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· Fachbeitrag · Geschwisterhaftung

Das müssen Sie zur Geschwisterhaftung beim Elternunterhalt wissen

von RAin Dagny Liceni-Kierstein, RiOLG a. D, Berlin

| Macht das Sozialamt gegenüber den Angehörigen des Pflegebedürftigen Kosten geltend, fragt sich, ob und in welchem Umfang die erwachsenen Kindern gemäß §§ 1601, 1603, 1610 BGB Elternunterhalt zahlen müssen. Hat der Unterhaltsberechtigte mehrere Kinder, haften diese gemäß § 1606 Abs. 3 S. 1 BGB anteilig. In welcher Höhe jedes Geschwisterkind für den Elternunterhalt aufkommen muss, ergibt sich aus seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen unter Berücksichtigung des Selbstbehalts. Der Beitrag erläutert die dabei auftretenden Probleme. |

1. Grundsatz der anteiligen Geschwisterhaftung

Es besteht keine Gesamtschuldnerschaft der Geschwister für den Unterhaltsbedarf ihrer Eltern. Sie haften vielmehr anteilig im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit. Das bedeutet, dass die Geschwister als Teilschuldner haften, und zwar jeweils nur für den konkret rechnerisch auf sie entfallenden Anteil.

 

Um seine Elternunterhaltsansprüche berechnen zu können, muss sich der Unterhaltsberechtigte deshalb zunächst Klarheit über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse seiner Kinder verschaffen. Er muss also deren Nettoeinkommen ermitteln. Dann muss er dieses um berücksichtigungsfähige Verbindlichkeiten bereinigen. Schließlich muss er den nach den Leitlinien maßgeblichen Selbstbehalt abziehen. Um die jeweils geschuldeten Unterhaltsquoten ermitteln zu können, müssen die nach Abzug des Selbstbehalts von den bereinigten Einkünften verbleibenden Beträge grundsätzlich zueinander ins Verhältnis gesetzt werden.

2. Schlüssigkeit der Unterhaltsforderung

Weil nach Unterhaltsquoten gehaftet wird, ist der Anspruch auf Elternunterhalt nur schlüssig begründet, wenn entweder der bedürftige Elternteil selbst oder aber der Sozialhilfeträger aus übergegangenem Recht (§ 94 Abs. 1 SGB XII) zur Höhe der jeweiligen Unterhaltsquote und deren Berechnung vorträgt. Deshalb müssen auch Angaben zu den finanziellen Verhältnissen der anderen Geschwister gemacht werden. Hierzu gehört auch ein schlüssiger Vortrag zur Unterhaltspflicht der übrigen Geschwister und zu deren Haftungsanteilen. Fehlt es daran, ist die Unterhaltsforderung nicht schlüssig begründet.

 

PRAXISTIPP | Der Unterhaltsberechtigte sollte Auskunft von allen Geschwistern verlangen, bevor er ein etwaiges Verfahren einleitet. So kann er sich einen Überblick verschaffen und die in Betracht kommenden Haftungsanteile genau berechnen. Der Sozialhilfeträger beschränkt sich in Unterhaltsverfahren häufig darauf, nur zur Frage der Einkommensverhältnisse vorzutragen. Das aber ist nicht ausreichend. Angesichts des klaren Wortlauts sind auch die Vermögensverhältnisse der Geschwister als sog. horizontale Haftungsgenossen darzulegen.

 

3. Auskunftsansprüche unter Geschwistern

Obwohl die Geschwister nach dem BGB untereinander nicht unterhaltspflichtig sind, können sie voneinander Auskunft über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse verlangen, soweit dies erforderlich ist, um ihre Haftungsanteile für den Unterhalt der gemeinsamen Eltern festzustellen. Anspruchsgrundlage ist insoweit § 242 BGB. Denn zwischen ihnen besteht nach der Rechtsprechung des BGH im Unterhaltsrechtsverhältnis eine Rechtsbeziehung besonderer Art, da sie als Kinder gegenüber ihren Eltern grundsätzlich gemeinsam unterhaltspflichtig sind.

