05.07.2018 · IWW-Abrufnummer 202139
Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 29.05.2017 – C-570/16
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
vom 29. Mai 2018(1)
Stadt Wuppertal
gegenMaria Elisabeth Bauer (C‑569/16)
und
Volker Willmeroth als Inhaber der TWI Technische Wartung und Instandsetzung Volker Willmeroth e. K.
gegen
Martina Broßonn (C‑570/16)
(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts [Deutschland])
„Vorlage
zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Arbeitszeitgestaltung –
Jahresurlaub – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 – Arbeitsverhältnis, das
durch den Tod des Arbeitnehmers endet – Erlöschen des Anspruchs auf
bezahlten Jahresurlaub – Nationale Regelung, nach der es unmöglich ist,
den Erben des Verstorbenen eine finanzielle Vergütung für nicht
genommenen bezahlten Jahresurlaub zu zahlen – Charta der Grundrechte der
Europäischen Union – Art. 31 Abs. 2 – Verpflichtung, das nationale
Recht unionsrechtskonform auszulegen – Möglichkeit, sich im Rahmen eines
Rechtsstreits zwischen Privatpersonen unmittelbar auf Art. 31 Abs. 2
der Charta der Grundrechte zu berufen – Pflicht, eine entgegenstehende
nationale Regelung nicht anzuwenden“
1.
Die
vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der
Arbeitszeitgestaltung(2) und von Art. 31 Abs. 2 der Charta der
Grundrechte der Europäischen Union(3).
2.
Diese
Ersuchen ergehen in Rechtsstreitigkeiten, die von Frau Maria Elisabeth
Bauer und von Frau Martina Broßonn gegen die früheren Arbeitgeber ihrer
verstorbenen Ehemänner, nämlich die Stadt Wuppertal (Deutschland) bzw.
Herrn Volker Willmeroth als Inhaber der TWI Technische Wartung und
Instandsetzung Volker Willmeroth e. K. (im Folgenden: Firma Willmeroth),
wegen deren Weigerung geführt werden, ihnen eine finanzielle Vergütung
für den bezahlten Jahresurlaub zu gewähren, den ihre Ehemänner vor ihrem
Tod nicht genommen hatten.
3.
Das
Arbeitsrecht stellt zweifellos einen der Hauptbereiche dar, in denen
die Bestimmungen des Unionsrechts in Rechtsstreitigkeiten zwischen
Privatpersonen geltend gemacht werden können(4).
4.
Gleichzeitig
kann der Umstand, dass Richtlinien nach ständiger Rechtsprechung des
Gerichtshofs(5) keine horizontale Direktwirkung haben, dazu angetan
sein, die konkrete Wirksamkeit der sozialen Grundrechte in den vor den
nationalen Gerichten verhandelten Rechtsstreitigkeiten zu
beeinträchtigen(6).
5.
Dieser
Missstand lässt sich freilich begrenzen, wenn nicht sogar beheben, wenn
eine unionsrechtliche Bestimmung mit primärrechtlichem Rang,
insbesondere eine Bestimmung der Charta, die notwendigen Merkmale dafür
aufweist, dass sie in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen
unmittelbar geltend gemacht werden kann.
6.
Ebenso
wie andere in der Charta anerkannte soziale Grundrechte soll das in
Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Recht jedes Arbeitnehmers auf
bezahlten Jahresurlaub im Rahmen von Arbeitsverhältnissen gelten, die
zum Großteil privatrechtlicher Natur sind. Angesichts der vorerwähnten
ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur fehlenden horizontalen
Direktwirkung der – im Sozialrecht der Union zahlreichen – Richtlinien
und der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs, die die Möglichkeit zu
befürworten scheint, in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen
Bestimmungen der Charta mit zwingendem und eigenständigem Charakter
unmittelbar geltend zu machen(7), überrascht es kaum, dass der
Gerichtshof gefragt wird, ob es möglich ist, sich in einem Rechtsstreit
zwischen Privatpersonen unmittelbar auf Art. 31 Abs. 2 der Charta zu
berufen, um die Anwendung nationaler Vorschriften auszuschließen, die im
Widerspruch zu dieser Bestimmung stehen.
7.
Ausgangspunkt
unserer Überlegungen dazu ist nach meiner Meinung, dass es
grundsätzlich möglich sein muss, die in der Charta anerkannten
Grundrechte, sollen sie keine Leerformel bleiben, zu schützen, so dass
sie vor den nationalen Gerichten unmittelbar geltend gemacht werden
können. Es ist aber auch festzustellen, dass nicht alle Bestimmungen der
Charta in gleichem Maß justiziabel sind. Wenn der Gerichtshof also zu
entscheiden hat, ob es möglich ist, sich vor einem nationalen Gericht
unmittelbar auf eine Bestimmung der Charta zu berufen, um die Anwendung
nationaler Vorschriften auszuschließen, die im Widerspruch zu dieser
Bestimmung stehen, muss er den Wortlaut der betreffenden Bestimmung in
Verbindung mit den dazugehörigen Erläuterungen(8) berücksichtigen.
8.
Die vorliegenden Rechtssachen werden mir hauptsächlich die Gelegenheit
geben, im Folgenden darzulegen, aus welchen Gründen Art. 31 Abs. 2 der
Charta meines Erachtens die notwendigen Merkmale dafür aufweist, dass er
in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen unmittelbar geltend
gemacht werden kann, um die Anwendung entgegenstehender nationaler
Vorschriften auszuschließen.
I. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht9.
In Art. 31 Abs. 2 der Charta heißt es: „Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht … auf bezahlten Jahresurlaub.“
10.
Art. 7 („Jahresurlaub“) der Richtlinie 2003/88 lautet:
„(1)
Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder
Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach
Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung
erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach
den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
11.
Nach
Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten
Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Eine Abweichung von Art. 7
der Richtlinie ist jedoch nicht zulässig.
B. Deutsches Recht
12.
§ 7 Abs. 4 des Bundesurlaubsgesetzes(9) vom 8. Januar 1963 in der Fassung vom 7. Mai 2002(10) sieht vor:
„Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten.“13.
In § 1922 („Gesamtrechtsnachfolge“) Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs(11) heißt es:
„Mit
dem Tode einer Person (Erbfall) geht deren Vermögen (Erbschaft) als
Ganzes auf eine oder mehrere andere Personen (Erben) über.“II. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14.
Frau
Bauer ist Alleinerbin ihres am 20. Dezember 2010 verstorbenen Ehemanns,
der bei der Stadt Wuppertal, einer Körperschaft öffentlichen Rechts,
beschäftigt war. Diese lehnte den Antrag von Frau Bauer auf Zahlung
einer Vergütung in Höhe von 5 857,75 Euro zur Abgeltung von 25 Tagen
nicht genommenen Jahresurlaubs ab, die ihrem Ehemann vor seinem Tod
zustanden.
15.
Frau
Broßonn ist Alleinerbin ihres am 4. Januar 2013 verstorbenen Ehemanns,
der seit April 2003 bei der Firma Willmeroth beschäftigt und seit Juli
2012 arbeitsunfähig krank war. Die Firma Willmeroth lehnte den Antrag
von Frau Broßonn auf Zahlung einer Vergütung in Höhe von 3 702,72 Euro
zur Abgeltung von 32 Tagen nicht genommenen Urlaubs ab, die ihrem
Ehemann von seinem 35‑tägigen Jahresurlaub vor seinem Tod noch
zustanden.
16.
Frau
Bauer und Frau Broßonn klagten beide vor dem zuständigen Arbeitsgericht
(Deutschland) auf Zahlung der betreffenden Vergütungen. Diesen Klagen
wurde stattgegeben; die Berufungen der Stadt Wuppertal und der Firma
Willmeroth gegen die erstinstanzlichen Urteile wurden vom zuständigen
Landesarbeitsgericht (Deutschland) zurückgewiesen. Dagegen legten die
Stadt Wuppertal und die Firma Willmeroth Revision beim
Bundesarbeitsgericht (Deutschland) ein.
