02.11.2010
Finanzgericht Berlin-Brandenburg: Urteil vom 15.06.2010 – 6 K 6216/06 B
1. Der Begriff der Unbilligkeit des § 163 AO ist mit demjenigen des § 227 AO identisch.
2. Allein die Einschränkung des gewerbesteuerlichen Verlustvortrags durch eine zeitliche Streckung gem. § 10a Satz 2 GewStG begründet keine sachliche Unbilligkeit i. S. v. § 163 Satz 1 AO.
3. Das Fehlen einer Sonderregelung in § 10a Sätze 1 und 2 GewStG für den Fall eines endgültigen Ausschlusses (Untergangs) des bei Anwendung der Mindestbesteuerung verbleibenden Verlustvortrags bzw. Fehlbetrags (im Streitfall wegen Einstellung der gewerblichen Tätigkeit und des Ausschlusses einer zukünftigen Entstehung von Gewinnen) rechtfertigt die besondere Prüfung einer sachlichen Unbilligkeit i. S. v. §§ 163 Satz 1, 227 AO.
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
In dem Rechtsstreit
hat das Finanzgericht Berlin-Brandenburg – 6. Senat – auf Grund mündlicher Verhandlung vom 15. Juni 2010 durch den Vorsitzenden Richter am Finanzgericht …, die Richterin am Finanzgericht …, den Richter am Finanzgericht … sowie die ehrenamtlichen Richter Herr … und Herr …
für Recht erkannt:
Unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 19. Mai 2006 wird der Beklagte verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf Billigkeitsfestsetzung nach § 163 Satz 1 AO bzw. Billigkeitserlass nach § 227 AO bezüglich des Gewerbesteuermessbetrags 2004 und der Gewerbesteuer 2004 neu zu bescheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Klägerin und dem Beklagten jeweils zur Hälfte auferlegt.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin ist eine in Liquidation befindliche Grundstücksentwicklungsgesellschaft, die eine Billigkeitsmaßnahme hinsichtlich des Gewerbesteuermessbetrags bzw. der Gewerbesteuer 2004 begehrt, nämlich entweder eine Billigkeitsfestsetzung nach § 163 Satz 1 Abgabenordnung – AO – oder einen Erlass gemäß § 227 AO.
Komplementärin der Klägerin war die nicht am Kapital der Klägerin beteiligte D GmbH (nunmehr: i. L.); Kommanditisten waren ursprünglich die E AG und Herr C, seit 2002 nur noch die E AG und seit 2004 die B AG.
Die Klägerin erwarb mit Kaufvertrag vom 26. Oktober 2001 von der G AG das Grundstück XY-Straße … in Z. Die Klägerin plante, das mit einem … bebaute Grundstück zu modernisieren und zu veräußern.
Mit Darlehensvertrag vom 23. Dezember 2002 gewährte die H Bank AG der Klägerin ein Mezzanine-Darlehen über EUR 1.250.000,–, das am 31. Dezember 2003 auf Grund der zwischenzeitlich fällig gewordenen Zinsen in Höhe von EUR 1.370.331,61 valutierte. Weiterhin gewährte auch die Gesellschafterin E AG im Jahr 2003 der Klägerin Darlehen, die die Klägerin als Verbindlichkeiten auf dem Verrechnungskonto buchte und dessen Stand am 31. Dezember 2003 EUR 496.751,23 betrug.
