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· Fachbeitrag · Betreuungsverfahren

Persönliche Anhörung auf Basis aller Tatsachen erforderlich ‒ Corona ändert daran nichts

von RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FA FamR, Prof. Dr. Jesgarzewski & Kollegen Rechtsanwälte, Osterholz-Scharmbeck, FOM Hochschule Bremen

| In einem Betreuungsverfahren hat sich der BGH erneut mit der Anhörung von Betroffenen ‒ auch in Zeiten der Coronapandemie ‒ beschäftigt. Der Zwölfte Senat verdeutlicht einmal mehr, dass die Anhörung immer dann erforderlich ist, wenn von dieser neue Erkenntnisse zu erwarten sind. Zudem äußert sich der Senat, unter welchen Voraussetzungen ein Einwilligungsvorbehalt zulässig angeordnet werden kann. |

 

Das Beschwerdegericht hat eine erneute persönliche Anhörung des Betroffenen durchzuführen, wenn von dieser neue Erkenntnisse zu erwarten sind. Das ist etwa dann der Fall, wenn das Beschwerdegericht für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage wie ein neues Sachverständigengutachten heranzieht oder der Betroffene einen gegenüber dem erstinstanzlichen Verfahren geänderten Betreuerwunsch mitteilt. Der pauschale Verweis des Gerichts auf die mit der Coronapandemie verbundenen Gesundheitsgefahren ist nicht geeignet, das Absehen von der persönlichen Anhörung des Betroffenen zu rechtfertigen.

(Abruf-Nr. 219581)

 

Sachverhalt

Der Betroffene verfügt über ein erhebliches Vermögen. Für dessen Verwaltung hat er der Beteiligten zu 1, einer Rechtsanwältin und Notarin, eine notarielle Vollmacht zur Vertretung in allen Vermögensangelegenheiten erteilt. Darüber hinaus hat er mit der Beteiligten zu 1 in seiner Eigenschaft als Vorstand der von ihm geleiteten Stiftung einen Beratungsvertrag abgeschlossen, dessen Vergütung sich nach dem verwalteten Stiftungsvermögen richtet. Die Stiftung wurde zudem durch ein vor der Beteiligten zu 1 errichtetes notarielles Testament zu seiner Alleinerbin bestimmt.

 

Nachdem die frühere Ehefrau des Betroffenen eine Betreuung angeregt hatte, hat das Betreuungsgericht im Ergebnis eine Betreuung mit dem Aufgabenkreis Vermögenssorge sowie einen Einwilligungsvorbehalt und die sofortige Wirksamkeit dieser Entscheidung angeordnet. Zur Betreuerin wurde die Beteiligte zu 1 bestellt.

 

Auf die Beschwerde des Betroffenen hat das LG ein weiteres Sachverständigengutachten zur Betreuungsbedürftigkeit des Betroffenen eingeholt. Ohne persönliche Anhörung des Betroffenen hat es sodann statt der Beteiligten zu 1 die beiden Kinder des Betroffenen als Betreuer eingesetzt, nachdem der Betroffene diesen Wunsch formuliert hatte.

 

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Rechtsbeschwerde der Beteiligten zu 1, die das Ziel verfolgt, dass keine Betreuung errichtet und hilfsweise sie als Betreuerin bestellt werden möge.

Entscheidungsgründe

Der BGH hat die landgerichtliche Entscheidung aufgehoben (18.11.20, XII ZB 179/20, Abruf-Nr. 219581). Das LG hatte ausgeführt, gemäß dem im Beschwerdeverfahren eingeholten Sachverständigengutachten leide der Betroffene unter einer Alzheimerschen Erkrankung im deutlich fortgeschrittenen, klinisch manifesten Stadium. Er sei deshalb betreuungsbedürftig, in jedem Fall für die Vermögenssorge. Weil der Einwilligungsvorbehalt zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für das Vermögen des Betroffenen erforderlich sei, stünden die vom Betroffenen erteilten Vorsorgevollmachten der Betreuung nicht entgegen. Die Bestellung der Beteiligten zu 1 laufe wegen Interessenkollisionen dem Wohl des Betroffenen zuwider, sodass dem Wunsch des Betroffenen entsprechend, seine Kinder als Betreuer zu bestimmen seien. Von der eigentlich wegen der Einholung des weiteren Sachverständigengutachtens erforderlichen Anhörung des Betroffenen sei zu seinem Schutz mit Blick auf das sich rasant ausbreitende Coronavirus abgesehen worden.