17.
In
den in diesen beiden Rechtssachen ergangenen Vorlagebeschlüssen führt
das vorlegende Gericht aus, der Gerichtshof habe zwar in seinem Urteil
vom 12. Juni 2014, Bollacke (C‑118/13, EU:C:2014:1755, im Folgenden:
Urteil Bollacke), bereits entschieden, dass Art. 7 der Richtlinie
2003/88 dahin auszulegen sei, dass er einzelstaatlichen
Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegenstehe, wonach der
Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ohne Begründung eines
Abgeltungsanspruchs für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub
untergehe, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers
ende. Es sei jedoch fraglich, ob diese Rechtsprechung auch dann gelte,
wenn ein solcher finanzieller Ausgleich nach dem nationalen Recht nicht
Teil der Erbmasse werde. Gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG in Verbindung mit § 1922
Abs. 1 BGB gehe nämlich der Urlaubsanspruch des Erblassers mit seinem
Tod unter, so dass er weder in einen Abgeltungsanspruch umgewandelt noch
Teil der Erbmasse werden könne. Jede andere Auslegung dieser
Bestimmungen wäre contra legem und komme daher nicht in Betracht.
18.
Das
vorlegende Gericht bemerkt außerdem, dass der Gerichtshof anerkannt
habe, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf von 15
Monaten seit dem Ende des Bezugsjahrs erlöschen könne, da dann der mit
diesem Anspruch verfolgte Zweck, dem Arbeitnehmer Erholung zu
ermöglichen und einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zur
Verfügung zu stellen, nicht mehr verwirklicht werden könne(12). Unter
Hinweis darauf, dass dieser Zweck wohl auch nach dem Tod des
Arbeitnehmers nicht mehr zu erreichen sei, fragt sich das vorlegende
Gericht, ob ein Untergang des Urlaubsanspruchs bzw. des Anspruchs auf
die finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub
tatsächlich ausgeschlossen sei oder ob davon ausgegangen werden müsse,
dass auch die Erben des verstorbenen Arbeitnehmers in den Schutzbereich
des durch die Richtlinie 2003/88 und die Charta garantierten bezahlten
Mindestjahresurlaubs fielen.
19.
In
diesem Zusammenhang wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob Art.
7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta als solche
unmittelbar die Wirkung entfalten können, dass der Arbeitgeber den Erben
des Arbeitnehmers einen finanziellen Ausgleich zu zahlen hat. In der
Rechtssache Willmeroth (C‑570/16), in der sich zwei Privatpersonen
gegenüberständen, stelle sich außerdem die Frage, ob die etwaige
unmittelbare Wirkung dieser Bestimmungen auch ein horizontales
Rechtsverhältnis erfasse.
20.
Unter
diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht die Verfahren ausgesetzt
und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt,
wobei die erste Frage in der Rechtssache Bauer (C‑569/16) und in der
Rechtssache Willmeroth (C‑570/16) identisch ist, während die zweite
Frage nur in der Rechtssache Willmeroth (C‑570/16) gestellt wird:
1.
Räumt Art. 7 der Richtlinie 2003/88 oder Art. 31 Abs. 2 der Charta dem
Erben eines während des Arbeitsverhältnisses verstorbenen Arbeitnehmers
einen Anspruch auf einen finanziellen Ausgleich für den dem Arbeitnehmer
vor seinem Tod zustehenden Mindestjahresurlaub ein, was nach § 7 Abs. 4
BUrlG in Verbindung mit § 1922 Abs. 1 BGB ausgeschlossen ist?2. Falls die Frage zu 1 bejaht wird: Gilt dies auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis zwischen zwei Privatpersonen bestand?
III. Würdigung
21.
Mit
seiner in den beiden verbundenen Rechtssachen Bauer (C‑569/16) und
Willmeroth (C‑570/16) gleichlautenden ersten Frage möchte das vorlegende
Gericht im Kern wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin
auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften oder
Gepflogenheiten wie den in den Ausgangsverfahren fraglichen
entgegensteht, wonach bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den
Tod des Arbeitnehmers der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ohne
Begründung eines Anspruchs auf eine finanzielle Vergütung für nicht
genommenen bezahlten Jahresurlaub untergeht und die Zahlung einer
solchen Vergütung an die Erben des verstorbenen Arbeitnehmers somit
ausgeschlossen ist.
22.
Für
den Fall, dass diese erste Frage bejaht wird, möchte das vorlegende
Gericht sodann wissen, ob sich der Erbe des verstorbenen Arbeitnehmers
gegenüber dem Arbeitgeber – unabhängig davon, ob es sich bei diesem um
eine Person des öffentlichen Rechts oder des Privatrechts handelt –
unmittelbar auf Art. 7 der Richtlinie 2003/88 oder auf Art. 31 Abs. 2
der Charta berufen kann, um die Zahlung einer finanziellen Vergütung für
nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub zu verlangen.
23.
Ich
erinnere daran, dass der Gerichtshof in seinem Urteil Bollacke im
Hinblick auf dieselben Vorschriften des deutschen Rechts bereits
entschieden hat, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen
ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten
wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach der
Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ohne Begründung eines Anspruchs auf
eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub
untergeht, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers
endet.
24.
Das
vorlegende Gericht ist gleichwohl der Ansicht, der Gerichtshof habe
nicht die Frage entschieden, ob der Anspruch auf finanziellen Ausgleich
auch dann Teil der Erbmasse werde, wenn das nationale Erbrecht dies
ausschließe. Aus dem deutschen Recht – wie es vom vorlegenden Gericht
ausgelegt wird – ergebe sich, dass der Urlaubsanspruch des Erblassers
mit dessen Tod untergehe und sich deshalb nach dessen Tod nicht in einen
Abgeltungsanspruch im Sinne von § 7 Abs. 4 BUrlG umwandeln könne, so
dass ein solcher Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für nicht
genommenen bezahlten Jahresurlaub nach § 1922 Abs. 1 BGB nicht Teil der
Erbmasse werde. § 7 Abs. 4 BUrlG könne in Verbindung mit § 1922 Abs. 1
BGB also nicht dahin ausgelegt werden, dass urlaubsrechtliche Ansprüche
eines im laufenden Arbeitsverhältnis verstorbenen Arbeitnehmers auf
dessen Erben übergingen. Ich weise darauf hin, dass dies der Stand des
deutschen Rechts gemäß der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist,
wie die von diesem Gericht angeführten eigenen Urteile zeigen(13).
25.
Im
Übrigen schließt das vorlegende Gericht nicht aus, dass sich die
Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Anspruch auf eine finanzielle
Vergütung für den wegen Todes des Arbeitnehmers nicht genommenen
bezahlten Jahresurlaub weiterentwickeln könnte, weil es möglicherweise
nicht dem nach Auffassung des Gerichtshofs mit dem Anspruch auf
bezahlten Jahresurlaub verfolgten Zweck entspreche, wenn der Erbe des
Arbeitnehmers eine solche Vergütung erhalte(14).
26.
Nach
meinem Dafürhalten können diese Umstände die Lösung, für die sich der
Gerichtshof in seinem Urteil Bollacke entschieden hat, nicht in Frage
stellen.
27.
