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  • 01.01.2007 | Unfallschadensregulierung

    Die Sechsmonatsfrist bei der Abrechnung von Reparaturkosten

    von VRiOLG Dr. Christoph Eggert, Düsseldorf

    Reparieren und weiternutzen, und das mindestens sechs Monate lang. So die Quintessenz der beiden BGH-Entscheidungen vom 29.4.03 (VA 03, 78, Abruf-Nr. 031070 = NJW 03, 2085) und vom 23.5.06 (VA 06, 129, Abruf-Nr. 061832 = NJW 06, 2179). Klare und praktikable Vorgaben, sollte man meinen. Was sie wirklich bedeuten und welche Konsequenzen die BGH-Rechtsprechung für die Regulierungspraxis hat, lesen Sie im Folgenden.  

     

    I. Anwendungsbereich und Kernaussagen der BGH-Rechtsprechung

    1. „Reparieren und nutzen“...  

    ... so lautet die Formel im BGH-Urteil vom 29.4.03 (VA 03, 78, Abruf-Nr. 031070 = NJW 03, 2085). Beides muss also zusammen kommen, nimmt man den BGH beim Wort. Er ist aber anders zu verstehen, nämlich so:  

    Bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts ohne Abzug des Restwerts kann der Geschädigte Ersatz von Reparaturkosten verlangen, wenn er das Fahrzeug – ggf. unrepariert – mindestens sechs Monate nach dem Unfall weiter nutzt (BGH VA 06, 129, Abruf-Nr. 061832 = NJW 06, 2179).  

     

    2. Fällige Klarstellung 

    • In einem Unter-Hundert-Fall (Reparaturkosten unter Wiederbeschaffungswert) ist eine Instandsetzung entgegen verbreiteter Ansicht der Instanzgerichte nicht zwingende Voraussetzung, um Reparaturkosten oberhalb des Wiederbeschaffungsaufwands (= Wiederbeschaffungswert ./. Restwert) abrechnen zu können. M.a.W: Ist das Fahrzeug trotz der Unfallbeschädigungen in einem verkehrstauglichen Zustand, kann in jedem Unter-Hundert-Fall ohne Abrechnungsnachteil auf jegliche Reparatur verzichtet werden. Abweichende Urteile von Instanzgerichten sind damit überholt.
    • In einem Über-Hundert-Fall (Reparaturkosten bis 30 % über Wiederbeschaffungswert) ist eine – fachgerechte und vollständige – Reparatur dagegen ein Muss.

     

    3. Streitpunkt „Verkehrstauglichkeit“ 

    Auch wenn der Versicherer in einem Unter-Hundert-Fall keine Vollreparatur verlangen kann, kann er doch einwenden, angesichts der Beschädigungen sei das Fahrzeug ohne Reparatur, ja selbst nach einer „Teilreparatur“, nicht in einem verkehrstauglichen Zustand i.S.d. der BGH-Rspr. Was der BGH damit meint, ist nicht allen klar und sollte präzisiert werden. Neu, freilich nicht überraschend, ist die Aussage, dass bei fortbestehender Verkehrstauglichkeit auf eine Reparatur verzichtet werden kann. Ohne Hilfe eines Sachverständigen ist die Entbehrlichkeit jeglicher Instandsetzung kaum nachzuweisen. Sicherheitshalber sollte der Geschädigte wenigstens eine „Teilreparatur“ durchführen lassen.  

     

    4. Weiternutzung 

    Ob repariert oder nicht: In bestimmten Unter-Hundert-Fällen, nicht in allen, muss das Unfallfahrzeug grundsätzlich mindestens sechs Monate lang weitergenutzt werden. Andernfalls ist das Integritätsinteresse aufgegeben. Der Versicherer darf den Restwert vom Wiederbeschaffungswert abziehen. Das ist die zentrale Botschaft des BGH-Urteils vom 23.5.06 (BGH VA 06, 129, Abruf-Nr. 061832 = NJW 06, 2179). Es wirft eine Reihe von Fragen auf:  

     

    a) Was heißt „nutzen“?
    Gemeint ist ein „Weiterbenutzen“, eine Nutzung des Fahrzeugs wie vor dem Unfall. Ausreichend ist eine „stille“ Weiternutzung. Eine vorübergehende Stilllegung schadet also nicht. Entscheidend ist das Behalten des Fahrzeugs, d.h. die Fortdauer der Halter-/Eigentümerstellung bis zum Ablauf der Sechsmonatsfrist.

