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  • 19.11.2015 · IWW-Abrufnummer 145793

    Verwaltungsgericht Sigmaringen: Beschluss vom 01.09.2015 – 5 K 2765/15

    1. Vereitelt die Behörde im Ordnungswidrigkeitenverfahren die Akteneinsicht seitens des Antragstellers als Halter eines Fahrzeugs, so steht dies der Anordnung einer Fahrtenbuchauflage entgegen.

    2. Die Höhe des Streitwertes hängt auch bei mehreren betroffenen Fahrzeugen vom wirtschaftlichen Interesse für den Antragsteller ab.


    VG Sigmaringen

    Beschl. v. 01.09.2015

    5 K 2765/15

    In pp.

    Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 03.08.2015 gegen den Bescheid des Landratsamtes Sigmaringen vom 08.07.2015 wird wiederhergestellt.

    Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

    Der Streitwert wird auf 15.000€ festgesetzt.

    Gründe

    Die Antragstellerin begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid des Landratsamts Sigmaringen vom 08.07.2015, mit dem sie unter Anordnung des Sofortvollzugs u.a. verpflichtet wurde, für 32 auf sie zugelassene Pkw für die Dauer von einem Jahr ein Fahrtenbuch zu führen.

    1. Der Antrag ist nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 5 VwGO zulässig und begründet.

    Die Anordnung der sofortigen Vollziehung betreffend die Führung des Fahrtenbuchs, die Erstreckung auf ein Ersatzfahrzeug, die Befristung auf ein Jahr sowie die Verpflichtung, das Fahrtenbuch auf Verlangen, erstmals in der 39. Kalenderwoche 2015, vorzulegen, ist formell ordnungsgemäß ergangen. Sie ist besonders verfügt (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) und ausreichend schriftlich begründet (§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO).

    Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs ganz oder teilweise wiederherstellen. Dazu wird es regelmäßig kommen, wenn sich die angefochtene Verfügung bei der im einstweiligen Rechtschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfung als höchstwahrscheinlich rechtswidrig erweist. Ist hingegen davon auszugehen, dass die Verfügung aller Voraussicht nach rechtmäßig ist, hat der Antrag in aller Regel keinen Erfolg. Hierbei ist zu beachten, dass § 31a StVZO zu den Vorschriften gehört, bei denen das besondere öffentliche Vollzugsinteresse nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO im Regelfall mit dem Interesse am Erlass des Verwaltungsakts zusammenfällt (vgl. Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 04.05.2015 - 1 B 66/15 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.11.2001 - 10 S 1744/01 - und Beschluss vom 17.11.1997 - 10 S 2113/97 -, VBlBW 1998, 178). Die sofortige Vollziehung ist daher in solchen Fällen die Regel.

    Die angefochtene Fahrtenbuchauflage ist aller Voraussicht nach rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Rechtsgrundlage für die Verfügung des Landratsamts ist § 31a Abs. 1 StVZO. Nach dieser Vorschrift kann die Verwaltungsbehörde einem Fahrzeughalter für ein oder mehrere Fahrzeuge das Führen eines Fahrtenbuches auferlegen, wenn die Feststellung des Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war. Die Verwaltungsbehörde kann ein oder mehrere Ersatzfahrzeuge bestimmen. Die Voraussetzungen dürften hier nicht erfüllt sein.

    Am Dienstag, 18.11.2014, 16.51 Uhr, kam es durch den Fahrzeugführer des Fahrzeuges SIG-pp. in 72818 Trochtelfingen-Haid B313 (X), außerorts zu einer erheblichen Verkehrsordnungswidrigkeit, weil der Fahrzeugführer die zulässige Höchstgeschwindigkeit nach Toleranzabzug um 49 km/h überschritten hat (Behördenakte S. 1). Die Verkehrsordnungswidrigkeit hätte nach dem Bußgeldkatalog ein Bußgeld von 160 Euro, zwei Punkte im Verkehrszentralregister sowie einen Monat Fahrverbot zur Folge gehabt.