Ganz
im Gegenteil: Wenn diese Lösung in ihrer konkreten Anwendung nicht
wirkungslos bleiben soll, bedeutet sie zwangsläufig, dass der Anspruch
auf eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten
Jahresurlaub auf die Erben des verstorbenen Arbeitnehmers im Wege der
Erbfolge übergeht. Mit anderen Worten: Da der Gerichtshof entschieden
hat, dass die Ansprüche auf Jahresurlaub und auf Bezahlung während des
Urlaubs zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs darstellen(15), dass die
finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub ein
Ausgleich dafür sein soll, dass es dem Arbeitnehmer nicht mehr möglich
ist, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich
wahrzunehmen(16), und unerlässlich ist, um die praktische Wirksamkeit
dieses Anspruchs sicherzustellen(17), und dass der Anspruch auf
bezahlten Jahresurlaub deshalb nicht durch den Tod des Arbeitnehmers
untergehen kann(18), ist daraus zwangsläufig zu schließen, dass dessen
Erben die Möglichkeit haben müssen, den Anspruch auf bezahlten
Jahresurlaub, der diesem Arbeitnehmer zustand, geltend zu machen, und
zwar in Form einer finanziellen Vergütung. Die gegenteilige Lösung hätte
zur Folge, dass „ein unwägbares, weder vom Arbeitnehmer noch vom
Arbeitgeber beherrschbares Vorkommnis“ dem verstorbenen Arbeitnehmer
rückwirkend seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub entziehen
würde(19).
28.
Im
Übrigen gibt es mehrere Anhaltspunkte dafür, dass der Gerichtshof in
seinem Urteil Bollacke die erbrechtlichen Aspekte seiner Entscheidung
berücksichtigt hat.
29.
So
werden § 7 Abs. 4 BUrlG und § 1922 Abs. 1 BGB in dem das deutsche Recht
betreffenden Teil des Urteils Bollacke zitiert. Mit den im Tenor dieses
Urteils erwähnten einzelstaatlichen Rechtsvorschriften sind folglich
diese beiden Bestimmungen gemeint(20).
30.
Zudem
geht aus der Sachverhaltsdarstellung im Urteil Bollacke hervor, dass
dem Gerichtshof durchaus bekannt war, dass es deshalb zum
Ausgangsrechtsstreit gekommen war, weil der Arbeitgeber den Anspruch von
Frau Bollacke auf finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten
Jahresurlaub ihres Ehemanns mit der Begründung zurückgewiesen hatte, er
bezweifle, dass es sich um einen vererbbaren Anspruch handle(21).
31.
Überdies
wurde eindeutig schon im Rahmen des Urteils Bollacke die Rechtsprechung
des Bundesarbeitsgerichts hinterfragt, der zufolge ein Anspruch auf
finanzielle Vergütung für den bis zur Beendigung des
Arbeitsverhältnisses nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub im Fall der
Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Tod des Arbeitnehmers
nicht entsteht. So bezweifelte das Landesarbeitsgericht Hamm
(Deutschland), dass an dieser nationalen Rechtsprechung im Hinblick auf
die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88
festgehalten werden könne(22).
32.
Schließlich
hat das Landesarbeitsgericht Hamm die Problematik, ob der Anspruch auf
eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub
in der Weise an die Person des Arbeitnehmers gebunden ist, dass dieser
Anspruch nur ihm zusteht, damit er die mit der Gewährung des bezahlten
Jahresurlaubs verbundenen Zwecke der Erholung und Freizeit auch zu einem
späteren Zeitpunkt verwirklichen kann, ausdrücklich in seiner zweiten
Frage angesprochen.
33.
Diesen
Feststellungen entnehme ich, dass die Fragestellungen, auf denen die
vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen beruhen, bereits Gegenstand der
Rechtssache waren, in der das Urteil Bollacke ergangen ist. Der
Gerichtshof hat sein Urteil somit unter Berücksichtigung der
erbrechtlichen Dimension dieser Rechtssache erlassen.
34.
Folglich
ist die vom Gerichtshof im Urteil Bollacke vorgenommene Auslegung zu
bestätigen, der zufolge Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen
ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten
wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach bei
Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Tod des Arbeitnehmers der
Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ohne Begründung eines Anspruchs auf
eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub
untergeht und die Zahlung einer solchen Vergütung an die Erben des
verstorbenen Arbeitnehmers somit ausgeschlossen ist.
35.
Es
ist nun zu prüfen, welche Konsequenzen das vorlegende Gericht im Rahmen
der bei ihm anhängigen Verfahren aus dieser Feststellung der
Unvereinbarkeit des einschlägigen nationalen Rechts mit Art. 7 der
Richtlinie 2003/88 zu ziehen hat.
36.
Was
als Erstes die Pflicht der nationalen Gerichte betrifft, sich „zur
Entschärfung“ der festgestellten Unvereinbarkeit um eine „vermittelnde
Lösung“(23) im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung zu bemühen,
ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesarbeitsgericht sich nicht in der
Lage sieht, § 7 Abs. 4 BUrlG und § 1922 Abs. 1 BGB im Einklang mit Art. 7
der Richtlinie 2003/88 in seiner Auslegung durch den Gerichtshof
auszulegen. Das vorlegende Gericht hält dies für eine im Rahmen der
unionsrechtskonformen Auslegung unzulässige Auslegung contra legem, was
seines Erachtens nur die nationalen Gerichte beurteilen können(24).
37.
In
diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass der Gerichtshof wiederholt
entschieden hat, dass „die sich aus einer Richtlinie ergebende
Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in der Richtlinie vorgesehene
Ziel zu erreichen, und ihre Pflicht, alle zur Erfüllung dieser
Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu
treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten und damit
im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten obliegenu“(25).
38.
„Folglich
müssen“ – so der Gerichtshof – „die mit der Auslegung des nationalen
Rechts betrauten nationalen Gerichte … bei dessen Anwendung sämtliche
nationalen Rechtsnormen berücksichtigen und die im nationalen Recht
anerkannten Auslegungsmethoden anwenden, um seine Auslegung so weit wie
möglich am Wortlaut und Zweck der fraglichen Richtlinie auszurichten,
damit das von ihr festgelegte Ergebnis erreicht und so Art. 288 Abs. 3
AEUV nachgekommen wird“(26).
39.
Zwar
hat der Gerichtshof festgestellt, dass „der Grundsatz der
unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmten
Schranken unterliegt. So findet die Verpflichtung des nationalen
Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften
des innerstaatlichen Rechts das Unionsrecht heranzuziehen, ihre
Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als
Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts
dienen“(27).
40.
In
diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof jedoch unmissverständlich
klargestellt, „dass das Erfordernis einer unionsrechtskonformen
Auslegung die Verpflichtung der nationalen Gerichte umfasst, eine
gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer
Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer
Richtlinie nicht vereinbar ist“(28).
41.
Somit
darf dem Gerichtshof zufolge ein nationales Gericht nicht davon
ausgehen, dass es eine nationale Vorschrift nicht im Einklang mit dem
Unionsrecht auslegen könne, nur weil es sie in ständiger Rechtsprechung
in einem nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren Sinne ausgelegt habe(29).
42.
In
Anbetracht dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs obliegt es dem
vorlegenden Gericht, zu prüfen, ob die in den Ausgangsverfahren in Rede
stehenden nationalen Vorschriften – § 7 Abs. 4 BUrlG und § 1922 Abs. 1
BGB – einer mit der Richtlinie 2003/88 im Einklang stehenden Auslegung
zugänglich sind. Dabei wird es zu berücksichtigen haben, dass zum einen
diese nationalen Rechtsvorschriften relativ weit und allgemein gefasst
sind(30) und zum anderen aus den Vorlagebeschlüssen selbst hervorzugehen
scheint, dass die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem
Unionsrecht auf der Auslegung dieser Vorschriften durch das
Bundesarbeitsgericht beruht(31). Es hat also den Anschein, als sei die
Auslegung der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen
Rechtsvorschriften durch das Bundesarbeitsgericht der Grund dafür, dass
dem Arbeitnehmer aufgrund seines Todes der Anspruch auf bezahlten
Jahresurlaub in seiner finanziellen Komponente – die ein Ausgleich dafür
sein soll, dass der Arbeitnehmer diesen Anspruch vor der Beendigung
seines Arbeitsverhältnisses nicht tatsächlich wahrnehmen konnte –
entzogen wird.
