17.07.2009 · IWW-Abrufnummer 090672
Finanzgericht Münster: Urteil vom 12.09.2008 – 6 K 1160/05
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Münster
6 K 1160/05 Kg
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 04.02.2005 und der Einspruchsentscheidung vom 17.02.2005 verpflichtet, das Kindergeld für Februar bis Mai 2005 an die Klägerin abzuzweigen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe:
Streitig ist noch, ob die Klägerin einen Anspruch auf Abzweigung von Kindergeld für den Zeitraum von Februar bis Mai 2005 hat.
Die am 24.08.1986 geborene Klägerin ist die Tochter des Beigeladenen. Im Streitzeitraum Februar bis Mai 2005 war sie 18 Jahre alt, befand sich in Berufsausbildung und bezog Leistungen nach dem BAföG i. H. v. monatlich 354,00 EURO. Sie lebte mit ihren Eltern und ihrem 16 Jahre alten Bruder F zusammen in der elterlichen Wohnung unter der Adresse E in G.
Mit Schreiben vom 26.01.2005 an die Beklagte beantragte die Klägerin die Abzweigung des Kindergeld an sie. Derzeit werde das Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR an ihren Vater überwiesen. Zur Begründung gab die Klägerin an, dass es dem Vater bzw. den Eltern wegen fehlender Leistungsfähigkeit nicht möglich sei, Unterhalt an sie zu leisten. Die Eltern bezögen Arbeitslosengeld II. Mit Bescheid vom 04.02.2005 lehnte der Beklagte die Abzweigung ab. Zur Begründung führte er aus, dass die Klägerin im Haushalt eines Kindergeldberechtigten lebe. Durch die Haushaltsaufnahme werde ihr in ausreichender Höhe Unterhalt gewährt. Die Entscheidung berief sich auf § 74 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG).
Die Klägerin hat mit Schreiben vom 09.02.2005 dagegen Einspruch eingelegt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass wegen fehlender Leistungsfähigkeit keine Unterhaltspflicht der Eltern bestehe. Dadurch, dass ihr Vater das Kindergeld erhalte, werde es ihm bei der Gewährung von Arbeitslosenhilfe II angerechnet. Da sie, die Klägerin, zur Wohngemeinschaft gehöre, würden der Bedarfsgemeinschaft (3 Personen) 25 % der zustehenden Kosten für Unterkunft und Heizung abgezogen. Dieser Betrag belaufe sich auf 183,38 EUR. Damit sei die Argumentation, dass ihr in ausreichender Höhe Unterhalt gewährt werde, unzutreffend.
Die Beklagte hat mit Einspruchsentscheidung vom 17.02.2005 den Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie auf § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG hingewiesen. Eine Abzweigung sei nicht möglich, weil der Klägerin im Haushalt der Eltern die Möglichkeit geboten werde zu wohnen und verpflegt zu werden (immaterieller Unterhalt). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung der Beklagten vom 17.02.2005 verwiesen, die sich in den beigezogenen Verwaltungsvorgängen befindet.
