· Fachbeitrag · Umsatzsteuer
Reihengeschäfte: Steuernachzahlungsrisiko und verneinter Vertrauensschutz in „Abholfällen“
von Georg Nieskoven, Troisdorf
| Umsatzsteuerliche Reihengeschäfte sind im exportorientierten Wirtschaftsleben zum Massenphänomen geworden. Umso gefährlicher ist es, dass die Rechtsfigur „Reihengeschäft“ im EG-Recht noch immer ungeregelt ist und die EU-Staaten daher sehr uneinheitlich agieren. In seiner mit Spannung erwarteten Entscheidung „Kreuzmayr“ hat der EuGH nun seine Rechtsprechung zu Reihengeschäften mit Aussagen zur Warenbewegungszuordnung und zu Vertrauensschutzfragen fortgeführt ( EuGH 21.2.18, C-628/16, DStR 18, 461). |
1. Sachverhalt
Das EuGH-Vorlageverfahren betraf ein Reihengeschäft von Deutschland nach Österreich in der Konstellation: DE → AT1 → AT2.
Dabei veräußerte die in Deutschland ansässige BP Marketing GmbH (DE) Mineralölprodukte an die in Österreich mehrwertsteuerlich erfasste BIDI Ltd. (AT1). Nach Überweisung der vereinbarten Akontozahlung übermittelte DE der AT1 sog. Abhol-Codes nebst der zur Abholung der Mineralölprodukte berechtigenden Dokumente. AT1 hatte sich verpflichtet, für den Transport von Deutschland nach Österreich zu sorgen. Ohne DE darüber zu informieren, hatte AT1 die Produkte jedoch unmittelbar an das österreichische Unternehmen Kreuzmayr (AT2) weiterverkauft und diesem auch die Abhol-Codes und -Dokumente mit der Abrede übermittelt, dass AT2 den Transport von Deutschland nach Österreich veranlassen werde, was letztlich in Chargen im Zeitraum April bis Oktober 2007 auch erfolgte.
DE rechnete den Verkauf gegenüber AT1 als USt-freie innergemeinschaftliche Lieferung ab und AT1 fakturierte in seiner Rechnung gegenüber AT2 mit österreichischer Mehrwertsteuer, führte diese aber nicht an den österreichischen Fiskus ab.
Anlässlich eines Zivilprozesses mit der AT1 erfuhr DE vom unmittelbaren Weiterverkauf der Produkte und dem Abholtransport durch AT2 und informierte zeitnah sein deutsches FA, welches daraufhin von DE für den fraglichen Verkaufsumsatz an AT1 unter Verweis auf die „unbewegte Lieferung der DE im Reihengeschäft“ USt nachforderte. Die vom deutschen FA informierten österreichischen Steuerbehörden versagten AT2 nach einer Steuerfahndungsprüfung den bislang gewährten Vorsteuerabzug und forderten zugleich von AT1 die bislang zwar fakturierte, aber weder erklärte noch abgeführte Mehrwertsteuer nach. AT1 verwies insofern jedoch lapidar auf die in Deutschland steuerpflichtige Vorlieferung des DE und korrigierte lediglich die Ausgangsrechnung gegenüber AT2 um den bisherigen Steuerausweis ‒ allerdings ohne an AT2 den von dieser beglichenen Mehrwertsteuerbetrag wieder zu erstatten; wenig später ging AT1 in Insolvenz. AT2 legte gegen die Vorsteuerrückforderung des österreichischen FA Rechtsmittel ein; im Klageverfahren fragte das österreichische Steuergericht beim EuGH an,
- 1. ob angesichts des von AT1 verschwiegenen und für DE auch nicht erkennbaren Weiterverkaufs bzw. des Abholtransports durch AT2 (und damit trotz der Übertragung von Verfügungsmacht an der Ware auf AT2 bereits in Deutschland) der DE nicht zumindest im ersten Schritt die „bewegte“ und damit umsatzsteuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung zuzuordnen sei.
- 2. ob auch bei Verneinung der Frage 1 der AT2 wegen Vertrauensschutzes der Vorsteuerabzug zumindest dann nicht versagt werden könne, wenn ihr kein „missbräuchliches Verhalten“ nachzuweisen sei.
