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· Fachbeitrag · Leistungsfähigkeit

Ein reicher und ein armer Bruder: Auslegung des § 43 Abs. 3 S. 6 SGB XII

von RAin Thurid Neumann, Konstanz

| Das OLG hatte über einen Fall zu entscheiden, bei dem eine unterhaltsberechtigte Mutter zwei leistungsfähige Söhne hatte und einen davon anteilig auf Zahlung von Elternteil in Anspruch genommen hat (OLG Hamm 17.12.13 (FamRZ 14, 1710). |

1. Grundlagen

Mehrere unterhaltspflichtige Kinder haften gemäß § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB für den Unterhalt eines Elternteils anteilig entsprechend ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen. Dabei ist wie folgt vorzugehen:

 

a) Anspruchsgrundlage

Die Anspruchsgrundlage ist § 1601 BGB, wonach Verwandte in gerader Linie einander unterhaltsverpflichtet sind.

 

b) Bedarf

Gemäß § 1610 BGB bestimmt sich der Bedarf des unterhaltsberechtigten Elternteils nach dessen Lebensstellung und somit nach dessen Einkommens- und Vermögensverhältnissen (BGH FamRZ 10, 1535).

 

  • Der Bedarf eines Elternteils kann sich auch ändern, indem er z.B. in den Ruhestand eintritt (BGH, a.a.O.).

 

  • Ist ein Elternteil im Heim untergebracht, bestimmt sich dessen Bedarf nach den Heim- und Pflegekosten, einem Barbetrag gemäß § 35 SBG XII und gegebenenfalls einem Zusatzbetrag gemäß § 133a SGB XII (Wendl-Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrechtlichen Praxis, 8. Aufl., § 2 Rn. 947).

 

  • Der Mindestbedarf eines Elternteils besteht jedoch in Höhe des Existenzminimums des Elternteils. Für dessen Ermittlung ist auf die Eigenbedarfssätze eines unterhaltsberechtigten Ehegatten in der Düsseldorfer Tabelle zurückzugreifen (BGH FamRZ 03, 860).

 

c) Bedürftigkeit

Der Elternteil hat jedoch gemäß § 1602 BGB nur in der Höhe einen Unterhaltsanspruch, in der er bedürftig ist. Zur Deckung seines Bedarfs muss der Elternteil zunächst eigenes Einkommen und Vermögen einsetzen.

 

  • Zum Einkommen gehören insbesondere Renteneinkünfte, aber auch alle anderen Einkünfte wie z.B. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung oder Kapitaleinkünfte.
  • Zum Vermögen gehört sämtliches Vermögen wie Hausgrundstücke, Sparguthaben, Wertpapiere etc., welches der Elternteil bis auf einen Schonbetrag grundsätzlich vollständig für die Deckung seines Bedarfs einsetzen muss. Der derzeitige Schonbetrag beträgt gemäß § 90 Abs. 2 Nr. 9 SBG XII i.V. mit § 1 der Durchführungsverordnung 2.600 EUR (BGH FamRZ 04, 370).

 

Hat ein Elternteil kein Einkommen und kein Vermögen, hat es gemäß § 41 SGB XII einen Anspruch auf Grundsicherung.

  •  § 41 Abs. 1 SGB XII

Älteren und dauerhaft voll erwerbsgeminderten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus Einkommen und Vermögen nach den §§ 82 bis 84 und 90 bestreiten können, ist auf Antrag Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu leisten.

 

Auch die Grundsicherung deckt den Bedarf des Elternteils. Der Anspruch auf Grundsicherung ist gemäß § 43 Abs. 3 S. 1 und 6 SGB XII nur ausgeschlossen, wenn das jährliche Bruttoeinkommen des Kindes über 100.000 EUR liegt.