 

Absehen von Anhörung rechtsfehlerhaft

Dieses Absehen von einer erneuten Anhörung des Betroffenen sei rechtsfehlerhaft und führe zur Aufhebung der Entscheidung. Die erneute Anhörung sei bereits wegen der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens im Beschwerdeverfahren geboten gewesen, da von dieser neue Erkenntnisse zu erwarten gewesen wären. Neue Erkenntnisse seien vorliegend insbesondere auch deswegen zu erwarten gewesen, weil der Betroffene noch in erster Instanz eine Betreuung durch seine Angehörigen abgelehnt, zweitinstanzlich aber eben diese als Betreuerwunsch mitgeteilt hatte. Der pauschale Verweis des LG auf die mit der Coronapandemie verbundenen Gesundheitsgefahren sei dagegen nicht geeignet, das Absehen von der persönlichen Anhörung des Betroffenen zu rechtfertigen.

 

Kein Grund für einen Einwilligungsvorbehalt

Hinzu komme, dass selbst bei einem umfangreichen Vermögen des Betreuten ein Einwilligungsvorbehalt nur dann angeordnet werden dürfe, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine erhebliche Vermögensgefährdung vorliegen.

 

MERKE | Auch bei einem geschäftsunfähigen Betroffenen müsse für die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts im Bereich der Vermögenssorge eine konkrete Gefährdung seines Vermögens durch sein aktives Tun festgestellt werden, indem er etwa vermögenserhaltende und -schützende Maßnahmen des Betreuers konterkariert oder andere vermögensschädigende Maßnahmen trifft.

 

Die abstrakte Gefahr für das Vermögen aufgrund der kognitiven Funktionseinschränkungen des Betroffenen, die tatsächliche und rechtliche Tragweite seines Handelns nicht mehr überschauen zu können, reiche dafür nicht aus.

Relevanz für die Praxis

Der Zwölfte Senat verdeutlicht erneut, dass die Anhörung von Betroffenen auf Basis aller entscheidungsrelevanten Tatsachen erfolgen muss. Werden neue Umstände bekannt, ist die Anhörung ggf. zu wiederholen. Solche neuen Umstände können etwa in einem eingeholten Sachverständigengutachten liegen. Diese Grundsätze gelten auch in der Beschwerdeinstanz. Ändert der Betroffene seinen Betreuungswunsch, ist gleichfalls eine erneute Anhörung durchzuführen, damit das Beschwerdegericht sich einen eigenen Eindruck von dem Betroffenen und dessen neuem Betreuungswunsch machen kann.

 

Persönliche Anhörung entfällt nur bei konkreter Gefahr

Klar ist inzwischen auch, dass die zunächst einmal nur abstrakten Gefahren der Coronapandemie nichts ändern. Diesen ist mit den inzwischen üblichen Sicherheitsmaßnahmen für den Betroffenen und alle anderen Beteiligten zu begegnen. Nur, wenn dies ausnahmsweise nicht ausreichen sollte und auch unter Einhaltung aller zur Verfügung stehenden Hygienemaßnahmen noch immer eine konkrete Gefährdung besteht, kann von einer persönlichen Anhörung abgesehen werden. Die Hürden dafür setzt der Betreuungssenat folglich bewusst sehr hoch.

 

Konkrete Vermögensgefährdung

Schließlich wird materiell klargestellt, dass ein Einwilligungsvorbehalt als schärfstes Instrument der Vermögenssorge einer konkreten Gefährdung des Vermögens des Betroffenen durch sein aktives Tun bedarf. Hierzu hat das Betreuungsgericht umfassende tatrichterliche Feststellungen zu treffen. Andernfalls wäre der weitreichende Eingriff in die Handlungsfreiheit des Betroffenen nicht zu rechtfertigen. Ob der Betroffene vermögend ist oder nicht, spielt für diese rechtlichen Maßstäbe keine Rolle.

 

Quelle: Ausgabe 04 / 2021 | Seite 57 | ID 47073554