 

PRAXISTIPP | Der Auskuftsanspruch gegenüber den Geschwistern erstreckt sich auch auf die Einkünfte ihrer jeweiligen Ehegatten, soweit dies zur Berechnung der Haftungsanteile der Geschwister von Bedeutung ist. Allerdings besteht kein eigener Auskunftsanspruch nach § 242 BGB gegenüber dem Ehegatten der Geschwister selbst. Denn dieser schuldet Eltern des anderen Ehegatten keinen Unterhalt. Er kann deshalb auch nicht an einem Ausgleichsverhältnis beteiligt sein. Allein die Notwendigkeit, Kenntnis zu erlangen, reicht dafür nicht aus. Dementsprechend muss das auf Auskunft in Anspruch genommene Geschwisterkind diese nicht nur über seine eigenen Einkommensverhältnisse erteilen, sondern auch die gewünschte Auskunft zu den Einkommensverhältnissen seines Ehegatten erteilen. Denn diese beeinflussen über den Familienunterhalt (§§ 1360, 1360a BGB) die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit des unterhaltspflichtigen Kindes. Zu behaupten, der Ehegatte hätte die Auskunft (angeblich) verweigert, ist nach der Rechtsprechung keine erfolgversprechende Verteidigungsstrategie.

 

4. Datenschutz

Oft verweigert der Sozialhilfeträger in der vorgerichtlichen Korrespondenz, die wirtschaftlichen Verhältnisse von Geschwisterkindern (und deren Ehegatten) darzulegen. Er beruft sich auf den Datenschutz. Die Regelungen des Datenschutzes haben jedoch für das Unterhaltsverfahren keine Bedeutung. Das unterhaltspflichtige Kind sollte daher bis zu einer nachvollziehbaren Dokumentation der gesamten Einkommens- und Vermögensverhältnisse aller Geschwister den Anspruch auf Elternunterhalt zurückweisen.

5. Berechnung der Haftungsanteile

Die Haftungsanteile von Geschwistern werden nach den üblichen Regeln für eine quotale Haftung berechnet. Im ersten Schritt ist die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit des einzelnen Geschwisterkinds nach den allgemeinen elternunterhaltsrechtlichen Grundsätzen zu bestimmen. Dazu gehört der Vorwegabzug des Unterhalts vorrangig Berechtigter (§ 1609 Nr. 1‒5 BGB). Im zweiten Schritt müssen die nach Abzug des Selbstbehalts von den bereinigten Einkommen verbleibenden Beträge zueinander ins Verhältnis gesetzt werden.

 

  • Berechnungsbeispiel 1

Der ungedeckte Unterhaltsbedarf des Elternteils E beträgt 500 EUR. E hat drei Kinder (S, T und U), die alle unverheiratet und kinderlos sind.

S
T
U

Einkommen des Kindes

2.000 EUR

2.500 EUR

3.200 EUR

Abzüglich Selbstbehalt

1.800 EUR

1.800 EUR

1.800 EUR

Verbleibender Rest

200 EUR

700 EUR

1.400 EUR

Davon 50 Prozent

100 EUR

350 EUR

700 EUR

Anzurechnendes Einkommen des Kindes

100 EUR

350 EUR

700 EUR

Anzurechnendes Gesamteinkommen aller Kinder

1.150 EUR

1.150 EUR

1.150 EUR

Haftungsquote

8,7 Prozent

30,4 Prozent

60,9 Prozent

Jeweils an Elternunterhalt zu zahlen

43,50 EUR

152 EUR

304,50 EUR

Ergebnis: Der Unterhaltsbedarf von E wird durch die Unterhaltsbeiträge von S, T und U gedeckt.

 
  • Berechnungsbeispiel 2

Wie vorstehend, der ungedeckte monatliche Unterhaltsbedarf beträgt 1.300 EUR.

S
T
U

Einkommen des Kindes

2.000 EUR

2.500 EUR

3.200 EUR

Abzüglich Selbstbehalt

1.800 EUR

1.800 EUR

1.800 EUR

Verbleibender Rest

200 EUR

700 EUR

1.400 EUR

Davon 50 Prozent

100 EUR

350 EUR

700 EUR

Anzurechnendes Einkommen des Kindes

100 EUR

350 EUR

700 EUR

Anzurechnendes Gesamteinkommen aller Kinder

1.150 EUR

1.150 EUR

1.150 EUR

Haftungsquote

8,7 Prozent

30,4 Prozent

60,9 Prozent

Jeweils an Elternunterhalt zu zahlen

113,10 EUR

395,20 EUR

791,70 EUR

Ergebnis: In diesem Fall übersteigt der rechnerische Haftungsanteil von S, T und U für den hohen ungedeckten Unterhaltsbedarf des Elternteils ihre jeweilige Leistungsfähigkeit. Deshalb schulden sie Elternunterhalt nur in Höhe ihres jeweils anzurechnenden Einkommens, nämlich (100 EUR + 350 EUR + 700 EUR =) 1.150 EUR. Damit reicht das ihr anrechenbares Einkommen nicht aus, um die Deckungslücke der Heimkosten von E vollständig zu schließen.