Auf Grund der Planungsmaßnahmen und Finanzierungskosten erlitt die Klägerin in den Erhebungszeiträumen 2001 bis 2003 folgende Verluste:
Erhebungszeitraum | Verlust |
2001 | DM 37.952,25 |
2002 | EUR 598.628,23 |
2003 | EUR 2.556.218,91 |
Nachdem sich Ende 2003 das Scheitern des Projekts abgezeichnet hatte, schloss die Klägerin am 17. Februar 2004 einen Aufhebungsvertrag mit der G AG, so dass die Klägerin zur Rückgabe des Grundstücks verpflichtet war und über kein weiteres (Aktiv-)Vermögen mehr verfügte. Um die Insolvenz zu vermeiden, bat die Klägerin mit Schriftsatz vom 20. Februar 2004 die H Bank AG als Hauptgläubigerin um einen Verzicht ihrer Forderung. Am 02. Juli 2004 vereinbarten die H Bank AG und die Klägerin einen Verzicht auf sämtliche Forderungen der H Bank AG; der Verzicht wurde mit einer Besserungsabrede versehen. Nach Angaben der Klägerin verzichteten auch die B AG sowie die weiteren Gläubiger auf ihre Forderungen, so dass insgesamt die folgenden Forderungen entfielen:
Gläubiger | Forderungsverzicht (in EUR) |
H Bank AG | 1.370.332 |
G AG | 235.897 |
B AG | 189.780 |
I GmbH | 96.361 |
D GmbH i. L. | 27.320 |
weitere Gläubiger | 25.237 |
Summe | 1.944.927 |
Der Beklagte setzte mit Bescheid vom 19. Dezember 2005 den Gewerbesteuermessbetrag 2004 auf EUR 14.830,– und die Gewerbesteuer auf EUR 60.803,– fest. Hierbei ging er von einem Gewinn aus Gewerbebetrieb in Höhe von EUR 1.862.924,– aus und zog hiervon einen Verlustvortrag von EUR 1.517.754,– ab; dieser Betrag ergab sich aus dem zum 31. Dezember 2003 festgestellten vortragsfähigen Verlust zur Gewerbesteuer in Höhe des Höchstbetrags von EUR 1.000.000,– sowie in Höhe von 60 % des übersteigenden Betrags von EUR 862.924,– (= EUR 517.754,–). Danach verblieb ein gerundeter Gewerbeertrag von EUR 345.100,–; dies waren – unter Berücksichtigung der Abrundung – 40 % von EUR 862.924,–, die gemäß § 10a Satz 2 Gewerbesteuergesetz – GewStG – unberücksichtigt blieben. Zugleich stellte der Beklagte den vortragsfähigen Verlust zur Gewerbesteuer zum 31. Dezember 2004 auf EUR 1.138.807,– fest. Dieser Betrag ergab sich aus der Summe des zum Vorjahr festgestellten Verlustvortrags von EUR 2.656.561,– abzüglich des Verlustvortrags im Erhebungszeitraum 2004 von EUR 1.517.754,–.
Gegen die Bescheide über den Gewerbesteuermessbetrag 2004 und die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Verlustes zur Gewerbesteuer zum 31. Dezember 2004 legte die Klägerin mit Schreiben vom 17. Januar 2006 fristgerecht Einspruch ein und rügte einen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot. In einem weiteren Schreiben vom selben Tag beantragte sie einen Erlass der Gewerbesteuer in Höhe von EUR 60.803,– und stützte dies – ausweislich des Rubrums ihres Schriftsatzes – auf § 163 AO. Sie machte geltend, dass die Einschränkung des Verlustvortrags zu einer Mindestbesteuerung führe, obwohl wirtschaftlich gesehen kein Gewinn entstanden sei. Weiterhin beantragte sie die Aussetzung der Vollziehung des Gewerbesteuerbescheids 2004.
Der Beklagte lehnte mit Schreiben vom 25. Januar 2006 – im Rahmen einer Stellungnahme zu dem Einspruch, zu dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung und zu dem Antrag auf Erlass – einen Erlass nach § 227 AO ab, ohne sich zu einer Billigkeitsfestsetzung nach § 163 AO zu äußern. Dem Schreiben, das am 06. Februar 2006 zur Post aufgegeben wurde, war eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt, die die Ablehnung des Erlassantrags betraf.
Am 01. März 2006 legte die Klägerin Einspruch „gegen die Ablehnung der Vollziehungsaussetzung” ein und beantragte zusätzlich eine Billigkeitsfestsetzung nach § 163 Satz 1 AO auf EUR 0,–.