- 3. ob bei Bejahung der Frage 1 der DE nachträglich ab deren Kenntniserlangung von Weiterverkauf und Abholtransport durch AT2 die Steuerbefreiung „auch mit Rückwirkung“ versagt werden könne.
2. Anmerkungen
Der EuGH beurteilte die Vorlagefragen wie folgt:
- Zur 1. Vorlagefrage: Der EuGH stellte unter Verweis auf seine Reihengeschäfts-Rechtsprechung klar, dass nur diejenige Lieferung als USt-freie innergemeinschaftliche Lieferung beurteilt werden kann, der die Warenbewegung objektiv zuzuordnen sei. Das sei „anhand einer umfassenden Würdigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls“, aber insbesondere auf Basis des Zeitpunkts der Verfügungsmachtsverschaffung an der Ware an AT2 zu beurteilen. Da angesichts des Abholtransports der AT2 bereits in Deutschland die Verfügungsmacht an der Ware verschafft worden sei, könne nur die Lieferung AT1 → AT2 als „bewegte Lieferung“ umsatzsteuerfrei bleiben. Selbst der Umstand, dass die Informationen zu Weiterverkauf und Abholtransport durch AT2 dem DE von AT1 bewusst vorenthalten wurden und DE dies auch nicht erkennen konnte, kann nach Auffassung des EuGH hinsichtlich der Warenbewegungszuordnung und ihrer Umsatzbesteuerungsfolgen nicht zur abweichenden Beurteilung führen.
- Zur 2. Vorlagefrage: Der EuGH konstatiert, dass ein Vorsteuerabzugsrecht nur aus „originär geschuldeter“ Umsatzsteuer entstehen kann. Da vorliegend der 2. Lieferung „AT1 → AT2“ die Warenbewegung und damit der innergemeinschaftliche Liefervorgang zuzuordnen sei, komme ein Vorsteuerabzug bei AT2 aus dem unrichtigen Steuerausweis des AT1 nicht in Betracht. Ein solcher könne sich auch nicht „aus Vertrauensschutzgesichtspunkten“ für AT2 ergeben: Denn zum einen sei für das Vorsteuerabzugsrecht auf die objektiven Umstände der zutreffenden Steuerentstehung abzustellen und zum anderen könne Vertrauensschutz nur auf Basis einer „durch eine Zusicherung der Finanzverwaltung begründet geweckten Erwartungshaltung“ entstehen. Dafür gab es vorliegend jedoch keine Anhaltspunkte.
Da der EuGH zur 1. Frage die Umsatzsteuerbefreiung der Lieferung DE → AT1 bereits verneint hatte, hielt er die 3. Vorlagefrage (Rückwirkung der Befreiungsversagung) für nicht mehr beantwortungsbedürftig.
3. Relevanz für die Praxis
Bei Reihengeschäften in der Konstellation A → B → C kommt nur für eine der nacheinander erfolgenden Lieferungen die Steuerfreiheit als innergemeinschaftliche Lieferung in Betracht. Seit jeher ist daher die Frage zu beantworten, nach welchen Abgrenzungskriterien diese Zuerkennung ‒ und Aberkennung für die übrigen beteiligten Lieferungen ‒ zu erfolgen hat: Bereits nach dem Gesetzeswortlaut (§ 6a Abs. 1 Nr. 1 UStG wie auch Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL) setzt eine innergemeinschaftliche Lieferung die grenzüberschreitende Beförderung/Versendung ins übrige Gemeinschaftsgebiet voraus, sodass nur „bewegte Lieferungen“ für die Exportsteuerbefreiung in Betracht kommen. Die Abgrenzungsfrage reduziert sich also darauf, welcher Lieferung in der Kette die grenzüberschreitende Transportbewegung zuzuordnen ist:
- Das deutsche Gesetz will diese Abgrenzung über die „Transportveranlassung und Risikoverteilung“ lösen und sieht dabei ohnehin ein Abgrenzungs-/Zuordnungsproblem nur bei Transportveranlassung durch den Mittleren (B) vor (§ 3 Abs. 6 S. 5 ‒ 6 UStG).