Mit ihrer am 17.03.2005 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Die Klägerin ist der Ansicht, dass hier kein immaterieller Unterhalt gewährt werde. Sie versorge sich selber und habe die durch ihre Teilnahme an der Wohngemeinschaft entstandenen Kosten vollumfänglich zu tragen. Diese beliefen sich auf 183,39 EUR. Der Betrag resultiere aus dem Umstand, dass die Klägerin zwar zur Wohngemeinschaft, nicht aber zur Bedarfsgemeinschaft gerechnet werde. Die Kosten für Unterkunft und Heizung würden bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes II nicht auf die Bedarfsgemeinschaft, sondern auf die Wohngemeinschaft umgelegt. Das bedeute, dass die hierfür entstandenen Kosten nicht auf die drei Personen der Bedarfsgemeinschaft, nämlich den Vater, die Mutter und den Bruder, sondern auf die aus vier Personen bestehende Wohngemeinschaft umgelegt würden. Folglich würden die Kosten für Unterkunft und Heizung, die gegenüber der Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit C, mit 733,55 EUR spezifiziert worden sind, nicht auf drei Personen sondern auf vier Personen aufgeteilt. Danach werde jeder Person der Wohngemeinschaft ein Anteil an diesen Kosten i. H. v. 183,39 EUR zugerechnet. Da Arbeitslosengeld II aber nur für Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft gezahlt werde, erstatte die Agentur für Arbeit nur ¾ der Kosten, entsprechend 550,16 EUR. Das letzte Viertel müsse die Klägerin an die Eltern zahlen. Hierfür müsse die Klägerin aus dem ihr zur Verfügung stehenden BAföG-Mitteln aufkommen. Da die Eltern der Klägerin jedoch den Anteil der Klägerin an der Wohngemeinschaft nicht selbst aufbringen könnten, durfte ihnen dieser Anteil auch nicht als immaterieller Unterhalt zugerechnet werden. Die Voraussetzungen für immateriellen Unterhalt lägen nicht vor.
Die Klägerin hat zunächst beantragt, die Beklagte zu verpflichten, das Kindergeld an sie ab März 2005 abzuzweigen.
Die Beklagte hat dann im Klageverfahren das Kindergeld ab Juni 2005 auf das Konto der Klägerin überwiesen. Nachdem das Verfahren von den Beteiligten ab Juni 2005 für in der Hauptsache erledigt erklärt worden war, wurde es mit Beschluss vom 13.07.2006 abgetrennt und unter dem Aktenzeichen 6 K 3094/06 Kg geführt. Mit Beschluss vom 27.08.2007 wurde der Vater der Klägerin zu dem Verfahren wegen Abzweigung von Kindergeld für den Zeitraum von Februar bis Mai 2005 beigeladen. Dem Vorschlag der Beklagten, das vorliegende Verfahren wegen eines Revisionsverfahrens vor dem Bundesfinanzhof unter dem Aktenzeichen III R 6/07 ruhen zu lassen, stimmte die Klägerin nicht zu. Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Beklagte verpflichtet sei, das Kindergeld für den Zeitraum von Februar bis Mai 2005 abzuzweigen. Sie weist dabei in ihren Schriftsätzen auf zahlreiche Urteile des Bundesfinanzhofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Sächsischen Landessozialgerichts und diverser Finanzgerichte hin. Wegen der Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Klägerin und des Beigeladenen verwiesen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagten zu verpflichten, das Kindergeld von Februar bis Mai 2005
an sie abzuzweigen und zwar unter Aufhebung des Bescheides vom
04.02.2005 und der Einspruchsentscheidung vom 17.02.2005,
hilfsweise, für den Fall des Unterliegens,
die Revision zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise für den Fall des Unterliegens,
die Revision zuzulassen.
Sie ist nach wie vor der Auffassung, dass die Voraussetzungen für eine Abzweigung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 EStG nicht vorlägen. Die Klägerin zähle zwar nicht zur sozialrechtlichen Bedarfsgemeinschaft des Vaters. Sie wohne jedoch in seinem Haushalt. Folglich werde ihr Naturalunterhalt gewährt. Eine Unterhaltspflichtverletzung liege somit nicht vor. Auch die Abzweigung wegen Leistungsunfähigkeit komme nicht in Betracht, da Kost und Logie gewährt würden. Die Zahlungen an die Klägerin ab Juni 2005 stellten eben keine Abzweigung dar, sondern entsprächen nur der Zahlungsbestimmung durch den Vater der Klägerin mit seinem Schreiben vom 17.01.2005.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze Bezug genommen.
Der Senat hat am 12. September 2008 in der Sache mündlich verhandelt; auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
Die Klage ist begründet.
Die Beklagte ist verpflichtet, das Kindergeld von Februar 2005 bis Mai 2005 an die Klägerin auszuzahlen.