 

MERKE | Die Unterhaltsberechnung kompliziert sich, wenn im Rahmen der vollständigen Unterhaltsberechnung für jedes mithaftende Geschwisterkind die Einkünfte des jeweiligen Ehepartners und damit der individuelle Familienselbstbehalt einzubeziehen sind.

 

6. Pflicht zur Verwertung des Vermögensstamms

Grundsätzlich muss der Unterhaltspflichtige neben den Erträgen aus seinem Vermögen unter Umständen auch den Stamm des Vermögens für den Unterhalt einsetzen. Das gilt auch beim Elternunterhalt. Bis zu welcher Grenze Vermögen einzusetzen ist, wird dabei aber unterschiedlich bewertet. Es ist zu berücksichtigen, dass § 1603 Abs. 1 BGB den Verwandtenunterhalt jeglicher Art betrifft. Bei Unterhaltspflichten gegenüber den Eltern findet anders als im Rahmen des nachehelichen Unterhalts gerade keine Billigkeitskontrolle gemäß § 1581 BGB hinsichtlich des Einsatzes des Vermögensstammes statt.

 

Bei der Unterhaltspflicht gegenüber Eltern handelt es sich um eine schwach ausgestaltete Unterhaltspflicht. Dies ergibt sich schon aus der grundsätzlichen Nachrangigkeit gegenüber zahlreichen anderen Unterhaltsberechtigten in § 1609 Nr. 1‒6 BGB. Deshalb ist die Pflicht zum Einsatz des Vermögensstamms dahin einzuschränken, dass sonstige Verpflichtungen des Unterhaltsschuldners zu berücksichtigen sind. Er muss seinen eigenen angemessenen Unterhalt nicht gefährden. Letztendlich hängen Art und Umfang der Pflicht zur Verwertung des Vermögensstamms von den individuellen wirtschaftlichen Umständen des Einzelfalls und dem Umfang der Zumutbarkeit ab. Nach der BGH-Rechtsprechung ist die Pflicht zum Einsatz des Vermögensstamms eingeschränkt. Danach muss der Vermögensstamm nicht verwertet werden, wenn dies das unterhaltspflichtige Kind von fortlaufenden Einkünften abschneiden würde, die es benötigt, um weitere Unterhaltsansprüche oder andere berücksichtigungswürdige Verbindlichkeiten zu erfüllen oder um den eigenen Unterhalt zu bestreiten.

 

Ein sogenannter verzehrender Vermögenseinsatz wird im Unterhaltsrecht in analoger Anwendung des aus dem Sozialhilferecht stammenden Gedankens eines Schonvermögens von der Verwertungspflicht ausgenommen, soweit der Unterhaltspflichtige es benötigt. Insoweit sind verschiedene Vermögensverschonungen denkbar. Im Zusammenhang mit dem Elternunterhalt werden folgende Vermögenszwecke relevant:

 

  • Altersvorsorgeschonvermögen (zur Sicherung der eigenen Altersvorsorge)
  • Vorsorgevermögen (z. B. Spargeld für konkrete Maßnahmen an der eigenen Immobilie)
  • Notgroschenvermögen (für akute unvorhersehbare Notlagen, z. B. in Krankheitsfällen)
  • Ausbildungsvermögen (zur Sicherung der Ausbildung eigener Kinder älterer Unterhaltsverpflichteter).

7. Haftungsanteile bei verzehrendem Vermögenseinsatz

Für die horizontale Haftungsgemeinschaft von Geschwistern ergeben sich im Hinblick auf den ungedeckten Elternunterhaltsbedarf besondere Probleme, wenn ihre Haftungsanteile nicht nur aus ihren vorhandenen anrechenbaren Einkünften, sondern auch aus ihrem Vermögen zu berechnen sind.

 

Das BGB stellt für die Haftung aus Einkommen und Vermögen keine Rangfolge auf. Vielmehr stehen Einkommen und Vermögen grundsätzlich als Haftungsgrundlage für die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit nebeneinander. Allerdings müssen das Schonvermögen und der individuelle Familienselbstbehalt stets unangetastet bleiben.

