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31.05.2017 · IWW-Abrufnummer 194232

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg: Urteil vom 06.04.2017 – L 13 SB 258/14

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
 
verkündet am: 6. April 2017      

Az.: L 13 SB 258/14
Az.: S 11 SB 120/10 Sozialgericht Neuruppin       

Im Namen des Volkes

Urteil

In dem Rechtsstreit

xxx
          
gegen          
          
    Land Brandenburg,          
    vertreten durch Landesamt für Soziales und Versorgung,      
    Lipezker Straße 45/Haus 6, 03048 Cottbus,
      
- Beklagter und Berufungsbeklagter -         

hat der 13. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg auf die mündliche Verhandlung vom 6. April 2017 durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Dr. Kärcher, den Richter am Landessozialgericht Dr. Lemke und den Richter am Landessozialgericht Diefenbach sowie die ehrenamtliche Richterin Friedrich und die ehrenamtliche Richterin Dr. Schulze für Recht erkannt:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 23. September 2014 geändert sowie der Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 30. Oktober 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juni 2010 verpflichtet, bei der Klägerin mit Wirkung ab 1. Juli 2010 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu 3/4 zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).

Bei der 1963 geborenen Klägerin war im März 2009 ein Grad der Behinderung von 40 festgestellt worden. Den Änderungsantrag der Klägerin vom 19. August 2009 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 30. Oktober 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juni 2010 ab. Hierbei legte er zugrunde:

1.    psychische Störung, chronisches Schmerzsyndrom (Einzel-GdB von 10),
2.    Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 30),
3.    Beinverkürzung rechts, Funktionsstörung beider Hüftgelenke, Fußfehlbildung rechts (Einzel-GdB von 30).

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Neuruppin hat die Klägerin einen GdB von mindestens 50 begehrt. Das Sozialgericht hat das Gutachten des Orthopäden Dr. F vom 18. Januar 2012 mit diversen ergänzenden Stellungnahmen eingeholt, der einen GdB von 40 vorgeschlagen hat. Der Sachverständige hat folgende Behinderungen ermittelt:

1.    depressive Episoden mit zeitweise auftretenden Angst- und Panikattacken (Einzel-GdB von 20),
2.    Funktionseinschränkung der Halswirbelsäule, akzentuierte der Lendenwirbelsäule (Einzel-GdB von 30),
3.    Funktionseinschränkung der linken Schulter (Einzel-GdB von 10),
4.    Funktionsstörung der rechten unteren Extremität (Einzel-GdB von 30).

Weiter hat das Sozialgericht das Gutachten der Orthopädin und Chirurgin Dr. T vom 13. April 2014 eingeholt, die den GdB ebenfalls mit 40 bewertet hat. Sie hat ihrer Einschätzung folgende Behinderungen zugrunde gelegt:

1.    Funktionsstörung des Nervensystems und der Psyche (Einzel-GdB von 20 seit Juli 2010),
2.    Funktionseinschränkung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 20),
3.    Funktionsstörung des Hörorgans (Einzel-GdB von 10),
4.    Funktionsstörung der unteren Extremität (Einzel-GdB von 30).

Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 23. September 2014 mit der Begründung abgewiesen, dass der GdB lediglich 40 betrage.

Mit der Berufung hat die Klägerin ihr Begehren zunächst weiter verfolgt.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens der Ärztin für Psychiatrie G vom 24. August 2015. Nach Untersuchungen der Klägerin am 4. Juli 2015 und 10. August 2015 hat die Sachverständige deren psychische Störung ab Antragstellung mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet. Sie hat ausgeführt, dass es im Juli 2010 insoweit zu einer wesentlichen Änderung gekommen sei, als die depressive Symptomatik von da an als mittelschwer einzuschätzen sei, weshalb der Einzel-GdB 20 betrage. Im Zeitpunkt der Begutachtung sei die psychische Störung jedoch lediglich mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten, da es zu keinen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mehr komme und soziale Anpassungsschwierigkeiten nicht mehr vorhanden seien. Eine Veränderung des Gesamt-GdB von 40 ergebe sich hieraus jedoch nicht. Bei dieser Bewertung ist die Sachverständige nach Auswertung des in einem Rentenstreitverfahren eingeholten Gutachtens der Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie PD Dr. R vom 29. Mai 2015 in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 7. Dezember 2016 geblieben.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 6. April 2017 hat die Klägerin ihr Begehren auf die Zuerkennung eines GdB von 50 ab dem 1. Juli 2010 beschränkt.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 23. September 2014 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 30. Oktober 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juni 2010 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem 1. Juli 2010 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Klägerin ist, soweit sie von ihr fortgeführt wird, begründet.

Der Klägerin hat Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 mit Wirkung ab 1. Juli 2010.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ heranzuziehen, die zuletzt durch Gesetz vom 23. Dezember 2016 geändert wurden.