43.
Falls
das vorlegende Gericht weiterhin der Ansicht sein sollte, es könne das
nationale Recht wirklich nicht im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie
2003/88 auslegen, ist als Zweites zu prüfen, ob dieser Artikel
unmittelbare Wirkung entfaltet und ob sich Frau Bauer und Frau Broßonn
gegenüber den jeweiligen Arbeitgebern ihrer verstorbenen Ehemänner
gegebenenfalls darauf berufen können.
44.
Insoweit
ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass
„sich der Einzelne in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer
Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor
nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen
kann, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich
in das nationale Recht umgesetzt hat“(32).
45.
In
seinem Urteil vom 24. Januar 2012, Dominguez(33), hat der Gerichtshof
entschieden, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 diese Kriterien erfüllt,
„da er den Mitgliedstaaten unmissverständlich eine Verpflichtung zur
Erreichung eines bestimmten Ergebnisses auferlegt, die im Hinblick auf
die Anwendung der dort aufgestellten Regel an keine Bedingung geknüpft
ist und die dahin geht, jedem Arbeitnehmer einen bezahlten
Mindestjahresurlaub von vier Wochen zu gewähren“(34). Der Gerichtshof
hat im selben Urteil weiter festgestellt: „Auch wenn Art. 7 der
Richtlinie 2003/88 den Mitgliedstaaten einen gewissen
Gestaltungsspielraum beim Erlass der Bedingungen für die Inanspruchnahme
und Gewährung des dort niedergelegten Anspruchs auf bezahlten
Jahresurlaub lässt, so beeinträchtigt dieser Umstand doch nicht die
Genauigkeit und Unbedingtheit der in diesem Artikel vorgesehenen
Verpflichtung“, wobei Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dem Gerichtshof
zufolge „nicht zu den Vorschriften zählt, von denen Art. 17 [dieser]
Richtlinie Abweichungen zulässt“, so dass es „möglich [ist], den
Mindestschutz zu bestimmen, den die Mitgliedstaaten aufgrund von Art. 7
auf jeden Fall verwirklichen müssen“(35). In Rn. 36 seines Urteils vom
24. Januar 2012, Dominguez(36), stellt der Gerichtshof somit fest, dass
„Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 die Voraussetzungen erfüllt, um
unmittelbare Wirkung zu entfalten“.
46.
Was
speziell Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 betrifft, so dürfte sich
die Anerkennung seiner unmittelbaren Wirkung aus dem Urteil Bollacke
ergeben, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass diese Bestimmung
„für die Eröffnung des Anspruchs auf finanzielle Vergütung keine andere
Voraussetzung auf[stellt] als diejenige, dass zum einen das
Arbeitsverhältnis beendet ist und dass zum anderen der Arbeitnehmer
nicht den gesamten Jahresurlaub genommen hat, auf den er bis zur
Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hatte“(37). Im Übrigen
besteht der in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 vorgesehene Anspruch
auf finanzielle Vergütung, wie der Gerichtshof in demselben Urteil
hervorgehoben hat, „unmittelbar kraft der Richtlinie 2003/88“(38).
47.
Es
ist nun zu prüfen, ob sich in jeder der vorliegenden verbundenen
Rechtssachen der Erbe des verstorbenen Arbeitnehmers gegenüber dem
Arbeitgeber a– unabhängig davon, ob es sich bei diesem um eine Person des
öffentlichen Rechts oder des Privatrechts handelt – unmittelbar auf
Art. 7 der Richtlinie 2003/88 berufen kann, um die Zahlung einer
finanziellen Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub zu
verlangen, d. h. die finanzielle Komponente des Anspruchs auf bezahlten
Jahresurlaub wahrzunehmen.
48.
Es
erweist sich, dass Frau Bauer und Frau Broßonn im Hinblick auf die
Gewährleistung eines wirksamen Schutzes des Anspruchs auf bezahlten
Jahresurlaub, den ihre verstorbenen Ehemänner erworben hatten, einander
nicht gleichgestellt sind, da der Gerichtshof es in ständiger
Rechtsprechung ablehnt, den Richtlinien eine horizontale Direktwirkung
zuzuerkennen(39).
49.
Da
ihr Ehemann bei der Stadt Wuppertal, einer Körperschaft des
öffentlichen Rechts, beschäftigt war, kann Frau Bauer ihren Anspruch auf
eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub,
der ihr wie gesagt unmittelbar kraft der Richtlinie 2003/88 zusteht,
ohne Schwierigkeiten gegenüber dieser Körperschaft geltend machen. Wenn
sich der Einzelne nämlich „nicht einem Privaten, sondern dem Staat
gegenüber auf eine Richtlinie berufen kann, [kann er] dies unabhängig
davon tun, in welcher Eigenschaft – als Arbeitgeber oder als
Hoheitsträger – der Staat handelt. In dem einen wie dem anderen Fall
muss nämlich verhindert werden, dass der Staat aus der Nichtbeachtung
des Unionsrechts Nutzen ziehen kann“(40). Auf der Grundlage dieser
Erwägungen hat der Gerichtshof anerkannt, dass „sich die Einzelnen auf
unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen einer Richtlinie nicht
nur gegenüber einem Mitgliedstaat und allen Trägern seiner Verwaltung
wie den dezentralen Stellen berufen können …, sondern auch … gegenüber
Organisationen oder Einrichtungen, die dem Staat oder dessen Aufsicht
unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über
diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen
zwischen Privatpersonen gelten“(41).
50.
Daher
ist dem Bundesarbeitsgericht in der Rechtssache Bauer (C‑569/16) zu
antworten, dass ein mit einem Rechtsstreit zwischen einer Privatperson
und einer Körperschaft des öffentlichen Rechts befasstes nationales
Gericht, wenn es das einschlägige nationale Recht nicht im Einklang mit
Art. 7 der Richtlinie 2003/88 auslegen kann, verpflichtet ist, im Rahmen
seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus diesem Artikel erwachsenden
Rechtsschutz zu gewährleisten und für dessen volle Wirksamkeit zu
sorgen, indem es erforderlichenfalls von der Anwendung jeder
entgegenstehenden nationalen Vorschrift absieht.
51.
Frau Broßonn befindet sich dagegen in einer komplizierteren
verfahrensrechtlichen Lage, da ihr Ehemann bei einer Person des
Privatrechts beschäftigt war. Nach ständiger Rechtsprechung des
Gerichtshofs kann eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen
Einzelnen begründen, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die
Richtlinie als solche vor einem nationalen Gericht nicht möglich
ist(42). Obwohl die Richtlinie 2003/88 also nach ihrem Art. 1 Abs. 3 für
alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche gelten soll, wird
Frau Broßonn einen mühsameren Weg zurücklegen und dabei manches
Hindernis überwinden müssen, um zu erreichen, dass das Unionsrecht ihr
unmittelbar die Zahlung einer finanziellen Vergütung für nicht
genommenen bezahlten Jahresurlaub gewährleistet. Ich werde jedoch
versuchen, diesen Weg so deutlich zu markieren, dass es für die
Rechtsuchenden in Zukunft leichter sein wird, einen wirksamen Schutz des
grundrechtlich verbürgten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub
durchzusetzen.
52.