Mit Datum vom 19. Mai 2006 erließ der Beklagte eine Einspruchsentscheidung, mit der er den Einspruch als unbegründet zurückwies. Die Einspruchsentscheidung begründete der Beklagte damit, dass die Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags und der Gewerbesteuer im Einklang mit der Regelung des § 10a GewStG stehe.
Eine Billigkeitsfestsetzung nach § 163 AO komme nicht in Betracht. Der Bundesfinanzhof – BFH – habe mit Urteil vom 31. März 2004, X R 25/03, die Erhebung einer Steuer vor allem nur dann als unbillig angesehen, wenn sie im Einzelfall nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht zu rechtfertigen sei und dessen Wertungen zuwiderlaufe. Eine Billigkeitsmaßnahme dürfe nicht dazu führen, die generelle Geltungsanordnung des den Steueranspruch begründenden Gesetzes zu unterlaufen. In diesem Urteil sei es um die Nichtberücksichtigung von Verlusten nach § 10d Einkommensteuergesetz – EStG – gegangen, die lediglich nur beschränkt geltend gemacht werden könnten. Nach dem BFH habe der Gesetzgeber die mit der Beschränkung des Verlustabzugs verbundenen Härten ersichtlich bewusst in Kauf genommen, so dass eine Billigkeitsmaßnahme die generelle Geltungsanordnung des Steuergesetzes unterlaufen würde. Die Grundsätze der BFH-Entscheidung ließen sich auf die Neuregelung des § 10a GewStG zum 01. Januar 2004 und die damit verbundene Einführung der Mindestbesteuerung übertragen.
Mit ihrer fristgerecht erhobenen Klage begehrt die Klägerin den Erlass des Gewerbesteuermessbetrags 2004 bzw. der Gewerbesteuer 2004 aus sachlichen Billigkeitsgründen gemäß § 227 AO bzw. die Festsetzung auf Null gemäß § 163 AO.
Nach Auffassung der Klägerin ist die Festsetzung der Steuer sachlich unbillig, weil sie keinen Gewinn erzielt, sondern ein negatives Totalergebnis erwirtschaftet habe. Der positive Steuermessbetrag beruhe allein auf der Abzugsbegrenzung des § 10a Satz 2 GewStG. Die Bilanz zum 31. Dezember 2004 weise einen Bilanzverlust von EUR 1.313.783 aus. Dem im Jahr 2004 ausgewiesenen Gewinn stünden keine entsprechenden Einnahmen gegenüber, dem eine wirkliche Mehrung an Leistungskraft entspreche. Die Erhebung einer Steuer, der in Wirklichkeit keinerlei Zuwachs an Leistungskraft zu Grunde liege, verstoße gegen das Übermaßverbot und gegen das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit (BFH, Urteil vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BStBl. II 1995, 297).
Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, ein Verpflichtungsurteil und nicht lediglich ein Bescheidungsurteil anzustreben.
Die Klägerin beantragt,
den Gewerbesteuermessbetrag 2004 bzw. die Gewerbesteuer 2004 aus sachlichen Billigkeitsgründen auf Null festzusetzen (§§ 163 Satz 1, § 184 Abs. 1 Satz 3 AO) bzw. zu erlassen (§ 227 AO).
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es sei verfassungsrechtlich geklärt, dass ein Verlustvortrag zeitlich beschränkt werden könne. Damit verbundene Härten habe der Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen. Nach dem BFH sei die Besteuerung eines Veräußerungsgewinns selbst dann nicht unbillig, wenn die bis 1984 entstandenen Verluste steuerlich unberücksichtigt geblieben seien (BFH, Urteil vom 31. März 2004 X R 25/03, BFH/NV 2004, 1212). Im Streitfall liege eine Vermögensmehrung vor, weil sich der Bilanzverlust auf Grund des Forderungsverzichts gemindert habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands nimmt der Senat Bezug auf den Inhalt der Akten, insbesondere auf die Verzichtserklärung der H Bank AG.