Die in den vom Sozialgericht eingeholten Gutachten des Orthopäden Dr. F vom 18. Januar 2012 sowie der Orthopädin und Chirurgin Dr. T vom 13. April 2014 beschriebenen Funktionsstörungen im Funktionssystem der Beine sind nach den Vorgaben in Teil B Nr. 18.14 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten.

Die Funktionsstörungen im Bereich der Wirbelsäule bedingen nach Teil B Nr. 18.14 der Anlage zu § 2 VersMedV einen Einzel-GdB von 20. Die Klägerin an Funktionseinschränkungen der Hals- und der Lendenwirbelsäule. Mittelgradige oder schwere funktionelle Auswirkungen in den zwei Wirbelsäulenabschnitten, die einen Einzel-GdB von 30 bis 40 rechtfertigen würden, liegen nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. F und Dr. T nicht vor.

Die von der Sachverständigen Dr. T festgestellte leichte Hörminderung, die keiner Hörgeräteversorgung bedarf, ist mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten.

Gleichermaßen ist die Funktionseinschränkung der linken Schulter mit endgradiger Bewegungseinschränkung, die von dem Sachverständigen Dr. F beschrieben worden ist, mit einem Einzel-GdB von 10 zu belegen.

Der Funktionsbereich der Psyche ist bei der Klägerin mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Gutachterlicherseits ist bei ihr eine Schmerzchronifizierung im Stadium III nach Gerbershagen festgestellt worden. Daneben leidet die Klägerin an einer depressiven Störung. In der Zusammenschau beider Behinderungen ist der Senat im Hinblick auf die von den Sachverständigen aufgeführten Auswirkungen auf die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gesellschaft davon überzeugt, dass eine Bewertung dieses Funktionssystems mit einem GdB von 20 angemessen ist. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des in einem Rentenstreitverfahren eingeholten Gutachtens der Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie PD Dr. R vom 29. Mai 2015, deren auf die Feststellung einer Erwerbsminderung nach dem Rentenrecht abzielende Bewertungen für die vorliegend zu treffende Entscheidung über die Höhe des GdB von nur eingeschränktem Wert sind, da sich die Beurteilungsmaßstäbe grundlegend unterscheiden. Dementsprechend sieht Teil A Nr. 2b der Anlage zu § 2 VersMedV auch vor, dass aus dem GdB nicht auf das Ausmaß der Leistungsfähigkeit geschlossen werden darf. Eine andere Bewertung der Höhe des GdB ist auch nicht dadurch geboten, dass die Depression zeitweise, nämlich zwischen Juli 2010 und einem vor dem Untersuchungstermin bei der Sachverständigen G im Juli 2015 liegenden Zeitpunkt, eine mittelschwere Symptomatik entwickelte, für die allein, d.h. ohne Berücksichtigung der Schmerzchronifizierung, die Gutachterin einen GdB von 20 für angemessen gehalten hat. Eine temporäre Erhöhung des Einzel-GdB im Funktionssystem der Psyche ist nach Überzeugung des Senats nicht gerechtfertigt. Denn das Vorliegen stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, für die ein GdB von 30 bis 40 vorgesehen ist, hat die Sachverständige ausdrücklich ausgeschlossen.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird.

Bei der Klägerin ist der Gesamt-GdB danach mit 50 festzusetzen. Der Einzel-GdB von 30 für die Funktionsstörung der unteren Extremität ist im Hinblick auf die Funktionsstörung der Wirbelsäule um einen Zehnergrad heraufzusetzen, da sich diese Funktionsbeeinträchtigungen aufeinander besonders nachteilig auswirken (vgl. Teil A Nr. 3d der Anlage zur VersMedV). Nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. T reduziert die verminderte Belastbarkeit der Wirbelsäule die Steh- und Gehbelastbarkeit mehr als dies durch die Erkrankung der unteren rechten Extremität allein der Fall wäre. Im Hinblick auf die Funktionsstörung im Funktionssystem der Psyche ist eine weitere Anhebung um einen Zehnergrad geboten. Denn die Schmerzchronifizierung geht, wie die Sachverständige nachvollziehbar dargelegt hat, mit einer Schmerzfehlverarbeitung und –fehlwahrnehmung einher und verstärkt damit die Behinderungen im Bereich der Wirbelsäule und der unteren Extremität. Dieser Bewertung ist die Sachverständige G ausdrücklich gefolgt. Die jeweils mit einem Einzel-GdB zu bewertende leichte Hörminderung und die Funktionseinschränkung der linken Schulter heben den Gesamt-GdB nicht an. Denn nach Teil A Nr. 3d der Anlage zur VersMedV führen, von – hier nicht vorliegenden – Ausnahmefällen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen Einzel-GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, und zwar auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.

RechtsgebietSGB 9Vorschriften§ 69 SGB 9