     

    Eine vorzeitige Veräußerung hat zwei Folgen:
    • Sie indiziert Interesselosigkeit (Stichwort „Integritätsinteresse“) und
    • ruft, was der springende Punkt ist, den Restwert auf den Plan.

     

    Der Haltenachweis kann, muss aber nicht durch eine (gebührenpflichtige) Bescheinigung des Straßenverkehrsamtes geführt werden. Es genügt (wie bei der Nutzungsausfallentschädigung) ein Foto vom Fahrzeug mit aktueller Tageszeitung.

     

    b) Die Sechsmonatsfrist als Regelfrist
    Erstmals nennt der BGH – und dies in einem Unter-Hundert-Fall (!) – eine Nutzungsdauer: mindestens sechs Monate nach dem Unfall. Gezählt wird ab dem Unfalltag, so die überwiegende Deutung. Man könnte auch an den Zeitpunkt der Wiederinbetriebnahme denken. Wird auf das Behalten und weniger auf das Weiterfahren abgestellt, ist der Unfalltag als Stichtag plausibel.
    Wichtig! Den Sechsmonatszeitraum versteht der BGH als eine Art Regelfrist. Ausnahmen sind also möglich. Welche „besonderen Umstände“ vorliegen müssen, deutet der BGH nicht einmal an. Ein Zweitunfall/Zweitschaden als Abschaffungsgrund gehört wohl nicht dazu, andernfalls hätte der BGH die Sache zur Aufklärung an das LG zurückverweisen müssen. Der Kläger hat nämlich behauptet, sich nur wegen eines weiteren, unfallunabhängigen Schadens (Unfall?) von seinem Fahrzeug getrennt zu haben.

     

    c) Ausnahmen von der Sechsmonatsregel
    Wenn der BGH sogar einen „Zweitschaden“ als Veräußerungsgrund nicht akzeptiert (wieso eigentlich nicht?), wird auch eine „vorzeitige“ Abschaffung infolge eines normalen Motorschadens o.ä. einen Ausnahmefall kaum begründen können. Hier bleibt die weitere Rechtsprechung abzuwarten.

     

    Um die Haltebindung zu lockern, können auch wirtschaftliche und/oder persönliche Gründe ins Feld geführt werden, z.B. günstige Einkaufs- oder Verkaufskonditionen, Modellwechsel, Fahrzeugwechsel aus familiären Gründen oder aus betrieblichen Notwendigkeiten (z.B. Taxi). Vor dem Unfall ernsthaft geplante Dispositionen muss der Geschädigte nicht aufgeben, nur um die Sechsmonatsfrist einzuhalten. Das Problem liegt hier im Nachweis.

     

    Besonders streitanfällig sind Fälle mit Inzahlunggabe des reparierten Fahrzeugs. Vertragliche Abgabeverpflichtungen aus der Zeit vor dem Unfall (z.B. beim Leasing) haben jedenfalls Vorrang. Zu erwarten ist, dass die Gerichte dem Geschädigten die Darlegungs- und Beweislast für die Lockerungsumstände auferlegen.

     

    d) Übertragbarkeit auf 130-Prozent-Fälle?
    Die Sechsmonats-Entscheidung ist, nochmals sei es betont, in einem Unter-Hundert-Fall ergangen (sogar unter 70 %). Die kalkulierten Reparaturkosten lagen aber, was wichtig ist, über dem Wiederbeschaffungsaufwand. Wenn die Reparaturkosten zzgl. eines etwaigen Minderwerts (entgegen OLG Köln SP 06, 245 ohne Mietwagenkosten) sogar den Wiederbeschaffungswert bis zu 30 % übersteigen, spricht einiges dafür, die Sechsmonatsregel auch hier anzuwenden. Ob das rechtens ist, hat der BGH noch nicht entschieden. Zu den Argumentationsmöglichkeiten s. unter II, 3 auf Seite 11 oben.