Entscheidungsgründe
I. Die Klage ist zulässig.
1. Der Senat legt die Klage als Verpflichtungsklage im Sinne von § 101 Finanzgerichtsordnung – FGO – aus. Die Klägerin bestreitet nicht die Rechtmäßigkeit des Gewerbesteuermessbescheids und Gewerbesteuerbescheids, sondern begehrt eine Billigkeitsfestsetzung nach § 163 Satz 1 AO bzw. einen Erlass aus Billigkeitsgründen nach § 227 AO, die jeweils nur über eine Verpflichtungsklage herbeigeführt werden können (Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 163 Rz. 139 sowie § 227 Rz. 28).
2. Das für eine Billigkeitsentscheidung nach § 163 AO, § 227 AO erforderliche Vorverfahren gemäß § 44 FGO ist im Ergebnis durchgeführt worden. Hiervon gehen auch die Beteiligten übereinstimmend aus.
a) Die Klägerin hat mit Schreiben vom 17. Januar 2006 ausweislich ihres Rubrums in diesem Schriftsatz einen „Erlassantrag nach § 163 AO” gestellt und beantragt, die „Gewerbesteuer 2004 in Höhe von EUR 60.803,00 wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen”.
Dieses Schreiben ist dahingehend zu verstehen, dass die Klägerin eine Billigkeitsmaßnahme entweder nach § 163 AO – hierfür spricht das Rubrum – oder nach § 227 AO – hierfür spricht der auf Erlass gerichtete Antrag – begehrte. Diesen Antrag hat der Beklagte sinngemäß mit Bescheid vom 25. Januar 2006 abgelehnt, auch wenn dieser Ablehnungsbescheid ausdrücklich nur § 227 AO betraf. Der Beklagte hat nämlich zu erkennen gegeben, dass er eine sachliche Unbilligkeit, die im Rahmen beider Vorschriften die wesentliche Voraussetzung für die begehrte Billigkeitsmaßnahme ist, verneint. Hiergegen hat die Klägerin am 01. März 2006 Einspruch eingelegt, der sich seinem Wortlaut zwar nur gegen die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung richtet, aber inhaltlich auch als Einspruch gegen die Ablehnung des Erlassantrags zu verstehen ist, da die Klägerin weiterhin Billigkeitsmaßnahmen beantragte.
b) Die Zulässigkeitsvoraussetzung des § 44 FGO ist auch dann erfüllt, wenn sich der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 25. Januar 2006 nur auf den Erlassantrag nach § 227 AO bezogen haben sollte. Dann fehlt es zwar an einem Ablehnungsbescheid des Beklagten und folgerichtig auch an einem Einspruch der Klägerin, nachdem der Beklagte auch auf den erneuten Antrag nach § 163 Satz 1 AO vom 01. März 2006 nicht mit einem Ablehnungsbescheid reagiert hat, sondern hierauf sogleich eine Einspruchsentscheidung mit Datum vom 19. Mai 2006 erlassen hat.
Das nach § 44 FGO erforderliche Vorverfahren ist nämlich auch dann durchgeführt, wenn die Finanzbehörde sogleich eine Einspruchsentscheidung mit einer Rechtsmittelbelehrung (also ohne Rechtsbehelfbelehrung) erlässt. Die Klägerin könnte in diesem Fall zwar statt der von ihr erhobenen Verpflichtungsklage (s. oben unter 1.) eine isolierte Anfechtungsklage erheben, weil die Einspruchsentscheidung rechtswidrig ist, da ihr weder ein Ablehnungsbescheid noch ein Einspruch zu Grunde liegt (so FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22. April 2009 2 K 1674/07, EFG 2010, 2, unter I. der Gründe, Rev. beim BFH: III R 39/09). Die Klägerin strebt aber ebenso wie der Beklagte eine Entscheidung in der Sache an und keine Aufhebung der Einspruchsentscheidung aus lediglich formellen Gründen. Hierfür sprechen neben ihrem Verpflichtungsantrag und der erkennbar kurzen Dauer des Einspruchsverfahrens sowie der inhaltlichen Ausführungen in der Klageschrift und -erwiderung insbesondere die Ausführungen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung.