- Im EG-Recht ist die „Rechtsfigur Reihengeschäft“ bislang (abgesehen von der besonderen Vereinfachung für „innergemeinschaftliche Dreiecksgeschäfte“/Art. 141 MwStSystRL) überhaupt nicht geregelt. Abgrenzungsüberlegungen beruhen bislang nur auf dem „Richterrecht“ der EuGH-Rechtsprechung.
Der EuGH bestätigte in seinen bislang 4 Reihengeschäftsentscheidungen (EuGH 6.4.06, C-245/04, DStR 06, 699; 16.12.10, C-430/09, DStR 11, 23; 27.9.12, C-587/10, DStR 12, 2014; 26.7.17, C-386/16, DStR 17, 1819) zwar dem Grunde nach, dass nur eine der Lieferungen als bewegte Lieferung innergemeinschaftlich und damit steuerfrei sein kann. Bei den diesbezüglichen Abgrenzungskriterien blieb der EuGH jedoch nebulös und überantwortet jeweils dem nationalen Vorlagegericht die Aufgabe „auf Basis einer umfassenden Würdigung aller besonderen Umstände des Einzelfalles“ zu klären, ob der Zwischenerwerber B dem Letztabnehmer C erst im Bestimmungsland (1. Fall) oder bereits im Ausgangsland (2. Fall) „die Befähigung wie ein Eigentümer über die Ware zu verfügen“ übertragen habe. Gemäß der Auffassung des EuGH soll
- im 1. Fall die 1. Lieferung A → B und
- im 2. Fall die 2. Lieferung B → C
die „bewegte und damit steuerbefreiungsfähige“ sein.
Unbeantwortet ließ der EuGH dabei aber bislang die entscheidenden Fragen, was er einerseits unter der vorstehenden „Verfügungsbefähigung“ versteht und „welche Einzelfallumstände“ als Abgrenzungskriterien für bzw. gegen eine Zuordnung sprechen sollen.
Seit auch der BFH diese unbestimmten EuGH-Aussagen in seine Rechtsprechung einflicht (z. B. BFH 25.2.15, XI R 15/14, BFH/NV 15, 772), herrscht in der deutschen Reihengeschäfts-Besteuerungs- und Beratungspraxis ein völliges Interpretationschaos und große Rechtsunsicherheit. Das BMF hält währenddessen an seiner jahrzehntelangen Sichtweise unbeirrt fest (A 3.14 Abs. 7 ff. UStAE) und ignoriert die im Gegensatz zur Regelung in A 3.14 Abs. 10 S. 2 UStAE stehende Verfügungsbefähigungs-Aussage des EuGH konsequent.
Angesichts dieser unbefriedigenden Ausgangslage hatte die Beratungspraxis große Klärungshoffnungen in die nun ergangene 5. Reihengeschäftsentscheidung des EuGH (21.2.18, C-628/16) gesetzt ‒ eine Erwartung, die der EuGH jedoch bezüglich der beiden o. a. Abgrenzungsfragen erneut enttäuscht hat. Dennoch lohnt eine Befassung mit der Entscheidung in anderen Teilbereichen:
3.1 Zuordnung anhand objektiver versus subjektiver Kriterien?
Bislang war umstritten, ob die Warenbewegungszuordnung auf Basis der objektiv gegebenen Sachverhaltsumstände zu beurteilen sei oder es vor allem oder zumindest auch darauf ankomme, von welchem Sachverhalt die Beteiligten subjektiv ausgingen. Kommt es also für die Beurteilung der Steuerfreiheit der Lieferung des A auf dessen subjektiven Kenntnisstand an oder nicht, soweit hier der Mittlere B dem Erstlieferer A den unmittelbaren Weiterverkauf an C und dessen Abholtransport verschweigt? Die einzelnen Senate des BFH interpretierten die EuGH-Rechtsprechung unterschiedlich (subjektive Kenntnis der Beteiligten maßgeblich s. BFH 11.8.11, V R 3/10, DStR 11, 2047, Rz. 18; a. A. BFH 10.11.10, XI R 11/09, BStBl II 11, 237, Rz. 58-63 und BFH 25.2.15, XI R 15/14, DStR 15, 748, Rz. 46-47).