In
diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger
Rechtsprechung „die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte
in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung
finden“(43). Da § 7 Abs. 4 BUrlG die Richtlinie 93/104/EG des Rates vom
23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung(44)
umgesetzt hat, deren Bestimmungen durch die Richtlinie 2003/88
kodifiziert wurden, findet Art. 31 Abs. 2 der Charta in den
Ausgangsverfahren Anwendung.
53.
Nach
dieser Klarstellung bin ich der Ansicht, dass ein mit einem
Rechtsstreit zwischen zwei Privatpersonen befasstes nationales Gericht,
wenn es das einschlägige nationale Recht nicht im Einklang mit Art. 7
der Richtlinie 2003/88 auslegen kann, verpflichtet ist, im Rahmen seiner
Befugnisse den dem Einzelnen aus Art. 31 Abs. 2 der Charta der
Grundrechte der Europäischen Union erwachsenden Rechtsschutz zu
gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmung zu sorgen,
indem es erforderlichenfalls von der Anwendung jeder entgegenstehenden
nationalen Vorschrift absieht. Meines Erachtens weist Art. 31 Abs. 2 der
Charta die notwendigen Merkmale dafür auf, dass er in einem
Rechtsstreit zwischen Privatpersonen unmittelbar geltend gemacht werden
kann, um die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften auszuschließen,
aufgrund deren ein Arbeitnehmer seinen Anspruch auf bezahlten
Jahresurlaub verliert. Ich schlage dem Gerichtshof somit vor, ähnlich zu
entscheiden, wie er es in Bezug auf das allgemeine Verbot der
Diskriminierung wegen des Alters(45) und sodann in Bezug auf die Art. 21
und 47 der Charta(46) getan hat.
54.
Nach
Art. 31 Abs. 2 der Charta haben „[j]ede Arbeitnehmerin und jeder
Arbeitnehmer das Recht … auf bezahlten Jahresurlaub“. Wie der
Gerichtshof bereits hervorgehoben hat, ist der Anspruch auf bezahlten
Jahresurlaub somit ausdrücklich in dieser Bestimmung der Charta
verankert, der von Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den
Verträgen zuerkannt wird(47).
55.
Aus
den Erläuterungen zu Art. 31 Abs. 2 der Charta geht hervor, dass diese
Bestimmung „auf die Richtlinie 93/104 … sowie auf Artikel 2 der
Europäischen Sozialcharta und auf Nummer 8 der Gemeinschaftscharta der
Arbeitnehmerrechte“ gestützt ist(48). Wie schon erwähnt, wurde die
Richtlinie 93/104 später durch die Richtlinie 2003/88 kodifiziert; nach
dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88(49) – einer
Bestimmung, von der diese Richtlinie keine Abweichung zulässt – steht
jedem Arbeitnehmer ein Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub von
vier Wochen zu. Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, ist
dieser Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer
Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, dessen Umsetzung durch
die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen erfolgen kann, die
in der Richtlinie 2003/88 selbst ausdrücklich vorgesehen sind(50).
56.
Aus
dem so beschriebenen Regelwerk ergibt sich, dass der Anspruch auf
bezahlten Jahresurlaub einen besonders bedeutsamen Grundsatz des
Sozialrechts der Union darstellt und nunmehr in Art. 31 Abs. 2 der
Charta niedergelegt ist sowie durch die Richtlinie 2003/88 konkretisiert
wird.
57.
Die
vorliegenden Rechtssachen bieten dem Gerichtshof die Gelegenheit, seine
Rechtsprechung auf die notwendige Gewährleistung der Wirksamkeit der
sozialen Grundrechte auszurichten und so dafür zu sorgen, dass der
Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht mehr nur als ein besonders
bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union angesehen, sondern auch
und vor allem als vollwertiges soziales Grundrecht anerkannt wird(51).
Ich fordere den Gerichtshof deshalb auf, die gerichtliche Durchsetzung
derjenigen sozialen Grundrechte zu stärken, auf die sich ein Einzelner
aufgrund ihrer Merkmale in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen
unmittelbar berufen kann.
58.
Nach
dem Prüfungsschema, das der Gerichtshof in seinem Urteil Association de
médiation sociale aufgestellt hat, halte ich es für rechtlich
begründet, anzuerkennen, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta in einem
Rechtsstreit zwischen Privatpersonen unmittelbar geltend gemacht werden
kann, um die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften zu verhindern,
aufgrund deren die Arbeitnehmer ihren Anspruch auf bezahlten
Jahresurlaub verlieren.
59.
In
diesem Urteil hat der Gerichtshof seine Weigerung bekräftigt, den
Richtlinien eine horizontale Direktwirkung zuzuerkennen, und auf seine
ständige Rechtsprechung verwiesen, wonach sogar eine klare, genaue und
unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt
oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, im Rahmen eines
Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, nicht
als solche Anwendung finden kann(52).
60.
Das
vorlegende Gericht hatte erklärt, es könne die fehlende horizontale
Direktwirkung der in Rede stehenden Richtlinie nicht durch eine
richtlinienkonforme Auslegung seines nationalen Rechts wettmachen. Der
Gerichtshof musste daher prüfen, ob – entsprechend seiner Entscheidung
im Urteil vom 19. Januar 2010, Kücükdeveci(53) – Art. 27 der Charta(54)
für sich genommen oder in Verbindung mit den Bestimmungen der Richtlinie
2002/14/EG(55) in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen geltend
gemacht werden konnte, um gegebenenfalls die Anwendung der nicht
richtlinienkonformen nationalen Rechtsvorschrift auszuschließen.
61.
Nachdem
der Gerichtshof festgestellt hatte, dass Art. 27 der Charta auf den
Ausgangsrechtsstreit Anwendung fand, wies er darauf hin, dass dieser
Artikel, wie aus seinem Wortlaut klar hervorgeht, durch Bestimmungen des
Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss, um
seine volle Wirksamkeit entfalten zu können(56).
62.
Der
Gerichtshof führt dazu aus: „Das in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie
2002/14 enthaltene und an die Mitgliedstaaten gerichtete Verbot, bei der
Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens eine bestimmte Gruppe
von Arbeitnehmern, die ursprünglich zu dem Kreis der bei dieser
Berechnung zu berücksichtigenden Personen gehörte, auszuschließen, lässt
sich als unmittelbar anwendbare Rechtsnorm weder aus dem Wortlaut des
Art. 27 der Charta noch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel
herleiten“(57).
63.
Infolgedessen
kann er sodann feststellen, dass „sich die Umstände des
Ausgangsverfahrens von denen unterscheiden, die zum Urteil [vom 19.
Januar 2010, Kücükdeveci (C‑555/07, EU:C:2010:21)] geführt haben, da das
in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegte Verbot der Diskriminierung
wegen des Alters, um das es in jener Rechtssache ging, schon für sich
allein dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er als solches
geltend machen kann“(58).
64.
Der
Gerichtshof schließt daraus, dass „Art. 27 der Charta als solcher in
einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens nicht geltend gemacht
werden [kann], um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass die mit der
Richtlinie 2002/14 nicht konforme nationale Bestimmung unangewendet zu
lassen ist“(59).
65.
Dem
Gerichtshof zufolge kann „[d]iese Feststellung … nicht dadurch
entkräftet werden, dass Art. 27 der Charta im Zusammenhang mit den
Bestimmungen der Richtlinie 2002/14 betrachtet wird. Da dieser Artikel
nämlich für sich allein nicht ausreicht, um dem Einzelnen ein Recht zu
verleihen, das dieser als solches geltend machen kann, kann bei einer
solchen Zusammenschau nichts anderes gelten“(60).
66.