    Die Feststellung des für die Verkehrsordnungswidrigkeit verantwortlichen Fahrzeugführers war in der Folgezeit nicht unmöglich. Der Begriff der Unmöglichkeit ist im Rahmen des Tatbestandes des § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO nicht im naturwissenschaftlichen Sinne zu verstehen. Ausreichend zur Erfüllung dieses Tatbestandsmerkmals ist es, dass die Behörde nach den Umständen des Einzelfalles nicht in der Lage war, den Täter zu ermitteln, obwohl sie alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 25.06.1987 - 7 B 139.87 - und VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.04.1999 - 10 S 114/99 -, VBlBW 1999, 463). Für die Beurteilung der Angemessenheit der Aufklärungsmaßnahmen kommt es dabei wesentlich darauf an, ob die Behörde in sachgerechtem und rationellem Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mitteln nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen getroffen hat, die der Bedeutung des aufzuklärenden Verkehrsverstoßes gerecht werden und erfahrungsgemäß Erfolg haben können. Dabei können sich Art und Umfang der Tätigkeit der Behörde, den Fahrzeugführer zu ermitteln, an der Erklärung des betreffenden Fahrzeughalters ausrichten. Lehnt dieser die sachdienliche Mitwirkung an der Aufklärung des Verstoßes ab, so ist es der Behörde regelmäßig nicht zuzumuten, wahllos zeitraubende und kaum Aussicht auf Erfolg bietende Ermittlungen zu betreiben (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.1982, Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 11 m.w.N. sowie VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.07.2014 - 10 S 1256/13 -, Beschluss vom 04.12.2013 - 10 S 1162/13 und Beschluss vom 15.04.2009 - 10 S 584/09 -).

    Nach Maßgabe der vorgenannten Grundsätze kann das Gericht eine mangelnde Mitwirkung der Antragstellerin nicht erkennen; vielmehr liegt ein für das negative Ermittlungsergebnis ursächliches Ermittlungsdefizit vor. Nachdem der Antragstellerin mit Schreiben vom 05.12.2014 (Behördenakte S. 8) der Zeugenfragebogen zugesandt wurde, legitimierte sich am 17.12.2014 der Prozessbevollmächtigte für die Antragstellerin und beantragte Akteneinsicht (Behördenakte S. 6) - ersichtlich, um insbesondere das erwähnte Messfoto in Augenschein zu nehmen. Im Zeugenfragebogen ist als Beweismittel ein Foto genannt. In dem Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 17.12.2014 heißt es ausdrücklich: „Mit den jetzt vorgelegten Unterlagen ist eine Zuordnung nicht möglich. Das Fahrzeug wird von verschiedenen Personen geführt.“ Allein aus dieser Aussage konnte nicht auf einen fehlenden Willen zur Mitwirkung seitens der Antragstellerin geschlossen werden. Unabhängig von einem Recht auf Akteneinsicht oblag es dem Landratsamt, das Foto zu übermitteln. Das Gericht sieht hier einen wesentlichen Verfahrensmangel, der dazu führt, dass die Unaufklärbarkeit des Verkehrsverstoßes maßgeblich in die Sphäre des Landratsamtes Reutlingen fällt. Es hätte zumindest das Messfoto übersandt werden können. Es ist auch kein Grund ersichtlich, warum der Antragstellerin oder deren Prozessbevollmächtigten das Foto nicht hätte übermittelt werden können. Die weiteren Ermittlungen wären dann vom weiteren Verhalten der Antragstellerin abhängig gewesen.

    Auf eine fehlende Mitwirkung kann auch nicht aus dem Vermerk des PHM X vom 24.01.2015 geschlossen werden. Die Antragstellerin hat im Telefonat mit diesem darauf verwiesen, dass sie bereits einen Rechtsbeistand in dieser Sache beauftragt hatte. Sie durfte daher auch die Kommunikation mit der Polizei über den Rechtsbeistand führen. Im Übrigen hat der Prozessbevollmächtigte auch PHM X gegenüber wiederholt, dass noch Beweismittel eingesehen werden wollten.

    An keiner Stelle der Behördenakte findet sich ein Hinweis darauf, dass die Antragstellerin eine Kooperation ausdrücklich verweigert hat. Die Bitte um Akteneinsicht lässt eher auf das Gegenteil schließen.

