· Fachbeitrag · Versorgungsqualität
Ethik, Qualität und gute Medizin
von Dr. rer. pol. Dr. med. Karl-Heinz Wehkamp, Socium Forschungszentrum, Uni Bremen u. Prof. Dr. med. Kai Wehkamp, Uniklinik Schleswig-Holstein
| Krankenhäuser sind ‒ politisch gewollt ‒ einem umfassenden Wettbewerb ausgesetzt. Kaufmännische Geschäftsführungen wurden in die Verantwortung für die wirtschaftliche Sicherung der zu Unternehmen erklärten Kliniken gestellt. Die wichtigste Stellschraube für das Management ist die Hoheit über die Personalentscheidungen. Von den ausgewählten Führungskräften einschließlich der Chefärzte wird deshalb verlangt, die äußeren und inneren Unternehmensziele aktiv mitzutragen. In vielen Unternehmen verlangt das die Bereitschaft, hohe medizinische Qualitätsanforderungen bei grenzwertig verknapptem Personal zu verfolgen und die Personalverknappung zugleich aktiv zu vertreten. |
Patientenferne Mehrarbeit auf Kosten der Versorgung
Die von einer großen Beratungsfirma formulierte Devise klingt in den Worten eines Geschäftsführers folgendermaßen: „Ich reduziere das Personal bis die Mitarbeiter quietschen. Dann ziehe ich noch eine Stelle ab. Dann weiß ich, dass ich richtigliege.“
Etliche Studien und Berichte haben inzwischen die Folgen derart scharf kalkulierter Personalverknappung belegt, die allerdings im Grunde genommen auch ohne aufwendige Studien evident sind: Die Arbeit der patientennahen Gesundheitsberufe (Ärzte, Pflegende, Therapeuten) wurde im Zuge der betriebswirtschaftlichen Durchgestaltung der Versorgungsabläufe enorm verdichtet und mit Dokumentationsaufgaben angereichert, die für Abrechnungen und Steuerungsfunktionen wichtig sind, aber nicht für die unmittelbare Versorgung der Patienten. Diese patientenferne Mehrarbeit und die konsequente Vermeidung von „personeller Verschwendung“ (sprich: grenzwertige Belastung der Mitarbeiter) haben nun ihrerseits eine breite Palette von Folgewirkungen erzeugt.
Dem Exodus der Pflegenden folgen die Klinikärzte
Am deutlichsten erkennbar ist der neuerliche „Pflegepersonal-Notstand“. Die Pflegeberufe haben aufgrund der teilweise extremen Stressbelastung an Attraktivität verloren und befinden sich in einer Abwärtsspirale, die sich durch die zunehmende Personalknappheit selbst verstärkt.
Die viel zu spät eingeleiteten Gegenmaßnahmen, beispielsweise die Festsetzung von Mindestbesetzungen von Personal, verschärfen nun die Probleme, da Kliniken aus gesetzlichen Gründen die Schließung von Teilbereichen ‒ mit der Folge wirtschaftlicher Verluste ‒ vornehmen müssen (sofern es nicht gelingt, durch geschickte Verschiebung von Mitarbeitern oder geschickte Personaleinsatz-Dokumentation formell den Anforderungen zu genügen).
Nachdem durch Verknappung des Pflegepersonals nun aufgrund neuer Gesetze keine betriebswirtschaftlichen Gewinne mehr erzielt werden können, ist zu erwarten, dass dieselben Mechanismen auch die Ärzteschaft erfassen. Auch hier lässt sich eine zunehmende Demotivierung und ein Rückzug aus der belastenden Krankenhausarbeit erkennen.
Was als Folge der Ökonomisierungsprozesse begonnen hat, wird jetzt vielfach zur Ursache von Qualitätsverlusten, Bettensperrungen und Abteilungsschließungen erklärt ‒ mit nachfolgenden wirtschaftlichen Verlusten. Dabei hätte ein aufmerksamer Dialog zwischen den „Entscheidern“ in Politik und Management und den „Frontberufen“ schon seit vielen Jahren die Entwicklung erkennen und voraussagen können. Es hätte keiner aufwendigen und teuren Studien bedurft.
Personalknappheit führt zu Arbeitsverdichtung ...
Die durch die kalkulierte Personalverknappung bedingte Verdichtung der Arbeit erzeugt eine Vielzahl unterschiedlicher Folgephänomene. Im Vordergrund steht dabei die verminderte Zeit für alle patientenbezogenen Tätigkeiten. Der damit verbundene Stress ist körperlich und psychisch belastend und wird darüber hinaus durch moralische Konflikte verstärkt, die ihrerseits ethische Herausforderungen zum Inhalt haben. Jede Knappheit ist mit einem Prioritätsproblem verbunden, es müssen Entscheidungen darüber getroffen werden, was als vordringlich und was als weniger dringlich gelten soll. Vielfach treffen Ärzte, Pflegende und Therapeuten individuelle Priorisierungen, die bei kritischer Betrachtung mit dem Berufsethos der Heilberufe nicht übereinstimmen.