     

     

     

    II. Die Konsequenzen für die Regulierungspraxis
    1. Die Versicherer

    Sie haben auf die Sechs-Monats-Entscheidung schnell und aus ihrer Sicht konsequent reagiert. Das liest sich etwa so (Zitat aus einem Versicherungsschreiben in einem Unter-Hundert-Fall): „Nach dem Urteil des BGH vom 23.5.06, VI ZR 192/05, muss die Weiternutzung mindestens 6 Monate, gerechnet ab dem Unfalldatum, andauern. Ob dies der Fall sein wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend beurteilt werden. Wir stellen daher anheim, zu gegebener Zeit erneut an uns heranzutreten und geeignete Nachweise über die durchgeführte Reparatur und die Weiternutzung (Bescheinigung der Zulassungsbehörde für den maßgeblichen Zeitpunkt) einzureichen. Bis dahin können wir lediglich den Wiederbeschaffungsaufwand ersetzen.“ Obgleich in einem Unter-Hundert-Fall ergangen, wird die Sechs-Monats-Entscheidung von den Versicherern kompromisslos auf 130 %-Fälle übertragen. Argument: Hier erst recht! Prima vista hat dieser Schluss einiges für sich. Zwingend ist er nicht (siehe unten).  

     

    2. Die Geschädigtenseite

    Warten oder angreifen und notfalls klagen – das ist die Frage. Denkbare Argumentationsmöglichkeiten für den Anwalt des Geschädigten in einem Unter-Hundert-Fall (Reparaturkosten zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert):  

     

    a) Kein Regel-, sondern ein Sonderfall, siehe oben I, 4 c

     

    b)Keine Fälligkeitsvoraussetzung: Eine sechsmonatige Weiternutzung ist selbst in einem Regelfall keine Voraussetzung für die Fälligkeit des Anspruchs auf Zahlung des Betrages, der über den Wiederbeschaffungsaufwand hinausgeht. Der Anspruch auf Naturalrestitution nach § 249 Abs. 1 BGB ist am Unfalltag sofort fällig (§ 271 BGB). Der Geldanspruch nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB soll den Geschädigten begünstigen, jedenfalls nicht schlechter stellen. Den zur Herstellung erforderlichen Betrag schuldet der Schädiger bereits mit der Entstehung des Unfallschadens (BGH NJW 74, 34). Die Vorfinanzierungslast, die auch im Rahmen des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB vom Schädiger zu tragen ist, würde zum Teil auf den Geschädigten abgewälzt, koppelte man die Fälligkeit auch nur eines Teils der Forderung an den Ablauf der Sechsmonatsfrist. Dennoch: Viele Gerichte werden die Fälligkeit zumindest des Spitzenbetrages erst mit Fristablauf bejahen, was auf eine „gespaltene“ Leistungszeit hinausläuft, freilich bei einheitlichem Verjährungsbeginn.

     

    c) Vorschusspflicht: Hilfsweise kann der Geschädigte es mit der Konstruktion „Vorschussanspruch“ versuchen. Von Hause aus gibt § 249 Abs. 2 S. 1 BGB zwar keinen Vorschuss. Fehlen dem Geschädigten aber die notwendigen Mittel, die Reparaturkosten vorzufinanzieren, kann er hierzu Fremdmittel aufnehmen und die Finanzierungskosten nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB auf den Schädiger abwälzen, sofern dieser keinen Vorschuss zahlt (BGH NJW 74, 34).

     

    d)Rückforderungsvorbehalt: Der Schädiger/Versicherer ist durch eine Zahlung unter Vorbehalt hinreichend vor einer Zuviel-Zahlung geschützt. Das Insolvenzrisiko ist nur theoretischer Natur.

     

    e)Zusatzargument: Durch die Reparatur hat der Mandant sein Integritätsinteresse, in einem Unter-Hundert-Fall ohnehin eher sekundär, nachhaltig unter Beweis gestellt. Abgesehen davon spricht eine tatsächliche Vermutung, wenn nicht gar ein Anscheinsbeweis, dafür, dass die Reparatur zum Zwecke der Weiternutzung durchgeführt wurde.

     

    f) Androhung einer Feststellungsklage: Wenn der Versicherer unter Hinweis auf die Sechsmonats-Entscheidung „bitte warten“ schreibt, bleibt vor Erhebung einer Zahlungsklage die Möglichkeit, wegen des strittigen Spitzenbetrages eine Feststellungsklage anzudrohen. Sie dürfte Erfolg haben.

