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· Fachbeitrag · Diskriminierungsverbot

Anspruch auf tarifliche Altersfreizeit ‒ werden ältere Teilzeitbeschäftigte diskriminiert?

von RA Christian Deutz, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Aachen

| Nach § 4 Abs. 1 S. 1 TzBfG darf ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer. Eine Ausnahme gilt nur, wenn sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen („Diskriminierungsverbot“). Gemäß S. 2 ist einem teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer Arbeitsentgelt oder eine andere teilbare geldwerte Leistung anteilig zu seiner Arbeitszeit zu gewähren. Das Diskriminierungsverbot steht gem. § 22 Abs. 1 TzBfG nicht zur Disposition der Tarifvertragsparteien. |

 

Sachverhalt

In zwei Verfahren stritten die Parteien über die Frage, ob der Arbeitgeber verpflichtet war, den klagenden Arbeitnehmern wöchentlich eine bezahlte tarifliche Altersfreizeit (konkret von zwei Stunden) zu gewähren.

 

In beiden Fällen waren die jeweiligen Kläger mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden beschäftigt. Auf die Arbeitsverhältnisse war der zwischen dem Bundesarbeitgeberverband Chemie e. V. und der IG Bergbau, Chemie, Energie geschlossene Manteltarifvertrag (MTV) anzuwenden.

 

Dieser sah u. a. vor, dass die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit an Werktagen 37,5 Stunden beträgt. Für einzelne Arbeitnehmergruppen (…) kann abweichend von der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit eine bis zu 2,5 Stunden längere oder kürzere regelmäßige Arbeitszeit festgelegt werden. Die Arbeitnehmer haben in diesem Fall Anspruch auf eine der vereinbarten Arbeitszeit entsprechende Bezahlung. § 2a des MTV sah unter der Überschrift „Altersfreizeiten“ u. a. Folgendes vor:

 

  • § 2a MTV
  • 1. Arbeitnehmer, die das 57. Lebensjahr vollendet haben, erhalten eine zweieinhalbstündige Altersfreizeit je Woche.
  •  
  • Soweit für Arbeitnehmer aufgrund (…) oder einer Einzelvereinbarung (…) eine um bis zu zweieinhalb Stunden kürzere wöchentliche Arbeitszeit als die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit gilt, vermindert sich die Altersfreizeit entsprechend. Liegt die Arbeitszeit um zweieinhalb Stunden oder mehr unter der tariflichen Arbeitszeit, entfällt die Altersfreizeit.
 

In beiden Verfahren verlangten die jeweiligen Kläger von deren Arbeitgebern die Gewährung von Altersfreizeit nach § 2a MTV.

 

Die Arbeitnehmer haben die Auffassung vertreten, ihnen stehe trotz ihrer Teilzeittätigkeit ein Anspruch auf Altersfreizeit zu. Der Anspruchsausschluss verletze das Benachteiligungsverbot des § 4 Abs. 1 TzBfG. Er sei deshalb unwirksam. Der Ausschluss sei auch nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Sie könnten daher im Wege einer „Anpassung nach oben“ verlangen, dass ihnen Altersfreizeit in einem ihrer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit entsprechenden Umfang gewährt werde.

 

Die beklagten Arbeitgeber haben die Forderungen u. a. unter Hinweis auf den tarifvertraglichen Anspruchsausschluss abgelehnt.

 

In beiden Verfahren hat das BAG die Klagen für begründet gehalten.

 

Entscheidungsgründe

Nach Auffassung des 9. Senats müssen die beklagten Arbeitgeber die Kläger zwei Stunden je Woche von der Arbeitspflicht unter Fortzahlung des Entgelts freistellen (23.7.19, 9 AZR 372/18, Abruf-Nr. 211630 und 22.10.19, 9 AZR 71/19, Abruf-Nr. 213762).

 

§ 2a Ziffer 1 Abs. 2 S. 2 MTV, demzufolge die Altersfreizeit entfällt, wenn die Arbeitszeit um zweieinhalb Stunden oder mehr unter der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit liegt, ist nach § 134 BGB nichtig. Er verstößt gegen § 4 Abs. 1 S. 2 TzBfG.