MERKE | Der EuGH betonte nun, dass für die Warenbewegungszuordnung entscheidend bleibe, zu welchem Zeitpunkt der Mittlere dem Letztabnehmer auf Basis der objektiven Faktenlage Verfügungsmacht an der Ware verschafft habe. Subjektive Momente ‒ wie eine entgegenstehende Absicht oder Einschätzung ‒ seien nämlich nur dann relevant, wenn sie durch objektive Umstände gestützt würden (Rz. 32-37). Auch im vorliegenden Fall könne die Warenbewegungszuordnung und die Steuerbefreiung nicht auf Grundlage des subjektiven Informationsstands des Erstlieferers beurteilt werden, sondern müsse den objektiven Gesichtspunkten folgen. Damit dürfte der Meinungsstreit zugunsten des „objektiv Zutreffenden“ entschieden sein. |
3.2 Relevanz von Vertrauens-/Gutglaubensschutz?
Im Verfahren war streitig, ob DE nicht aufgrund seines unverschuldet lückenhaften Kenntnisstandes gleichwohl von einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung ausgehen durfte. Der EuGH entschied überraschend deutlich zugunsten der objektiv zutreffenden Gesichtspunkte (s. o.). M. E. bleibt allerdings in einem 2. Schritt zu beurteilen, was dies unter Vertrauensschutz- oder Gutglaubensgesichtspunkten für den Vorsteuerabzug bei Entzug der Steuerbefreiung bedeutet:
- a) Vorsteuerabzug des AT2
- Der EuGH verneint zur 2. Vorlagefrage den Vertrauensschutz für AT2 in den fälschlichen Vorsteuerabzug ausdrücklich. Ein Vertrauensschutz komme begrifflich nur in Betracht, soweit die Finanzverwaltung aufgrund bestimmter Zusicherungen begründete Erwartungen in eine bestimmte steuerliche Beurteilung/Handhabung geweckt habe.
- Mit den Überlegungen eines möglichen Gutglaubensschutzes beschäftigt sich der EuGH jedoch nicht. Im EuGH-Verfahren wäre ein solcher Gutglaubensschutz allerdings auch zu verneinen gewesen, da AT2 die Unrichtigkeit des Umsatzsteuerausweises in der Rechnung des AT1 bei fachkundiger mehrwertsteuerrechtlicher Beurteilung (problemlos) hätte erkennen können: Denn AT2 wusste von seinem eigenen Abholtransport und damit bei verständiger steuerrechtlicher Würdigung davon, dass er mit seiner Abholung der Mineralölprodukte bei DE in Deutschland eine warenbewegte innergemeinschaftliche Lieferung im Reihengeschäft erbrachte. Die EuGH-Ablehnung einer Vorsteuerbilligkeit zugunsten AT2 geht daher im Urteilssachverhalt in Ordnung.
MERKE | Offen bleibt damit allerdings, ob der EuGH einen gutgläubigen Vorsteuerabzug zumindest dann bejahen würde, wenn AT2 weder Kenntnis von einem Reihengeschäft noch von dem aus Deutschland ausgehenden Warentransport hatte und dies auch bei Beachtung kaufmännischer Sorgfaltsgesichtspunkte nicht hätte erkennen können. Da sowohl der BFH (30.4.09, V R 15/07, DB 09, 1631; 8.7.09, XI R 51/07, BFH/NV 10, 256, a. A. BFH 7.12.16, XI R 31/14, BFH/NV 17, 487) als auch der EuGH (15.11.17, C-374/16 u. C-375/16, DStR 17, 2544) diese Frage bisher unentschieden gelassen hat, ist sie nach meinem Dafürhalten noch nicht abschließend geklärt.
- b) Steuerbefreiung des DE
- Mit der 3. Vorlagefrage fragte das österreichische Steuergericht an, ob dem DE ‒ wenn ihm im 1. Schritt die Steuerfreiheit noch zu gewähren war ‒ angesichts seiner späteren Kenntnis zum Sachverhalt die Steuerfreiheit rückwirkend entziehbar sei. Da der EuGH bereits zur 1. Vorlagefrage die Steuerfreiheit dem Grunde nach verneinte, stellte sich die Folgefrage der späteren (rückwirkenden) Entziehbarkeit für ihn gar nicht mehr. Für die Besteuerungspraxis hat diese Folgefrage eines möglichen Vertrauensschutzes bei DE jedoch erhebliche Relevanz, da sie ansonsten regelmäßig zur Definitivbelastung der Steuernacherhebung für den Unternehmer führt. Der EuGH hat die Frage nicht explizit diskutiert und m. E. auch nicht verneint.