... führt zu Zeitmangel
Arbeitsverdichtung bedeutet Zeitmangel für elementare Leistungen der ärztlichen Qualitätssicherung, die allerdings von der gesetzlich vorgeschriebenen Qualitätssicherung kaum in den Blick genommen werden: Anamnese, körperliche Untersuchungen, Gespräch über die individuellen Bedingungen und Bedürfnisse des Patienten, Aufklärung, Beratung, Indikationsfindung, Therapiezielbestimmung, seelische Betreuung, Einbeziehung der Angehörigen, spirituelle Aspekte.
... führt zu Stress
Für die Mitarbeiter am Krankenbett bedeutet Arbeitsverdichtung auch Mängel der Einarbeitung, Schwächen der fachlichen Supervision, unregelmäßige Visiten und Fortbildungen, Konflikte zwischen den Beteiligten, Gefühle von Überforderung und zu hoher moralischer Verantwortung.
... und letztlich zu Ent-Menschlichung
Für die Patienten bedeutet dies eine Tendenz zur Ent-Personalisierung, geringe Bindung an den behandelnden Arzt, fehlende Information, Unsicherheit und Ängste.
All das bleibt nicht ohne Folgen für die Versorgung ...
All diese Phänomene sind in Studien nachgewiesen, sollen aber, würde man vielen offiziellen Verlautbarungen und Qualitätsberichten glauben, ohne ernste negative Auswirkungen auf die Qualität der Patientenversorgung sein. Es muss hier die Frage gestellt werden, wozu die allgegenwärtige Rede vom „Patienten im Mittelpunkt“, von „Qualitätskliniken“ und „Qualitätsoffensiven“ denn dient, wenn wesentliche Aspekte ärztlicher und pflegerischer Qualität vom Radar der sogenannten Qualitätsmessungen gar nicht erfasst werden. Der Eindruck verdichtet sich, dass die Gesetze und Prozeduren der Qualitätssicherung schon aufgrund der Methodik der Qualitätserfassung und des teilweise kommerziellen Hintergrunds eher wirtschaftlichen Zielen und politischen Steuerungsabsichten dienen, die u. a. eine „Bereinigung“ der Krankenhauslandschaft durch kalkulierten Wettbewerb zum Ziel haben, während die Grundlagen guter Medizin und Pflege gleichzeitig verkümmern.
... und greift die Gesundheit der Gesundheitsberufe an
In praktischen Ethikprojekten, die über die reine Ethik-Fallbesprechung hinausgehen und das Gespräch mit den Mitarbeitern suchen, wird immer wieder berichtet, wie sehr die Ärzte, Therapeuten und Pflegenden darunter leiden, wenn sie den Patienten nicht gerecht werden. „Verschwende deine Zeit nicht mit diesem Patienten (für den kein Intensivbett vorhanden ist und der demnächst verlegt werden soll), der bringt uns ja eh nichts und sterben wird er sowieso.“ Diesen mit bitterer Ironie von einer Oberärztin gesprochene Satz musste sich eine junge Assistenzärztin anhören, während in der Notaufnahme von „5-Euro-Fünfzig-Patienten“ die Rede war und auf die Unterfinanzierung der Abteilungen hingewiesen wurde. Der physische und psychische Stress greift die Gesundheit der Gesundheitsberufe an, weil die Arbeitsbedingungen im wahrsten Sinne des Wortes kränkend sind.
FAZIT | Qualitätssicherung oder gar Verbesserung unter Bedingungen der Personalknappheit, Arbeitsverdichtung, Top-down-Steuerung (ohne Einbeziehung der patientenbezogenen Berufe) und unter dem Diktat betriebswirtschaftlicher Gewinnerzielung ist nicht möglich. Qualitätsbemühungen, die diese Zusammenhänge nicht berücksichtigen, mögen politischen und wirtschaftlichen Interessen dienen, guter Medizin und Pflege dienen sie nicht. Ethik der Medizin und Gesundheitsberufe heißt: konsequentes Einstehen für die Grundlagen guter Medizin. Das Qualitätsmanagement muss der Arbeit mit den Patienten unmittelbar zugutekommen. Es bedarf einer ethischen Fundierung, erst danach können ökonomische Ziele verfolgt werden. |
Weiterführende Hinweise
- Wenn Sie Interesse an den erwähnten Quellen haben, schreiben Sie an cb@iww.de.
- Chefarzt vs. Geschäftsführung? Nutzen Sie ethische Argumente für eine verantwortungsvolle Medizin! (CB 12/2019, Seite 16)
- Interview: „Der Kostendruck dominiert den Klinikalltag!“ (CB 10/2019, Seite 2)
- Ethikkompetenz ärztlicher Führungskräfte: Unverzichtbar in Zeiten des Wandels und der Konflikte (CB 08/2019, Seite 3)