    Vorliegend kann daher aus dem Verhalten der Antragstellerin nicht geschlossen werden, dass sie zu einer Mitwirkung an der Täterfeststellung unter keinen Umständen bereit war. Statt entweder die Akteneinsicht zu gewähren oder das Messfoto zu übermitteln, reagierte das Landratsamt Reutlingen in der Folge gar nicht. Es findet sich nur ein interner Aktenvermerk, wonach eine Akteneinsicht nicht zu gewähren sei. Es ist nicht auszuschließen, dass die Antragstellerin bei Kenntnis des Fotos Einfluss auf ihre Aussagebereitschaft gehabt hätte und sie sachdienliche Angaben zur Täterfeststellung gemacht hätte (vgl. Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 03.08.1993 - 1 BA 17/93 -).

    Es oblag auch nicht dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin mehrmals nachzufragen, ob und wann Akteneinsicht gewährt werden würde. Insbesondere durfte der Prozessbevollmächtigte nach seinem Schreiben vom 17.12.2014 und dem Anruf bei PHM X am 14.01.2015, währenddessen er nochmals um das Foto bat, auf eine Reaktion seitens der Behörde warten und musste nicht von sich aus noch ein weiteres Mal auf das Landratsamt zugehen.

    Es ist ebenso nicht Aufgabe der Antragstellerin gewesen, bereits in der Vergangenheit ein Fahrtenbuch zu führen. Wenn die Antragstellerin Firmenfahrzeuge ihren Mitarbeitern grundsätzlich zur Verfügung stellt, ohne dies zu kontrollieren, so sind dies innerbetriebliche Entscheidungen, die allein die Antragstellerin zu treffen hat. Auch aus den §§ 238, 257 HGB ist nichts anderes herzuleiten. Soweit darauf abgestellt wird, dass auf Grund dieser Vorschriften für Firmenfahrzeuge besondere Dokumentationspflichten bestünden (vgl. Verwaltungsgericht des Saarlandes, Urteil vom 02.04.2008 - 10 K 323/07 -), vermag dies hier die Fahrtenbuchauflage gegenüber der Antragstellerin nicht zu begründen. Nachdem das Landratsamt Reutlingen weder Akteneinsicht gewährte, noch das Foto übersandt hatte, kann sich der Antragsgegner im vorliegenden Fall nicht auf kaufmännische Buchführungspflichten der Antragstellerin berufen.

    Im Übrigen hätte gerade die Schwere des Verkehrsverstoßes das Landratsamt Reutlingen dazu anhalten müssen, intensiv nach dem fraglichen Fahrzeugführer zu ermitteln. Dazu gehört es auch, der Halterin ein im Zeugenfragebogen angegebenes Beweismittel zugänglich zu machen.

    Da sich der Bescheid des Landratsamtes Sigmaringen vom 08.07.2015 nach summarischer Prüfung als rechtswidrig erweist, ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 03.08.2015 nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO wiederherzustellen.

    2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Ergänzend waren folgende Gesichtspunkte der Billigkeit maßgeblich: Das Gericht folgt zwar im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der durchgängigen Auffassung, dass im Regelfall für die Anordnung, ein Fahrtenbuch zu führen, als Streitwert ein Betrag von 400 Euro je Monat der Geltungsdauer angemessen ist, wie ihn der Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit unter Nummer 46.11 nennt. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass der betreffenden Verpflichtung, ein Fahrtenbuch für 32 Fahrzeuge zu führen, ein besonderer wirtschaftliches Interesse beizumessen ist, hält es das Gericht jedoch für unbillig, einen höheren Streitwert als 15.000 Euro anzunehmen. Nach Nr. 54.2.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist für eine Gewerbeuntersagung ein Streitwert von mindestens 15.000 Euro anzusetzen. Das Interesse, kein Fahrtenbuch für - mehrere - Betriebsfahrzeuge führen zu müssen, kann nicht höher bewertet werden als das Interesse an der Fortführung eines ganzen Betriebes. Daher ist das Gericht auch nicht der Streitwertbildung durch "Mengenrabatt" gefolgt (vgl. hierzu Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 26.10.2001 - 11 ZS 01.2008 -). Wegen der aufgrund des angeordneten Sofortvollzugs anzunehmenden Vorwegnahme der Hauptsache ist der ermittelte Wert nicht zu halbieren (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.02.2009 - 10 S 3350/08 -, juris).