- Aber in Deutschland existiert mit § 6a Abs. 4 UStG eine insofern denkbar einschlägige Vertrauensschutzvorschrift und hierzu liegt auch bereits umfängliche und bejahende BFH-Rechtsprechung vor (BFH 11.8.11, V R 3/10, DStR 11, 2047). Gleichwohl bekundet der BFH in Rz. 29 dieser Entscheidung, „es erscheine nicht möglich, sog. ruhende Lieferungen von der Gewährung des Vertrauensschutzes nach § 6a Abs. 4 S. 1 UStG auszunehmen“. Die Finanzverwaltung dürfte dem zwar entgegenhalten, dass der Vertrauensschutz gemäß § 6a Abs. 4 UStG wortlautgemäß nur unrichtige Angaben des Abnehmers betreffe und in den vorstehenden Reihengeschäftsfällen die „entscheidend-falschen (vertrauensschutzrelevanten) Angaben“ letztlich die verschwiegene Information zum unmittelbaren Weiterverkauf bzw. zur Verfügungsmachtsverschaffung an der Ware gewesen sei, was in § 6a Abs. 4 S. 1 UStG keine Erwähnung finde. Dagegen lässt sich jedoch überzeugend vortragen, dass sich nach der EuGH-Rechtsprechung der Vertrauensschutzgedanke bereits aus allgemeinen EG-rechtlichen Systemgrundsätzen ergibt, was auch der BFH in seiner Entscheidung vom 25.2.15 (XI R 15/14, DStR 15, 748) ganz allgemein und auch hinsichtlich der Einschlägigkeit von § 6a Abs. 4 UStG in Reihengeschäftsfällen bestätigt.
- Der Exporteur hat für die Zuerkennung des Vertrauensschutzes gemäß § 6a Abs. 4 UStG den Nachweis der von ihm beachteten kaufmännischen Sorgfaltspflichten zu erbringen. In seiner Entscheidung XI R 15/14 (dort Rz. 70) hält der BFH es für angezeigt, dass sich der Erstlieferant von seinem Abnehmer schriftlich versichern lässt, dass Letzterer „die Befugnis, über den Gegenstand der Lieferung wie ein Eigentümer zu verfügen (Verfügungsmacht), nicht auf einen Dritten übertragen werde, bevor der Gegenstand der Lieferung den Liefermitgliedstaat physisch verlassen habe“. Dies (sorgfaltspflichtbewusst) zu tun (oder zu lassen), liege in der eigenunternehmerischen Entscheidung des Exporteurs.
PRAXISTIPPS |
Bis zur rechtssicheren Klärung könnte daher die vorstehende Abnehmerversicherung bei Abholtransporten die kaufmännische Sorgfalt überzeugend dokumentieren. Alternativ könnte der Erstlieferant sich bei Abholtransporten auch möglichst umfängliche Kenntnisse darüber verschaffen, wer die Ware bei ihm ‒ und vor allem in welcher Funktion ‒ abholen kommt, und diese Klärungsbemühungen dokumentieren.
Noch größere Rechtssicherheit erlangt der deutsche Exporteur jedoch, wenn er sich in diesen Fällen überhaupt nicht auf Abholer-Transporte einlässt, sondern die Ware selbst ins übrige Gemeinschaftsgebiet befördert bzw. selbst die Versendung beauftragt. Denn dann garantiert die deutsche Finanzverwaltung ihm gemäß A 3.14. Abs. 8 UStAE die Zuordnung der für die Steuerbefreiung zentral bedeutsamen bewegten Lieferung, sodass bei ergänzend korrekt geführtem Buch- und Belegnachweis eine spätere Versagung der Steuerbefreiung bei einer fiskalischen Außenprüfung ausgeschlossen erscheint.