Die
durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht
geschädigte Partei muss sich dann mit der Behelfslösung abfinden, die
darin besteht, sich „auf die mit dem Urteil vom 19. November 1991,
Francovich u. a. (C‑6/90 und C‑9/90, [EU:C:1991:428]), begründete
Rechtsprechung [zu] berufen, um gegebenenfalls Ersatz des entstandenen
Schadens zu erlangen“(61).
67.
Der
Gerichtshof hat somit in seinem Urteil Association de médiation sociale
das Zeichen gesetzt, dass nicht alle Bestimmungen in Titel IV
(„Solidarität“) der Charta im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen
Privatpersonen unmittelbar geltend gemacht werden können. Auf diese
Weise konnte der Gerichtshof gewisse Befürchtungen ausräumen, er neige
zu einer extensiven Anerkennung der Möglichkeit, die in der Charta
anerkannten sozialen Grundrechte in Rechtsstreitigkeiten zwischen
Privatpersonen unmittelbar geltend zu machen.
68.
Es
wurde mit Recht darauf hingewiesen, dass die vom Gerichtshof in diesem
Urteil gewählte Lösung nicht frei von Nachteilen für einen wirksamen
Schutz der sozialen Grundrechte ist(62). Auch ist die Annahme
berechtigt, dass es nach Art. 52 Abs. 5 der Charta nicht nur nicht
ausgeschlossen, sondern ausdrücklich zulässig war, eine Bestimmung der
Charta, in der ein „Grundsatz“ anerkannt wird, vor den nationalen
Gerichten bei der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit zur Durchführung
des Unionsrechts erlassener nationaler Akte unmittelbar heranzuziehen.
69.
Andererseits
ist es auch verständlich, dass sich der Gerichtshof bei seiner Aufgabe
als Interpret der Charta und unter umfassender Wahrung des Grundsatzes
der Gewaltenteilung an den Wortlaut der Bestimmungen der Charta gebunden
fühlt, insbesondere dann, wenn diese zwar ein Recht oder einen
Grundsatz anerkennen, aber wie z. B. Art. 27 der Charta auf die Fälle
und Voraussetzungen verweisen, „die nach dem Unionsrecht und den
einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen
sind“.
70.
Nach
dieser Logik kann davon ausgegangen werden, dass der Gerichtshof mit
seinem Urteil Association de médiation sociale, ohne sich ausdrücklich
dahin zu äußern, die summa divisio zwischen den in der Charta
proklamierten Grundsätzen mit eingeschränkter und mittelbarer
Justiziabilität und den in der Charta anerkannten Rechten mit voller und
unmittelbarer Justiziabilität respektiert hat.
71.
Wie
dem auch sei, ich werde mich nicht an der Debatte über die jeweiligen
Wirkungen der in der Charta anerkannten Rechte und Grundsätze und über
den jeweiligen Grad ihrer Justiziabilität beteiligen, da ich es
angesichts des Wortlauts von Art. 31 Abs. 2 der Charta für völlig
unbestreitbar halte, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ein
Arbeitnehmerrecht ist(63).
72.
Ich
möchte mich lieber auf das konzentrieren, was das Urteil Association de
médiation sociale ausdrücklich besagt, dass nämlich die Richtlinie
2002/14 und Art. 27 der Charta weder jeweils für sich allein noch in
Verbindung miteinander den Einzelnen ein Recht verleihen, das diese im
Rahmen eines horizontalen Rechtsstreits unmittelbar als solches geltend
machen könnten.
73.
Mit anderen Worten: Durch die Kombination der betreffenden Bestimmung
der Charta mit einer sekundärrechtlichen Vorschrift der Union, die diese
Bestimmung konkretisieren soll, lässt sich nicht erreichen, dass
Letztere unmittelbar geltend gemacht werden kann(64). Zugleich ergibt
sich aus der Argumentation des Gerichtshofs im Urteil Association de
médiation sociale, dass die unmittelbare Geltendmachung von Bestimmungen
der Charta im Rahmen eines horizontalen Rechtsstreits nicht von
vornherein ausgeschlossen ist. Eine solche Geltendmachung ist möglich,
wenn der betreffende Artikel der Charta für sich allein ausreicht, um
dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das dieser als solches geltend
machen kann(65). Dies ist dem Gerichtshof zufolge bei Art. 27 der Charta
nicht der Fall, der seinem Wortlaut gemäß „durch Bestimmungen des
Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss“(66),
um seine volle Wirksamkeit entfalten zu können.
74.
Die
innere Logik der Argumentation des Gerichtshofs im Urteil Association
de médiation sociale dürfte somit auf der Überlegung beruhen, dass eine
Richtlinie, die ein durch eine Bestimmung der Charta anerkanntes
Grundrecht konkretisiert, dieser Bestimmung nicht zu den Merkmalen
verhelfen kann, die für eine unmittelbare Geltendmachung in einem
Rechtsstreit zwischen Privatpersonen notwendig sind, wenn feststeht,
dass diese Bestimmung weder aufgrund ihres Wortlauts noch nach den sie
betreffenden Erläuterungen selbst über derartige Merkmale verfügt. Denn
nach dieser Logik kann eine Richtlinie, die keine horizontale
Direktwirkung hat, einer Bestimmung der Charta unmöglich eine solche
Wirkung übertragen.
75.
Das
Urteil Association de médiation sociale hat folglich die Unklarheit
beendet, die mit der Formulierung im Urteil vom 19. Januar 2010,
Kücükdeveci(67), zusammenhing, wonach es möglich erschien, das „Verbot
der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die
Richtlinie 2000/78/EG(68)“ geltend zu machen(69). Stellte diese
Formulierung nicht letztlich die gefestigte Rechtsprechung zur fehlenden
unmittelbaren Direktwirkung der Richtlinien, ja sogar zur
Normenhierarchie in Frage(70)? Insoweit ergibt sich aus dem Urteil
Association de médiation sociale eindeutig, dass die mit dem Urteil vom
19. Januar 2010, Kücükdeveci(71), begründete Rechtsprechung
aufrechterhalten wird und dass nur eine Bestimmung mit primärrechtlichem
Rang gegebenenfalls im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privatleuten
geltend gemacht werden kann(72). Es lässt sich mithin sagen, dass
dieses Urteil, soweit es anerkennt, dass Bestimmungen der Charta im
Rahmen horizontaler Rechtsstreitigkeiten unmittelbar geltend gemacht
werden können, einen zusätzlichen Ausgleich für die fehlende horizontale
Direktwirkung der Richtlinien begründet(73).
76.
Der
Gerichtshof hat diese Rechtsprechung in seinem Urteil vom 17. April
2018, Egenberger(74), fortgeführt, indem er anerkannt hat, dass Art. 21
der Charta, soweit er Diskriminierungen wegen der Religion oder der
Weltanschauung verbietet(75), und Art. 47 der Charta, der das Recht auf
einen wirksamen Rechtsbehelf gewährleistet(76), in einem Rechtsstreit
zwischen Privatpersonen unmittelbar geltend gemacht werden können.
77.
Im
Gegensatz zu manchen Äußerungen steht die Anerkennung der Möglichkeit,
Bestimmungen der Charta im Rahmen horizontaler Rechtsstreitigkeiten
unmittelbar geltend zu machen – in der meines Erachtens der Hauptbeitrag
des Urteils Association de médiation sociale zu sehen ist –, nicht im
Widerspruch zu Art. 51 der Charta, denn durch diese Anerkennung sollen
die Mitgliedstaaten, an die die Bestimmungen der Charta gerichtet sind,
dazu veranlasst werden, die darin anerkannten Grundrechte bei der
Durchführung des Unionsrechts zu beachten. Der Umstand, dass diese
Rechte im Rahmen eines horizontalen Rechtsstreits geltend gemacht
werden, ist unter diesem Aspekt nicht entscheidend; jedenfalls kann er
den Mitgliedstaaten nicht erlauben, sich der Feststellung zu entziehen,
dass sie bei der Durchführung des Unionsrechtsgegen die Charta verstoßen
haben(77).