II. Die Klage ist auch teilweise begründet. Die Verpflichtungsklage hat in ihrer Unterform der Bescheidungsklage gemäß § 101 Satz 2 FGO Erfolg. Denn die vom Beklagten nach § 163 AO, § 227 AO zu treffende Billigkeitsentscheidung ist eine Ermessensentscheidung (s. unter II. 1. der Gründe), die der Beklagte fehlerhaft im Sinne von § 102 FGO ausgeübt hat. Der Beklagte hat nämlich nicht hinreichend berücksichtigt, dass die Klägerin ihre wirtschaftliche Tätigkeit beendet hat und damit im Streitfall der vortragsfähige Gewerbeverlust endgültig untergeht (s. unter II. 2. der Gründe). Der Beklagte wird daher eine erneute Ermessensentscheidung unter Berücksichtigung dieses Umstandes treffen müssen.
Im Übrigen ist die Klage unbegründet, da kein Fall einer Ermessensreduzierung im Sinne von § 101 Satz 1 FGO vorliegt, der ein Verpflichtungsurteil rechtfertigen würde (s. unter II. 3. der Gründe).
1. Sowohl die Billigkeitsfestsetzung nach § 163 AO als auch der Billigkeitserlass nach § 227 AO sind Ermessensentscheidungen, die gerichtlich nach § 102 FGO nur daraufhin überprüft werden können, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist.
Inhalt und Grenzen des Ermessens im Sinne von § 5 AO werden durch den Begriff der Unbilligkeit bestimmt (vgl. Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BStBl. II 1972, 603; BFH, Urteil vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BStBl. II 1995, 297). Der Begriff der Unbilligkeit des § 163 AO ist mit dem des § 227 AO identisch (vgl. Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 163 AO Rz. 7). Die Unbilligkeit kann sich entweder – wie im Streitfall – aus der Sache heraus ergeben oder ihren Grund in der Person des Steuerpflichtigen haben.
2. Da im Streitfall die von der Klägerin geltend gemachten Billigkeitsgründe bereits bei Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags und der Gewerbesteuer hätten geprüft werden können, spricht dies trotz der Identität des Unbilligkeitsbegriffs in beiden Vorschriften für eine Vorrangigkeit der Billigkeitsmaßnahme nach § 163 Satz 1 AO gegenüber dem im Erhebungsverfahren auszusprechenden Erlass nach § 227 AO (s. hierzu Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 163 Rz. 1). Der Beklagte hat die Voraussetzungen des § 163 Satz 1 AO ermessensfehlerhaft verneint.
a) Allein die Einschränkung des gewerbesteuerlichen Verlustvortrags durch eine zeitliche Streckung gemäß § 10a Satz 2 GewStG begründet zwar keine sachliche Unbilligkeit im Sinne von § 163 Satz 1 AO.
aa) Nach § 10a Satz 1 GewStG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gewerbesteuergesetzes und anderer Gesetze (GewStÄndG) vom 23. Dezember 2003 (BGBl. I 2003, 2922) kann der Gewerbeertrag bis zu einem Betrag von EUR 1 Mio. um die Fehlbeträge gekürzt werden, die sich bei der Ermittlung des Gewerbeertrags für die vorangegangene Erhebungszeiträume ergeben haben und soweit diese Fehlbeträge bei der Ermittlung des Gewerbeertrags für die vorangegangenen Erhebungszeiträume nicht berücksichtigt worden sind. Darüber hinausgehende Fehlbeträge aus früheren Erhebungszeiträumen können nur noch um 60 % des 1 Mio. EUR übersteigenden Fehlbetrags berücksichtigt werden. Eine entsprechende Regelung ist durch das Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz vom 22. Dezember 2003 (BGBl. I 2003, 2840) auch bei der Einkommensteuer in § 10d Abs. 2 EStG eingeführt worden.