 

d) Leistungsfähigkeit

Unterhaltsverpflichtet ist gemäß § 1603 BGB nur, wer auch leistungsfähig ist, d.h. dem in Anspruch genommenen Kind muss der angemessene Selbstbehalt bleiben. Das OLG Hamm hatte die Leistungsfähigkeit des auf Zahlung in Anspruch genommenen Sohns in 2011 wie folgt ermittelt:

 

  • Unterhaltsermittlung des OLG Hamm

bereinigtes Einkommen des Sohns

3.313,70 EUR

zzgl. bereinigtes Einkommen von dessen Ehefrau

219, 00 EUR

Summe

3.532,70 EUR

abzgl. Familienselbstbehalt gemäß Düsseldorfer Tabelle

(1.500 EUR + 1.200 EUR)

2.700 EUR

verbleiben

832,70 EUR

abzgl. 10 Prozent ersparte Aufwendungen

83,27 EUR

verbleiben

749,43 EUR

hiervon die Hälfte

374,72 EUR

zzgl. Familienselbstbehalt

2.700,00 EUR

individueller Familienselbstbehalt

3.074,72 EUR

Anteil Sohn am Gesamteinkommen: 93,80 Prozent

2.884,09 EUR

Leistungsfähigkeit:

Familieneinkommen

3.313,70 EUR

hiervon 93,80 Prozent

2.884,09 EUR

verbleiben (Leistungsfähigkeit)

429,61 EUR

 

2. Zur Entscheidung des OLG Hamm

Das OLG hat also festgestellt, dass der auf Zahlung in Anspruch genommene Sohn in Höhe von monatlich 429,61 EUR leistungsfähig ist. Aber: Das jährliche Gesamteinkommen des auf Zahlung in Anspruch genommenen Sohns lag unter einem Betrag in Höhe von 100.000 EUR, sodass die Mutter einen Anspruch auf Grundsicherung hatte.

 

Das jährliche Gesamteinkommen des anderen Sohns lag jedoch über 100.000 EUR. Nun stellte sich folgende Frage: Gilt die Einkommensgrenze des § 43 Abs. 3 S. 1 und 6 SGB XII für jeden einzelnen Unterhaltsschuldner?

 

  • Teilweise wird in der Literatur vertreten, dass die Einkommensgrenze für jeden einzelnen Unterhaltsschuldner gilt (Wendl-Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrechtlichen Praxis, 8. Aufl., § 1 Rn. 707).

 

  • Teilweise wird in der Literatur vertreten, dass der Anspruch auf Grundsicherung insgesamt ausgeschlossen ist, wenn auch nur ein Unterhaltsschuldner mehr als 100.000 EUR jährlich verdient.

 

Das OLG hat sich der ersten Auffassung angeschlossen und führt zur Begründung Folgendes aus:

 

  • Die Anspruchsvoraussetzungen für einen Unterhaltsanspruch sind bei jedem Schuldner gesondert zu prüfen. Fehlt bei einem eine Tatbestandsvoraussetzung, so haftet er nicht, auch nicht zusammen mit einem anderen gemeinschaftlich, bei dem alle Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen.

 

  • Würde man § 43 Abs. 3 S. 1 und 6 SGB XII anders auslegen, würde dies zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung des auf Zahlung in Anspruch genommenen Sohns mit einem Einzelkind führen, welches bei gleichem Einkommen nicht zur Zahlung herangezogen werden könnte.

 

  • Auch Sinn und Zweck des § 43 Abs. 3 S. 1 und 6 SGB XII und dessen Entstehungsgeschichte sprechen dafür, dass die Einkommensgrenze bei jedem Unterhaltsschuldner gesondert zu prüfen ist. Die Vorschrift wurde eingeführt, um eine verschämte Altersarmut zu beseitigen. Lediglich gut verdienende Unterhaltsschuldner, deren Jahreseinkommen über 100.000 EUR liegt, sollten nicht zulasten der Allgemeinheit privilegiert werden.

 

Diese Begründung überzeugt, führt aber auch zu der berechtigten Kritik, dass die Konsequenz ungerecht erscheint, wonach nun der „reichere“ Bruder für den ungedeckten Bedarf der Mutter in voller Höhe alleine aufkommen muss, obwohl auch der „ärmere“ Bruder leistungsfähig ist (vgl. Anmerkung Jeschke, FamRZ 15, 330). Die zugelassene Rechtsbeschwerde wurde eingelegt, sodass gespannt abzuwarten ist, wie der BGH entscheiden wird (BGH XII ZB 56/14).

 

Weiterführender Hinweis

  • Zur Berechnung des Elternunterhalts bei mehreren Kindern, Liceni-Kirstein, Geschwisterhaftung bei Elternunterhalt, SR 15, 8 (mit vielen Berechnungsbeispielen)
Quelle: Ausgabe 03 / 2015 | Seite 39 | ID 43235667