     

    3. Argumentationsmöglichkeiten für den Geschädigten-Anwalt

    Für den Anwalt des Geschädigten ergeben sich in einem Über-Hundert-Fall (130 %-Fall) folgende Argumentationsmöglichkeiten:  

     

    a)Von vornherein keine Anwendbarkeit der Sechsmonatsregel in einem 130 %-Fall, vielmehr Weitergeltung der OLG-Rechtsprechung, der eine Sechsmonatsfrist völlig fremd ist. Überwiegend hält man die Absicht der Weiterbenutzung bei Auftragserteilung/Beginn der Eigenreparatur für ausreichend und löst das Problem zeitnaher Veräußerung richtigerweise auf der Beweisebene (siehe OLG Düsseldorf VA 03, 80, Abruf-Nr. 031072). Diese gefestigte Rechtsprechung ist bisher durch keine wirklich einschlägige BGH-Entscheidung außer Kraft gesetzt. Vertretbare Begründung: Durch die fachgerechte und vollständige Instandsetzung hat der Mandant sein Integritätsinteresse in so starkem Maße zum Ausdruck gebracht, dass er schon vor Ablauf der Sechsmonatsfrist die vollen Reparaturkosten (ohne Berücksichtigung des Restwerts) verlangen kann. Die Instandsetzung erfolgte zum Zwecke der Weiternutzung, was nachgewiesen werden kann.

     

    b) Berufung auf besondere Umstände: Unterstellt man die Anwendbarkeit der Sechsmonatsregel auch im 130 %-Bereich, ist zu prüfen, ob der Mandant besondere Umstände vorbringen kann, die eine Lockerung der Haltebindung rechtfertigen (oben I, 4 c).

     

    c) Zusatzargument „Unzumutbarkeit“: Ein sechsmonatiges Warten auf den vollen Ausgleich ist besonders in einem 130 %-Fall unzumutbar. Eine Vorfinanzierung durch den Geschädigten sieht das Gesetz nicht vor. Ihn damit zu belasten, bedeutet eine Verkürzung des Integritätsinteresses und vielfach das Aus des 130 %-Modus.

     

    d) Hinweis auf OLG-Rechtsprechung, die den „Integritätszuschlag“ aus Billigkeitsgründen (insbes. finanzielle Schwierigkeiten) ohne vorherige Reparatur zugesprochen hat (OLG Oldenburg VA 04, 96 = DAR 04, 226; OLG München NJW-RR 99, 909).

     

    e) Argumentation zur Fälligkeit und zum Vorschuss: wie oben beim Unter-Hundert-Fall.

     

     

     

    III. Risiken und Nebenwirkungen
    1. Mandantenberatung
    Für die Beratung von Geschädigten gilt: Immer wenn die kalkulierten Reparaturkosten incl. eines etwaigen Minderwerts den Wiederbeschaffungsaufwand (= Wiederbeschaffungswert ./. Restwert) übersteigen, also nicht erst in 130-Prozent-Fällen, muss das Thema „Weiternutzung“ angesprochen werden. Nach Möglichkeit sollte der Mandant das Fahrzeug nicht vor Ablauf von 6 Monaten (ab Unfall) veräußern. Warten bringt Geld.

     

    2. Klagen
    In Fällen mit Reparaturkosten oberhalb des Wiederbeschaffungsaufwands (praktisch im Bereich zwischen 70 und 130 %) vor Ablauf der Sechsmonatsfrist auf Zahlung der gesamten Reparaturkosten zu klagen, ist nunmehr generell riskant. Der sicherste Weg ist es jedenfalls nicht. Sicher ist eine Kombination von Zahlungs- und Feststellungsklage. Verzugszinsen dürften zumindest beim Spitzenbetrag kaum zu holen sein (entweder schon keine Fälligkeit oder Rechtsirrtum).

     

    3. Kostennachteile vermeiden
    In der Erwartung zu klagen, bis zum ersten Termin werden die sechs Monate verstrichen sein, ist nicht ungefährlich. Denn bei einem sofortigen Anerkenntnis des Versicherers nach Fristablauf drohen Kostennachteile (§ 93 ZPO), sofern man in der sechsmonatigen Weiternutzung eine Anspruchs- bzw. Fälligkeitsvoraussetzung sieht.
     

    Quelle: Ausgabe 01 / 2007 | Seite 8 | ID 90694