78.
Es
muss somit endgültig das Hindernis beseitigt werden, das in Gestalt von
Art. 51 Abs. 1 der Charta der Möglichkeit, Bestimmungen der Charta in
Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen unmittelbar geltend zu
machen, im Weg stehen könnte. Obwohl dieser Artikel vorsieht, dass die
Charta „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union …
und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des
Rechts der Union [gilt]“, schließt er nicht ausdrücklich jegliche
Auswirkung der Charta auf Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen
aus(78). Hinzu kommt, dass der Gerichtshof mehreren Bestimmungen des
Primärrechts der Union eine horizontale Direktwirkung beigemessen hat,
obwohl sie nach ihrem Wortlaut an die Mitgliedstaaten gerichtet
sind(79).
79.
Der
Gerichtshof hat mit seinem Urteil Association de médiation
socialefolglich ein Prüfungsschema zur Verbindung des durch Richtlinien
gewährten Schutzes mit grundrechtsschützenden Normen eingeführt(80). Die
vorliegenden Rechtssachen bieten dem Gerichtshof die Gelegenheit,
dieses Prüfungsschema zu ergänzen und zu verdeutlichen, und zwar diesmal
in Bezug auf einen Artikel der Charta – Art. 31 Abs. 2 –, der anders
als Art. 27 nach meiner Meinung die notwendigen Merkmale dafür aufweist,
dass er in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen unmittelbar
geltend gemacht werden kann, um gegebenenfalls die Anwendung einer
entgegenstehenden nationalen Regelung auszuschließen.
80.
Die
betreffende Bestimmung der Charta kommt für eine solche unmittelbare
Geltendmachung nur in Betracht, wenn sie aufgrund ihrer im Wortlaut
angelegten wesentlichen Merkmale zwingender Natur und eigenständig
ist(81).
81.
Das
Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub, wie es in Art. 31 Abs. 2 der
Charta formuliert ist, hat ohne jeden Zweifel zwingenden Charakter. Der
Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung kontinuierlich sowohl die
Bedeutung als auch den zwingenden Charakter des Anspruchs auf bezahlten
Jahresurlaub unter Hinweis darauf betont, dass dieser „als ein besonders
bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem
nicht abgewichen werden darf“(82). Dieser Anspruch ist deshalb nicht
nur für staatliche Stellen verbindlich, sondern er gilt auch im Rahmen
von Arbeitsverhältnissen zwischen Privatpersonen. Es handelt sich hier
um ein Kriterium, auf das der Gerichtshof schon in seinem Urteil vom 8.
April 1976, Defrenne (43/75, EU:C:1976:56)(83), abgestellt hat.
82.
Im
Übrigen muss die betreffende Bestimmung der Charta, wie zuvor
dargelegt, eigenständig sein(84), was bedeutet, dass keine ergänzende
Bestimmung des Unions- oder des nationalen Rechts erforderlich sein
darf, um das in der Charta anerkannte Grundrecht operativ zu machen(85).
Die betreffende Bestimmung der Charta bedarf mit anderen Worten keiner
zusätzlichen Maßnahme, um Wirkungen unmittelbar gegenüber den Einzelnen
zu entfalten.
83.
Ich
bin der Auffassung, dass gerade Art. 31 Abs. 2 der Charta angesichts
seines Wortlauts keine ergänzende Maßnahme benötigt, um Wirkungen
unmittelbar gegenüber den Einzelnen zu entfalten. Unter diesen Umständen
mag der Erlass von Vorschriften des sekundären Unionsrechts und/oder
von Durchführungsbestimmungen seitens der Mitgliedstaaten sicherlich
hilfreich sein, um den Einzelnen die konkrete Inanspruchnahme des
jeweiligen Grundrechts zu erleichtern. Der Erlass solcher Maßnahmen, der
nach dem Wortlaut der fraglichen Bestimmung der Charta nicht
vorgeschrieben ist, ist jedoch keine notwendige Voraussetzung dafür,
dass diese Bestimmung ihre Wirkungen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten
unmittelbar entfalten kann, mit denen die nationalen Gerichte befasst
sind(86).
84.
Nach
alledem weist Art. 31 Abs. 2 der Charta, soweit er jedem Arbeitnehmer
das Recht auf bezahlten Jahresurlaub zuerkennt, die notwendigen Merkmale
dafür auf, dass er im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen
Privatpersonen unmittelbar geltend gemacht werden kann, um die Anwendung
nationaler Rechtsvorschriften auszuschließen, die dazu führen, dass ein
Arbeitnehmer dieses Recht verliert. Dies ist aber, wie vorstehend
dargelegt, bei nationalen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten der
Fall, wonach bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Tod des
Arbeitnehmers der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ohne Begründung
eines Anspruchs auf eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen
bezahlten Jahresurlaub untergeht und die Zahlung einer solchen Vergütung
an die Erben des verstorbenen Arbeitnehmers somit ausgeschlossen ist.
Wie der Gerichtshof nämlich in seinem Urteil Bollacke im Kern
festgestellt hat, führen solche nationalen Rechtsvorschriften oder
Gepflogenheiten „rückwirkend zum vollständigen Verlust des Anspruchs auf
bezahlten Jahresurlaub selbst“(87).
85.
Ich
schlage dem Gerichtshof daher im Rahmen der Rechtssache Willmeroth
(C‑570/16) vor, dem Bundesarbeitsgericht zu antworten, dass ein mit
einem Rechtsstreit zwischen zwei Privatpersonen befasstes nationales
Gericht, wenn es das einschlägige nationale Recht nicht im Einklang mit
Art. 7 der Richtlinie 2003/88 auslegen kann, verpflichtet ist, im Rahmen
seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus Art. 31 Abs. 2 der Charta
erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit
dieser Bestimmung zu sorgen, indem es erforderlichenfalls von der
Anwendung jeder entgegenstehenden nationalen Vorschrift absieht.
86.
Ich
werde meine Ausführungen durch den Hinweis ergänzen, dass der Befund,
wonach Art. 31 Abs. 2 der Charta, soweit er jedem Arbeitnehmer das Recht
auf bezahlten Jahresurlaub zuerkennt, schon für sich allein einer
Privatperson ein Recht verleiht, das sie in einem Rechtsstreit mit einer
anderen Privatperson in einem vom Unionsrecht erfassten Bereich als
solches geltend machen kann, die Frage nach der Feststellung des
normativen Inhalts dieser Bestimmung nicht erschöpfend beantwortet.
87.
In
diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass dem Urteil Association
de médiation sociale u. a. die Erkenntnis zu entnehmen ist, dass bei der
Prüfung, ob eine Bestimmung der Charta in einem Rechtsstreit zwischen
Privatpersonen unmittelbar geltend gemacht werden kann, die
Erläuterungen zur Charta zu berücksichtigen sind(88). Daher müssen diese
Erläuterungen meines Erachtens herangezogen werden, um den normativen
Inhalt der unmittelbar anwendbaren Rechtsvorschrift des Art. 31 Abs. 2
der Charta zu definieren. Eine solche Berücksichtigung der Erläuterungen
zur Charta gebietet im Übrigen auch Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV,
wonach „[d]ie in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und
Grundsätze … gemäß den allgemeinen Bestimmungen des Titels VII der
Charta, der ihre Auslegung und Anwendung regelt, und unter gebührender
Berücksichtigung der in der Charta angeführten Erläuterungen, in denen
die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt [werden]“.
Laut Art. 52 Abs. 7 der Charta sind „[d]ie Erläuterungen, die als
Anleitung für die Auslegung dieser Charta verfasst wurden, … von den
Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu
berücksichtigen“(89).