 

Nach Auffassung des BAG folgt der Anspruch der Klägers aus § 2a Ziffer 1 MTV i. V. m. § 4 Abs. 1 S. 2 TzBfG.

 

Im vorliegenden Fall benachteiligt die streitgegenständliche Regelung des MTV in Teilzeit beschäftigte Arbeitnehmer wegen ihrer Teilzeittätigkeit gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten ohne sachlichen Grund.

 

  • Teilzeitbeschäftigte werden wegen der Teilzeitarbeit ungleich behandelt, wenn die Dauer der Arbeitszeit das Kriterium darstellt, an das die Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen anknüpft.

 

    • Die Regelung des MTV sieht eine an die Dauer der Arbeitszeit anknüpfende Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten vor. Sie schließt Arbeitnehmer, deren Arbeitszeit um zweieinhalb Stunden oder mehr unter der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit liegt, von der Gewährung der bezahlten tariflichen Altersfreizeit aus. Diesen teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern wird entgegen dem Diskriminierungsverbot eine teilbare geldwerte Leistung nicht in dem Umfang gewährt, der dem Anteil ihrer Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht. Infolgedessen wird die nach der tarifvertraglichen Regelung ausgeschlossene Gruppe teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer bei gleicher Arbeitsleistung schlechter vergütet als in Vollzeit tätige Arbeitnehmer.

 

    • Zwar sind die Tarifvertragsparteien grundsätzlich darin frei, den Zweck einer tariflichen Leistung zu bestimmen. Auch verfügen sie im Rahmen ihrer Normsetzungskompetenz aus Art. 9 Abs. 3 GG über einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung sowie eine Einschätzungsprärogative bezüglich der Bewertung der tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen, die eine differenzierende Regelung sachlich rechtfertigen können. Die Tarifvertragsparteien dürfen aber in jedem Fall die durch § 4 Abs. 1 TzBfG begrenzte Rechtssetzungsbefugnis nicht überschreiten. Das haben sie jedoch mit der hier streitgegenständlichen Regelung des MTV getan.
  •  
  • Mit der bezahlten Altersfreizeit sollen ältere Arbeitnehmer entlastet werden, indem ihre wöchentliche Arbeitszeit reduziert wird. Diesem Zweck folgend sei die Altersfreizeit gemäß dem MTV wöchentlich zu gewähren. Mache der Arbeitnehmer von ihr keinen Gebrauch, könne sie nicht mehr nachträglich gewährt werden.

 

    • Die tarifvertragliche Regelung geht in diesem Zusammenhang von einer mit zunehmendem Alter sinkenden Belastbarkeit und infolgedessen von einem gesteigerten Erholungsbedürfnis der Arbeitnehmer aus, die das 57. Lebensjahr vollendet haben. Der Tarifvertrag bestimmt daher in Abhängigkeit von der geschuldeten Wochenarbeitszeit differenzierte Regelungen. Er legt damit für Arbeitnehmer, die das 57. Lebensjahr vollendet haben, unterschiedliche individuelle Belastungsgrenzen fest. So wird die Arbeitszeit vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer auf 35 Wochenarbeitsstunden reduziert. Für Teilzeitkräfte, die das 57. Lebensjahr vollendet haben, legt der Tarifvertrag eine höhere individuelle Belastungsgrenze fest als für Vollzeitbeschäftigte. Er senkt nämlich deren Arbeitszeit nicht proportional zu ihrer individuellen Arbeitszeit ab. Dementsprechend regelt er einen geringeren Entlastungsbedarf.