bb) Sind (laufender) Gewerbeertrag und vorträgsfähiger Gewerbeverlust jeweils höher als EUR 1 Mio., kommt es somit zu einer Mindestbesteuerung, weil der uneingeschränkte Verlustvortrag nicht mehr möglich ist und damit ein Teil des Gewerbeertrags zu versteuern ist, obwohl noch ein vortragsfähiger Gewerbeverlust vorhanden ist. Allerdings kann dieser vortragsfähige Verlust nach Maßgabe des § 10a Sätze 1 und 2 GewStG in folgenden Erhebungszeiträumen genutzt werden und geht folglich nicht vollständig unter, wie dies etwa bei bestimmten Umstrukturierungen nach § 4 Abs. 2 Satz 2 UmwStG oder nach § 8c Abs. 1 KStG der Fall sein kann. Im Ergebnis kommt es damit regelmäßig nur zu einer vorgezogenen Besteuerung (Mindestbesteuerung), wenn das Unternehmen in den Folgejahren Gewinne erwirtschaftet.
cc) Die sich aus den vorstehenden Ausführungen ergebende zeitliche Streckung des Verlustausgleichs ist sachlich nicht unbillig. Die bisher einhellige Rechtsprechung zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der zeitlichen Streckung des Verlustausgleichs (so etwa BFH, Beschluss vom 27. Januar 2006 VIII B 179/05, BFH/NV 2006, 1150, mit weiteren Nachweisen; FG München, Beschluss vom 31. Juli 2008 8 V 1588/08, EFG 2008, 1736; FG Nürnberg, Beschluss vom 17. März 2010 1 V 1379/2009, Juris) lässt sich auf den Bereich der sachlichen Unbilligkeit dahingehend übertragen, dass der Gesetzgeber mit der Einführung der Neuregelungen in § 10a Sätze 1 und 2 GewStG, § 10d Abs. 2 EStG eine gewisse Härte, nämlich die (vorübergehende) Mindestbesteuerung, in Kauf genommen hat.
b) Eine sachliche Unbilligkeit kann hingegen anzunehmen sein, wenn es nicht nur zu einer Beschränkung des Verlustausgleichs im Sinne einer zeitlichen Verschiebung kommt, sondern zu einem endgültigen Ausschluss des Verlustausgleichs aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen.
aa) Zwar führt nach Auffassung des Senats nicht jeder endgültige Wegfall eines Verlustvortrags (etwa beim Tod des Steuerpflichtigen oder der Auflösung einer Kapitalgesellschaft oder ausbleibenden Gewinnen) zu einer sachlichen Unbilligkeit, sondern lässt sich noch als zwangsläufige Folge der zeitlichen Verschiebung verstehen. Je nach Höhe der verbleibenden Verlustvorträge und wirtschaftlicher Entwicklung des Gewerbebetriebs wird es in Einzelfällen unvermeidbar sein, dass aus einer (vorübergehenden) Mindestbesteuerung eine endgültige Besteuerung wird. Ob in diesen Fällen eine Billigkeitsfestsetzung bzw. – näher liegend: ein Erlass nach § 227 AO – gerechtfertigt ist, braucht der Senat nicht zu entscheiden.
bb) Eine sachliche Unbilligkeit kann aber anzunehmen sein, wenn bereits im Zeitpunkt der Mindestbesteuerung – dies kann der 31. Dezember des entsprechenden Erhebungszeitraums, möglicherweise auch das Datum des entsprechenden Steuerbescheids für diesen Zeitraum sein – feststeht, dass eine spätere Nutzung des durch die Neuregelung vorerst nicht nutzbaren Teils des Verlustvortrags definitiv ausgeschlossen ist, weil z. B. der Gewerbebetrieb seine Tätigkeit eingestellt hat und über keine stillen Reserven verfügt, so dass er keine Gewinne mehr erwirtschaften kann. In diesem Fall wird aus der (vorübergehenden) Mindestbesteuerung eine endgültige Steuerbelastung auf einen periodenübergreifend betracht nicht vorhandenen Gewinn. Während der BFH die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Mindestbesteuerung für diesen Fall offen gelassen hat (so BFH in BFH/NV 2006, 1150), haben die Finanzgerichte München (in EFG 2008, 1736, zu § 10a GewStG) und Nürnberg (a.a.O, Juris, zu § 8 Abs. 1 KStG in Verbindung mit § 10d Abs. 2 EStG) im Rahmen von vorläufigen Verfahren verfassungsrechtliche Zweifel geäußert und Aussetzung der Vollziehung gewährt.