Gem. § 74 Abs. 1 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld nach § 66 Abs. 1 EStG an das Kind ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Kindergeld kann an Kinder, die bei der Festsetzung des Kindergeld berücksichtigt werden, bis zur Höhe des Betrages, der sich entsprechender Anwendung des § 76 EStG ergibt, ausgezahlt werden. Dies gilt auch, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt i. H. eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist, als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld.
Hinsichtlich der gesetzlichen Unterhaltspflicht knüpft diese Vorschrift an die zivilrechtlichen Regelungen der §§ 1601 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) an. Nach § 1603 Abs. 1 BGB ist nicht unterhaltspflichtig, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außer Stande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Diese Voraussetzungen lagen beim Beigeladenen und seiner Ehefrau vor. Der Beigeladene war Bezieher von Arbeitslosengeld II. Im Rahmen der Bedarfsgemeinschaft wurden der Beigeladene, seine Ehefrau und der Sohn F berücksichtigt. Die Klägerin wurde aus der Bedarfsgemeinschaft herausgerechnet, da sie eigene Einkünfte (BAföG) hatte. Dies führte im Ergebnis dazu, dass die Kosten für Unterkunft und Heizung i. H. v. 733,55 EUR nur i. H. v. ¾, also 550,16 EUR an die Bedarfsgemeinschaft gezahlt wurden. Die Klägerin, die nicht zur Bedarfsgemeinschaft gehörte, wurde mit ihrem Anteil i. H. v. 183,39 EUR entsprechend herausgerechnet. Außerdem wurde dem Beigeladenen das für die Klägerin gezahlte Kindergeld als Einkommen angerechnet. Der Beigeladene war somit unter Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außer Stande, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts der Klägerin Unterhalt zu gewähren. Er war nicht unterhaltspflichtig i. S. d. § 1603 Abs. 1 BGB. Er erreichte mit seinen Bezügen nicht einmal den unterhaltsrechtlich relevanten Selbstbehalt gegenüber minderjährigen Kindern von 730 bis 770 € im Streitzeitraum (s. Düsseldorfer Tabelle Stand 01.07.2003: 730 € und 01.07.2005: 770 € für minderjährige Kinder, für volljährige Kinder mind. 1000 € in Palandt/Diederichsen BGB 64. Auflage 2005 Einf. V. § 1601 Rz. 20).
Zwar müssen gem. § 1603 Abs. 2 BGB Eltern in dieser Lage alle verfügbaren Mittel für ihren und der Kinder Unterhalt gleichmäßig verwenden, soweit es sich um minderjährige unverheiratete Kinder handelt. Den minderjährigen unverheirateten Kindern stehen gem. Satz 2 volljährige unverheiratete Kinder bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gleich, so lange sie im Haushalt der Eltern oder eines Elternteils leben und sich in der allgemeinen Schulausbildung befinden. Die Klägerin befand sich zwar in der Ausbildung, nicht jedoch in der Schulausbildung. Sie bezog Leistungen nach dem BAföG. Insofern lagen die Voraussetzungen gem. § 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB bei ihr nicht vor.
Auch der Einwand der Beklagten, der Beigeladene erfülle seine Unterhaltspflicht durch Aufnahme des Kindes in seinen Haushalt und durch Beköstigung, greift nicht durch. Denn § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB bestimmt, dass der Elternteil, der ein minderjähriges unverheiratetes Kind betreut, seine Verpflichtung, zum Unterhalt des Kindes beizutragen, in der Regel durch die Pflege und die Erziehung des Kindes erfüllt. Da die Klägerin jedoch nicht mehr minderjährig, sondern volljährig ist, greift dieser Privilegierungstatbestand des § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB hier nicht mehr ein. Der Beigeladene ist der volljährigen Klägerin gegenüber barunterhaltspflichtig, soweit er leistungsfähig ist. Der Unterhalt ist bei Leistungsfähigkeit gem. § 1612 Abs. 1 Satz 1 BGB grundsätzlich durch Entrichtung einer Geldrente zu gewähren.
