kenntnis davon erlangt, dass die Umsätze und Vorsteuern der Klägerin zu Unrecht bei der E der Besteuerung unterworfen worden waren und dort auszuscheiden waren.

    Trotz dieser Kenntnis hat es das FA unterlassen, den Sachverhalt bei der Klägerin bis zum Ablauf der für diese grundsätzlich geltenden Festsetzungsfrist der Besteuerung zu unterwerfen, sondern vielmehr zunächst abgewartet, bis das für die E zuständige Finanzamt deren Umsatzsteuerbescheide geändert hatte. Dies allein würde einem Erlass des streitigen Bescheides nicht entgegenstehen, wenn für die Klägerin erkennbar gewesen wäre, dass eine Besteuerung auf jeden Fall bei ihr erfolgen solle.

    Dies war indes nicht der Fall. Vielmehr ergibt sich aus dem an die Bevollmächtigten der Klägerin gerichteten Schreiben des FA vom 10.10.2002, dass das FA zu diesem Zeitpunkt weder eine abschließende Entscheidung treffen wollte noch gar schon getroffen hatte, ob gegenüber der Klägerin ein Umsatzsteuerbescheid für 1995 ergehen soll. Vielmehr sollte diese Rechtsfrage der OFD … zur Entscheidung vorgelegt werden. Spätestens ab diesem Zeitpunkt, in dem eine erstmalige Umsatzsteuerfestsetzung für 1995 gegenüber der Klägerin zweifelsfrei noch zulässig gewesen wäre, war die erfolgte und als fehlerhaft erkannte Erfassung des Sachverhalts bei der E nicht mehr ursächlich für die Nichterfassung bei der Klägerin, sondern vielmehr die Tatsache, dass geprüft werden sollte, ob die Tätigkeit der Klägerin überhaupt der Umsatzbesteuerung zu unterwerfen ist. Besteht der Grund für die Nichtberücksichtigung des bekannten Sachverhalts aber nicht mehr in der Berücksichtigung des Sachverhalts in einem anderen Steuerbescheid, sondern in der Unentschiedenheit, ob der Sachverhalt überhaupt der Umsatzbesteuerung zu unterwerfen ist, so kommt § 174 Abs. 3 AO als Rechtsgrundlage für eine Steuerfestsetzung nicht mehr in Betracht.

    Soweit das FA die Auffassung vertritt, aus dem BFH-Urteil vom 15.01.2009 III R 81/07 (BFH/NV 2009, 1073 ff.) ergebe sich, dass § 174 Abs. 3 AO nur dann nicht anwendbar sei, wenn für den Steuerpflichtigen sowohl nicht erkennbar sei, ob, als auch in welchem Besteuerungszeitraum eine Berücksichtigung des Sachverhalts erfolgen solle, im vorliegenden Streitfall aber erkennbar gewesen sei, dass eine Besteuerung nur für 1995 in Betracht komme, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Denn allein der Umstand, dass für die Klägerin erkennbar war, dass eine Besteuerung, falls eine solche überhaupt erfolgen sollte, nur für das Streitjahr 1995 in Betracht kommen konnte, ändert nichts daran, dass die Berücksichtigung in dem Steuerbescheid der E nicht kausal für die bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung nicht erfolgte Besteuerung bei der Klägerin gewesen ist.

    Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, die über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 151 Abs. 1 u. 3 FGO i.V.m. §§ 708, 711 der Zivilprozessordnung und die Entscheidung über die Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren auf § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO.

    VorschriftenAO § 174 Abs. 3