cc) Der Senat teilt die Bedenken dieser Finanzgerichte und ist der Auffassung, dass das Fehlen einer Sonderregelung in § 10a Sätze 1 und 2 GewStG für den Fall eines endgültigen Ausschlusses (Untergangs) des bei Anwendung der Mindestbesteuerung verbleibenden Verlustvortrags bzw. Fehlbetrags die besondere Prüfung einer sachlichen Unbilligkeit im Sinne von §§ 163 Satz 1, 227 AO rechtfertigt. Es handelt sich weder um eine bloße zeitliche Verschiebung der Nutzbarkeit des Verlustvortrags noch um einen späteren – d. h. nach Wirksamwerden der maßgeblichen Steuerbescheide für das Jahr der Mindestbesteuerung – Untergang des zunächst nach § 10a Sätze 1 und 2 GewStG nicht berücksichtigten Teils des vortragsfähigen Gewerbeverlustes, sondern um eine Definitivbelastung eines bei periodenübergreifender Betrachtung nicht entstandenen Gewerbeertrags. Diese Definitivbesteuerung weicht zum einen von dem Konzept des Gesetzgebers ab, der lediglich eine Abflachung und zeitliche Streckung des Verlustausgleichs und damit eine vorübergehende Besteuerung in Kauf genommen hat. Zum anderen ist die endgültige Besteuerung mit den Grundsätzen des sog. objektiven Nettoprinzips, das auch im Gewerbesteuerrecht gilt, nicht ohne Weiteres vereinbar, wenn bereits im Besteuerungszeitraum der Untergang des nach Anwendung der Mindestbesteuerung verbleibenden Teils des Verlustvortrags hinreichend absehbar ist. Denn im Ergebnis muss der Steuerpflichtige dann endgültig einen wirtschaftlich nicht entstandenen Totalgewinn versteuern.
c) Der Anwendbarkeit des § 163 Satz 1 AO steht nicht entgegen, dass der Grund, der für eine sachliche Unbilligkeit spricht, nämlich die absehbare Definitivbesteuerung, zumindest auch Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm begründet. Die auf § 163 Satz 1 AO, § 227 AO gestützte Verpflichtungsklage ist deshalb weder nachrangig gegenüber einer Anfechtungsklage in Verbindung mit einem Vorlagebeschluss nach Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz – GG –, noch ist deshalb die Auslegung des Begriffs der Unbilligkeit auf Punkte beschränkt, die sich aus einfachgesetzlichen Bedenken ableiten ließen.
3. Der Beklagte hat bei seiner Ermessensentscheidung nicht hinreichend berücksichtigt, dass im Streitfall bereits am Ende des Erhebungszeitraums 2004 und damit auch bei Wirksamkeit des Gewerbesteuermess- und Gewerbesteuerbescheids 2004 erkennbar war, dass der Verlustausgleich von gerundet EUR 345.100,– aus tatsächlichen Gründen ausgeschlossen sein wird. Die Beteiligten sind insoweit übereinstimmend davon ausgegangen, dass die Klägerin ihre Tätigkeit nicht mehr aufnehmen wird und eine Entstehung von künftigen Gewinnen ausgeschlossen ist.
a) Der Beklagte wird daher die Klägerin nach § 101 Satz 2 FGO unter Berücksichtigung dieses Umstands bescheiden und den endgültigen Untergang des verbleibenden Verlustvortrags berücksichtigen müssen. Dies bedeutet nicht, dass eine Billigkeitsfestsetzung in einem bestimmten Umfang geboten ist. Der Senat kann dem Beklagten hinsichtlich des Umfangs der Ermessensausübung keine Vorgaben machen, sondern nur darlegen, welche Umstände insbesondere zu berücksichtigen sind.