Nach dem Wortlaut des § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG kommt es nicht darauf an, ob und in welchem Umfang teilweise Naturalunterhalt geleistet wird. Vielmehr kann das Kindergeld an das Kind ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist. Mithin hatte die Beklagte gem. § 74 Abs. 1 EStG unter Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens darüber zu befinden, ob das Kindergeld an die Klägerin abzuzweigen ist. Die Beklagte ist dieser Pflicht nicht nachgekommen. Sie ist fälschlicherweise davon ausgegangen, dass der Beigeladene seiner Unterhaltsverpflichtung durch Gewährung von Unterkunft bzw. Betreuungsleistungen nachkommt. Von ihrem Rechtsstand aus gesehen stellte sich die Frage, ob Kindergeld an die Klägerin abzuzweigen ist (Rechtsfolgeermessen), gar nicht.
Die Entscheidung der Beklagten, das Kindergeld nicht abzuzweigen, lässt sich auch nicht durch eine die Beklagte bindende Verwaltungsanweisung rechtfertigen. Vielmehr sieht die Dienstanweisung zur Durchführung des Familienlastenausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes (DA-FamEStG, Stand August 2004) unter DA 74.1.1., Abs. 1 Satz 4 ausdrücklich vor, dass Kindergeld auch dann abgezweigt werden kann, wenn der Berechtigte mangels Leistungsfähigkeit gegenüber dem Kind nicht unterhaltsverpflichtet ist (§ 1603 BGB). Auch aus DA 74.1.1. Abs. 3 ergibt sich keine die Beklagte für den Streitfall bindende Weisung. Die dortigen Darlegungen zu der Frage von Unterhaltsaufwendungen für vollstationär untergebrachte volljährige behinderte Kinder betreffen weder einen dem Streitfall gleichgelagerten Sachverhalt, noch treffen sie Aussagen zu dem Fall, dass keine gesetzliche Unterhaltspflicht besteht.
Obwohl die Beklagte kein Rechtsfolgeermessen ausgeübt hat, kann der Senat trotz seiner grundsätzlich nach § 102 FGO eingeschränkten Überprüfungsmöglichkeit von Ermessensentscheidungen hier in der Sache entscheiden, denn es liegt ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vor. Zum Einen enthält, wie ausgeführt, die DA-FamEStG keine, die Beklagte bindende andere Regelung des Streitfalles. Zum Anderen drängt sich schon nach dem Wortlaut des § 74 Abs. 1 EStG unter Berücksichtigung der zivilrechtlichen Unterhaltsregelungen für den hier zu entscheidenden Fall eine Abzweigung und Auszahlung des Kindergeldes an die Klägerin als einzige ermessensfehlerfreie Entscheidung auf. Zwecks Vermeidung von Wiederholungen wird auf die diesbezüglichen Ausführungen dieses Urteiles verwiesen. Schließlich entspricht eine derartige Entscheidung auch dem erkennbaren Zweck des § 74 Abs. 1 EStG. Dieser liegt darin, dass dann, wenn der Kindergeldberechtigte keine Aufwendungen für den Unterhalt des Kindes tragen kann, das Kindergeld nicht ihm, sondern entweder dem Kind oder aber demjenigen zu gute kommen soll, der dem Kind tatsächlich Unterhalt gewährt. Dieser Zweck kann im Streitfall nur dadurch erreicht werden, dass das Kindergeld an das Kind, die Klägerin des vorliegenden Verfahrens, ausgezahlt wird, da der Beigeladene keine Aufwendungen für das Kind tragen kann. Durch den Umstand, dass das Kindergeld an die Klägerin abgezweigt wird, wird es dem Beigeladenen bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) nicht mehr als Einkommen angerechnet, mit der Folge, dass der Beigeladene eine entsprechend höhere Leistung erhält und das Kindergeld nicht mehr für seinen Unterhalt verwenden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Revision ist gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen, da die Frage grundsätzliche Bedeutung hat, bisher höchstrichterlich noch nicht entschieden worden ist und z. Zt. ein Revisionsverfahren beim BFH unter dem Aktenzeichen III R 6/07 anhängig ist.