 

Ist verwertbares Vermögen vorhanden, ist dies für die Deckungslücke beim Unterhaltsbedarf von Eltern einzusetzen. Jedes Kapital kann verrentet werden. Hierfür stehen sog. Verrentungstabellen zur Verfügung. Sie ermöglichen es, das Kapital problemlos in eine monatliche Rente umzurechnen. Dabei wird die jeweilige statistische Lebenserwartung des unterhaltsbedürftigen Elternteils und der entsprechende Kapitalisierungsfaktor berücksichtigt (vgl. hierzu z. B. OLG Karlsruhe, Urteil vom 27.3.03, 2 UF 23/02, FamRZ 04, 292, Rn. 27). Das im unterhaltsrelevanten Zeitraum vorhandene Kapital wird mithilfe eines vom Bundesfinanzministerium regelmäßig veröffentlichten Vervielfältigers für den Kapitalwert einer lebenslangen Leistung in eine Rente umgerechnet. Dabei berücksichtigt der Kapitalisierungsfaktor Zwischenzinsen und Zinseszinsen in Höhe von 5,5 Prozent. Das wird in der Literatur ‒ mit Blick auf die bereits lange andauernde Niedrigzinsphase ‒ als deutlich zu hoch kritisiert. Die Berechnung erfolgt nach der allgemeinen Formel:

 

Kapital : 12 Monate : Kapitalisierungsfaktor = monatliche Rente.

 

Anschließend ist die so ermittelte Rente, die aus dem ungeschützten verwertbaren Vermögen finanziert werden kann, den anrechenbaren Einkünften des unterhaltspflichtigen Geschwisterkinds zuzurechnen. Die Berechnung der Haftungsanteile der Geschwister erfolgt sodann nach der allgemeinen Methode, wie sie vorstehend dargestellt worden ist.

 

PRAXISTIPP | Das verwertbaren Kapital anhand der statistischen Lebenserwartung des unterhaltsbedürftigen Elternteils zu verwenden, ist nur gerechtfertigt, wenn sich das unterhaltspflichtige Kind noch in der Phase der Erwerbstätigkeit befindet. Nach Erreichen der Regelaltersrente ist dagegen sein gesamtes vorhandenes Kapital (unter Aussparung des sogenannten Notbedarfsvermögens) über die voraussichtliche Lebenserwartung des unterhaltspflichtigen Kinds selbst zu verrenten.

 

8. Haftungsanteile der Geschwister bei fiktiven Einkünften

Wie auch sonst im Unterhaltsrecht ist im Rahmen des Elternunterhalts eine fiktive Einkommenszurechnung grundsätzlich ebenfalls möglich.

 

Inwieweit Kinder im Verhältnis zu ihren Eltern eine unterhaltsrechtliche Erwerbsobliegenheit trifft, ist jedoch bislang ‒ anders als im umgekehrten Fall ‒ noch nicht vom BGH entschieden worden. In der Literatur wird eine solche Obliegenheit überwiegend bejaht. Dabei wird man allerdings regelmäßig einen großzügigen Maßstab anzusetzen haben. Eine Erwerbsobliegenheit kann ohnehin nur für unverheiratete Kinder angenommen werden, da nicht erwerbstätige verheiratete Kinder ihre ehelichen Pflichten gemäß § 1360 S. 2 BGB auch als Hausmann bzw. Hausfrau erfüllen können. Eltern müssen diese innerfamiliäre Rollenverteilung grundsätzlich akzeptieren.

 

Im Klartext bedeutet das, dass bei mehreren Geschwistern, die uneingeschränkt erwerbsfähig sind, ein aufgrund eigener Entscheidung nur teilschichtig erwerbstätiges Geschwisterkind, dessen anrechenbares Erwerbseinkommen dadurch unter der Selbstbehaltsgrenze liegt, zu Unterhaltsleistungen für seinen unterhaltsbedürftigen Elternteil unter Umständen überhaupt nicht herangezogen werden könnte. Dieses Ergebnis ist für die anderen Geschwister, die für die unterhaltsrechtliche Deckungslücke bei den Heimkosten der Eltern aufzukommen haben, (emotional) nur schwer nachvollziehbar.

Quelle: Ausgabe 10 / 2019 | Seite 176 | ID 46145495