So ist – wie unter II. 2. der Gründe ausgeführt – zu Gunsten der Klägerin der vollständige Untergang des verbleibenden Verlustvortrags auf Grund der Einstellung des Geschäftsbetriebs zu würdigen.
Umgekehrt wird der Beklagte aber auch berücksichtigen müssen, dass selbst eine „gewöhnliche” zeitliche Streckung des Verlustausgleichs im Rahmen der Mindestbesteuerung im Regelfall zu finanziellen Nachteilen führen kann: z. B. zu Liquiditätsproblemen, Zinsverlusten oder steuerlichen Nachteilen wegen Minderungen des Steuersatzes in den Folgejahren. Diese Nachteile dürfte der Gesetzgeber in Kauf genommen haben und rechtfertigen keine Billigkeitsmaßnahme. Weiterhin ist zu beachten, dass die Mindestbesteuerung durchaus zu einem endgültigen Untergang des durch die Mindestbesteuerung zunächst ausgeschlossenen verbleibenden Verlustvortrags führen kann. Dies ist etwa der Fall, wenn der Steuerpflichtige stirbt oder trotz seiner Bemühungen die Gewinnzone nicht mehr erreicht, also den „turnaround” nicht schafft, und seine Tätigkeit zu einem späteren Zeitpunkt einstellt. Es erscheint daher nicht geboten, die Klägerin nur deshalb in den Genuss einer Billigkeitsmaßnahme kommen zu lassen, weil sie ihre Tätigkeit als Projektentwicklungsgesellschaft ausgestaltet hat und deshalb – bei einem Scheitern des Bauvorhabens – frühzeitig ihre Tätigkeit einstellen kann, so dass der Untergang des Verlustes bereits bei Bekanntgabe der maßgeblichen Bescheide feststeht. Eine Billigkeitsfestsetzung nach § 163 Satz 1 AO dürfte daher bei einer Projektentwicklungsgesellschaft nicht über das hinausgehen, was bei einem dauerhaft tätigen Gewerbebetrieb, dem der „turn around” nicht gelingt, zu berücksichtigen wäre.
Sollte der Beklagte eine Billigkeitsfestsetzung in einem bestimmten Umfang aussprechen und damit die Fehlbeträge der vorherigen Erhebungszeiträume faktisch berücksichtigen, wird auch über § 35b Abs. 2 GewStG der Verlustfeststellungsbescheid zum 31. Dezember 2004 in der Folge anzupassen sein.
b) Der Senat kann eine Billigkeitsfestsetzung auf EUR 0,– nicht selbst aussprechen, da eine sog. Ermessensreduzierung auf Null nicht gegeben ist. Dies ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen unter II. 3. Buchst. a.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Da die Klägerin trotz des richterlichen Hinweises in der mündlichen Verhandlung ihren Klageantrag nicht auf eine Bescheidungsklage im Sinne von § 101 Satz 2 FGO umgestellt hat, sondern weiterhin eine Verpflichtungsklage erhoben hat, hat die Klage nur teilweise Erfolg, da die Voraussetzungen für die von der Klägerin geltend gemachte Ermessensreduzierung auf Null nicht gegeben waren. Es erscheint daher sachgerecht, die Kosten zu halbieren.
IV. Die Revisionszulassung folgt aus § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. Die Frage, ob ein sich auf Grund der Mindestbesteuerung ergebender endgültiger Ausschluss des Verlustausgleichs sachlich unbillig ist, hat grundsätzliche Bedeutung, wie sich aus den bereits anhängigen Verfahren (s. AdV-Verfahren der FG München und Nürnberg, a.a.O.) sowie aus den von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung angesprochenen weiteren Streitfällen mit Projektentwicklungsgesellschaften ergibt. Zudem erscheint die Frage klärungsbedürftig, ob im Billigkeitsverfahren Umstände geltend gemacht werden können, die bei einer Anfechtungsklage möglicherweise zu einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG führen könnten und damit gegen die Verfassungsmäßigkeit der zu Grunde liegenden Norm sprächen.