 

  • Diese von der konkreten Tätigkeit unabhängige, sich allein am Umfang der wöchentlichen Arbeitszeit von älteren Arbeitnehmern orientierende Differenzierung bei der Gewährung vergüteter Altersfreizeit ist nicht durch Unterschiede im Tatsächlichen nach § 4 Abs. 1 S. 1 TzBfG sachlich gerechtfertigt.
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  • Es gibt in diesem Zusammenhang keinen allgemeinen Erfahrungssatz, der die Annahme rechtfertigen kann, bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden bestehe für alle Arbeitnehmer ab Vollendung des 57. Lebensjahres eine qualitative Belastung, die bei Teilzeitbeschäftigten derselben Altersgruppe nicht in einem Maße auftritt, der dem Umfang ihrer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit entspricht. Ebenso wenig existiert ein allgemeiner Erfahrungssatz, dass die mit der Erbringung der Arbeitsleistung einhergehende Belastung erst dann ansteigt, wenn der Schwellenwert von 35 Wochenarbeitsstunden überschritten ist, und sich das gesteigerte Erholungsbedürfnis von Arbeitnehmern, die das 57. Lebensjahr vollendet haben, mit sinkender Zahl der zu leistenden Wochenarbeitsstunden nicht linear vermindert, sondern bei einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden und weniger vollständig entfällt. Der Zweck der tariflichen Altersfreizeit, älteren Arbeitnehmern zu ihrer Entlastung bezahlte Freistellung zu gewähren, rechtfertigt es deshalb nicht, gleichaltrige in Teilzeit beschäftigte Arbeitnehmer, deren Wochenarbeitszeit eine bestimmte Stundenzahl unterschreitet, entgegen dem Diskriminierungsverbot von dieser geldwerten Leistung generell auszuschließen.

 

Als Rechtsfolge des Verstoßes gegen § 4 Abs. 1 S. 2 TzBfG ist den Klägern die ihnen zu Unrecht vorenthaltene vergütete Altersfreizeit in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil ihrer Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht. Zwar folgt aus der Regelung des § 4 Abs. 1 S. 2 TzBfG nur, dass die diskriminierende Regelung nach § 134 BGB nichtig ist. Jedoch kann die Diskriminierung allein durch eine „Anpassung nach oben“ beseitigt werden.

 

Relevanz für die Praxis

Die Erwägungen des BAG sind nachvollziehbar und schlüssig. Sie stärken die Rechtsposition älterer Arbeitnehmer, die in Teilzeit tätig sind.

 

Der Zweck der Gewährung von ‒ bezahlter ‒ Altersfreizeit liegt in der Entlastung älterer Arbeitnehmer. Dieser hängt aber nicht ausschließlich von der tatsächlich geschuldeten Wochenarbeitszeit ab. Beizupflichten ist dem BAG auch insoweit, dass es keinen „Schwellenwert“ gibt, ab dem eine Arbeitsbelastung älterer Arbeitnehmer erst berücksichtigungsbedürftig ist. Anteilig anfallende Belastungen sind entsprechend auch anteilig zu berücksichtigen; ein genereller Ausschluss bestimmter Arbeitnehmergruppen verbietet sich insoweit.

 

Nach Ansicht des BAG folgt aus dem Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 1 TzBfG ein unmittelbarer Anspruch des in Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmers auf Gleichbehandlung mit Vollzeitbeschäftigten. Eine von der konkreten Tätigkeit unabhängige, sich allein am Umfang der wöchentlichen Arbeitszeit von älteren Arbeitnehmern orientierende Differenzierung ist bei der Gewährung vergüteter Altersfreizeit demnach nicht durch Unterschiede im Tatsächlichen sachlich gerechtfertigt.

 

§ 4 Abs. 1 S. 2 TzBfG regelt insoweit aber kein absolutes Benachteiligungsverbot. Eine Schlechterstellung von Teilzeitbeschäftigten kann nach dem BAG sachlich gerechtfertigt sein, wenn sich ihr Grund aus dem Verhältnis von Leistungszweck und Umfang der Teilzeitarbeit herleiten lässt. Allein das unterschiedliche Arbeitspensum berechtigt aber nicht zu einer solchen unterschiedlichen Behandlung.

 

Für die hier maßgeblichen Fragestellungen hat das BAG nunmehr Rechtsklarheit geschaffen, nachdem erst- und zweitinstanzlich zum Teil unterschiedliche Rechtsauffassungen in diesem Zusammenhang vertreten worden waren.

Quelle: Ausgabe 03 / 2020 | Seite 40 | ID 46353634