88.
Aus
den Erläuterungen zu Art. 31 Abs. 2 der Charta ergibt sich, dass deren
Verfasser bei der Ausarbeitung dieser Bestimmung u. a. auf die
Richtlinie 93/104 zurückgegriffen haben. Denn nach diesen Erläuterungen
„stützt sich [Art. 31 Abs. 2 der Charta] auf die Richtlinie 93/104“. Die
Richtlinie 93/104 wurde später durch die Richtlinie 2003/88
kodifiziert; wie aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie
2003/88 hervorgeht(90) – einer Bestimmung, von der diese Richtlinie
keine Abweichung zulässt –, erhält jeder Arbeitnehmer einen bezahlten
Mindestjahresurlaub von vier Wochen. Somit findet sich in Art. 31 Abs. 2
der Charta der harte Kern der Richtlinie 93/104, denn dieser Artikel
besiegelt und bekräftigt das, was die Substanz dieser Richtlinie
auszumachen scheint(91).
89.
Aus
dieser Normenverflechtung, die ihren Niederschlag in der neueren
Rechtsprechung des Gerichtshofs findet(92), schließe ich, dass Art. 31
Abs. 2 der Charta jedem Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub
von vier Wochen garantiert(93). Mit anderen Worten, um den normativen
Inhalt von Art. 31 Abs. 2 der Charta zu definieren und die aus dieser
Bestimmung resultierenden Verpflichtungen zu bestimmen, können meines
Erachtens Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und die Rechtsprechung nicht
außer Acht gelassen werden, mit der der Gerichtshof auf dieser Grundlage
in den ihm unterbreiteten Rechtssachen den Inhalt und die Tragweite des
„besonders bedeutsamen Grundsatzes des Sozialrechts der Union“(94), den
der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub darstellt(95), präzisiert hat.
90.
Wegen
dieser Normenverflechtung ist auch das vom Gerichtshof anerkannte und
verdeutlichte Recht auf eine finanzielle Vergütung, die einem
Arbeitnehmer nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 zusteht, der aus
von seinem Willen unabhängigen Gründen nicht in der Lage war, seinen
Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vor dem Ende des
Arbeitsverhältnisses auszuüben(96), als ein durch Art. 31 Abs. 2 der
Charta geschütztes Recht anzusehen(97).
91.
Die
neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs scheint mir im Übrigen bei der
Klärung der Frage, welche Verpflichtungen sich aus der Charta ergeben,
in die Richtung einer Berücksichtigung der Rechtsnorm zu gehen, durch
die das betreffende Grundrecht konkretisiert wird(98).
92.
Zusammenfassend
ist festzuhalten, dass der Gerichtshof in seinem Urteil Association de
médiation sociale offenbar die Konsequenzen daraus gezogen hat, dass
nicht alle Bestimmungen der Charta gleichermaßen geeignet sind, in
Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen unmittelbar geltend gemacht
zu werden. Erweist es sich, dass eine Bestimmung der Charta eine
schwache normative Intensität hat, erfordert der Schutz des darin
anerkannten Grundrechts ein Eingreifen des Gesetzgebers der Union
und/oder der nationalen Gesetzgeber, so dass die Bestimmung für sich
allein keine unmittelbar operative Rechtswirkung im Rahmen eines
nationalen Rechtsstreits entfalten kann. In dieser Situation muss der
Gerichtshof dann zwangsläufig dem Umstand Rechnung tragen, dass es nach
dem Willen der Verfasser der Charta dem Gesetzgeber der Union und/oder
den nationalen Gesetzgebern überlassen bleiben soll, den Inhalt der
darin anerkannten Grundrechte näher zu bestimmen und festzulegen, wie
diese umgesetzt werden sollen.
93.
Diese
Haltung des Gerichtshofs ist zwar vor allem im Hinblick auf den
Grundsatz der Gewaltenteilung verständlich, ihr muss meines Erachtens
aber als Ausgleich ein flexiblerer Ansatz gegenüberstehen, wenn es um
Bestimmungen wie Art. 31 Abs. 2 der Charta geht, die ein Recht
anerkennen, ohne ausdrücklich auf den Erlass unionsrechtlicher oder
nationaler Vorschriften zu verweisen.
94.
Es
darf auch nicht unterschätzt werden, dass anderen Instrumenten zum
Schutz der Grundrechte wie der Europäischen Sozialcharta möglicherweise
von den nationalen Gerichten unmittelbare Wirkung beigemessen wird.
Insoweit würde die Weigerung des Gerichtshofs, Art. 31 Abs. 2 der Charta
unmittelbare Wirkung zuzuerkennen, meines Erachtens dem bei nationalen
Gerichten festzustellenden Trend zu mehr Aufgeschlossenheit gegenüber
der Anerkennung einer unmittelbaren Wirkung der Europäischen
Sozialcharta zuwiderlaufen(99).
95.
Ich
fordere den Gerichtshof daher auf, Art. 31 Abs. 2 der Charta nicht
allzu restriktiv auszulegen und eine ausgewogene Rechtsprechung dahin
gehend zu entwickeln, dass zwar nicht alle Bestimmungen der Charta, in
denen soziale Grundrechte anerkannt werden, die erforderlichen Merkmale
aufweisen, um eine horizontale Direktwirkung zu entfalten, dass dies
jedoch bei Bestimmungen der Fall sein muss, die zwingenden und
eigenständigen Charakter haben. Mit einem Wort: Die vorliegenden
Rechtssachen bieten dem Gerichtshof die Gelegenheit, dafür zu sorgen,
dass die Anerkennung sozialer Grundrechte keine „bloße Beschwörung“
bleibt(100).
IV. Ergebnis
96.
Nach
alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des
Bundesarbeitsgerichts (Deutschland) in den verbundenen Rechtssachen
Bauer (C‑569/16) und Willmeroth (C‑570/16) wie folgt zu beantworten:
1.
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der
Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass er nationalen
Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten wie den in den Ausgangsverfahren
fraglichen entgegensteht, wonach bei Beendigung des
Arbeitsverhältnisses durch den Tod des Arbeitnehmers der Anspruch auf
bezahlten Jahresurlaub ohne Begründung eines Anspruchs auf eine
finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub
untergeht und die Zahlung einer solchen Vergütung an die Erben des
verstorbenen Arbeitnehmers somit ausgeschlossen ist.
2. Außerdem schlage ich in der Rechtssache Bauer (C‑569/16) vor, dem Bundesarbeitsgericht Folgendes zu antworten:
Wenn
ein mit einem Rechtsstreit zwischen einer Privatperson und einer
Körperschaft des öffentlichen Rechts befasstes nationales Gericht das
einschlägige nationale Recht nicht im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie
2003/88 auslegen kann, ist es verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse
den dem Einzelnen aus diesem Artikel erwachsenden Rechtsschutz zu
gewährleisten und für dessen volle Wirksamkeit zu sorgen, indem es
erforderlichenfalls von der Anwendung jeder entgegenstehenden nationalen
Vorschrift absieht.3. Schließlich schlage ich dem Gerichtshof vor, in der Rechtssache Willmeroth (C‑570/16) wie folgt zu entscheiden:
Wenn
ein mit einem Rechtsstreit zwischen zwei Privatpersonen befasstes
nationales Gericht das einschlägige nationale Recht nicht im Einklang
mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88 auslegen kann, ist es verpflichtet, im
Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus Art. 31 Abs. 2 der
Charta der Grundrechte der Europäischen Union erwachsenden Rechtsschutz
zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmung zu
sorgen, indem es erforderlichenfalls von der Anwendung jeder
entgegenstehenden nationalen Vorschrift absieht.
RechtsgebietArbeitsrechtVorschriftenArt. 31 EU-GRC