4. Schlussbemerkungen
Laut Urteilssachverhalt sah sich DE unverschuldet mit einer Steuernachzahlung konfrontiert und bei AT2 wurde die Vorsteuer zurückgefordert. Die damit einhergehenden Rechtsunsicherheiten verdeutlichen einmal mehr den dringlichen Bedarf einer einheitlichen Reihengeschäftsregelung auf europäischer Ebene. Seit dem 4.10.17 liegt nun ein konkreter Regelungsvorschlag der EU-Kommission vor, der eine rechtssichere und EU-harmonisierte Reihengeschäftsregelung jedoch bislang nur für sog. zertifizierte Steuerpflichtige anbieten will (zur erstmaligen Regelung der Reihengeschäfte im EU-Binnenhandel s. in dieser Ausgabe Weimann, PIStB 18, 212).
Bis dahin sollten sich deutsche Reihengeschäftsbeteiligte vorsorglich an der (der EuGH-Sicht in mehreren Punkten widersprechenden!) BMF-Sichtweise (A 3.14 UStAE) orientieren. Bei dieser Vorgehensweise besteht grundsätzlich nicht das Risiko, dass nachträglich Vorsteuer zurückgefordert oder die Steuerbefreiung versagt wird. Und diese Verwaltungssichtweise sieht zudem mit der EU-Kollisionsregelung in A 3.14 Abs. 19 UStAE eine Regelung zur Vermeidung von Steuerverwerfungen vor, mit der die deutsche Finanzverwaltung im Zweifel zugunsten der Reihengeschäftssichtweise des anderen EU-Staats auf ihre deutsche Sichtweise verzichtet.
Der EuGH hatte die Vorsteuerrückforderung des österreichischen Fiskus bei AT2 unter Verweis auf den „objektiv“ unrichtigen Steuerausweis bestätigt. Somit stellte sich mit Blick auf die Insolvenz des AT1 für AT2 die Frage, ob er diesen Vorsteuerbetrag im Billigkeitswege oder in sonstiger Weise zurückerhalten könnte. Der EuGH hatte AT2 insofern im 1. Schritt auf den nationalen Zivilrechtsweg gegenüber AT1 verwiesen, aber in einem versteckten Klammerzusatz ergänzend an seine „Reemtsma-Rechtsprechung“ erinnert (EuGH 21.2.18, C-628/16, Rn. 48 mit Verweis auf EuGH 26.4.17, C-564/15, UR 17, 438, Rn. 49 und die dort angeführte „Reemtsma“-Rechtsprechung des EuGH 15.3.07, C-35/05, UR 07, 343) .
Danach kann der Leistungsempfänger, der sich wegen eines unrichtigen Steuerausweises (§ 14c Abs. 1 UStG) einer Vorsteuerrückforderung ausgesetzt sieht, (ausnahmsweise) dann einen Direktanspruch gegenüber dem FA des Rechnungsausstellers für sich reklamieren, wenn
- einerseits sein zivilrechtlicher Rückzahlungsanspruch gegenüber dem Rechnungsaussteller wegen dessen Insolvenz aussichtslos erscheint und
- andererseits der Rechnungsaussteller die unrichtig ausgewiesene Steuer auch an den Fiskus abgeführt hatte und die Staatskasse damit bei Vorsteuerrückforderung „per Saldo ungerechtfertigt bereichert“ bliebe.
Dieser Anspruch scheiterte im EuGH-Verfahren zwar daran, dass AT1 seine gegenüber AT2 ausgewiesene MwSt gerade nicht an den österreichischen Fiskus abgeführt hatte. Bei anderer Sachlage könnte aber ein „gutgläubig geschädigter“ Abnehmer seinen insolvenzbedingt wertlosen zivilrechtlichen Rückforderungsanspruch m. E. unter Berufung auf den erneuten, aktuellen EuGH-Verweis auf den sog. „Direktanspruch“ der Reemtsma-Rechtsprechung stützen (vgl. hierzu auch BFH 30.6.15, VII R 30/14, DB 15, 2187 Rn. 22 ‒ 25).
Weiterführende Hinweise
- Zur erstmaligen Regelung der Reihengeschäfte auf europäischer Ebene s. Weimann/Fuisting, PIStB 18, 212 in dieser Ausgabe
- Zu den neuen BFH-Grundsätzen zur Zuordnung der Warenbewegung im Reihengeschäft (Teil 1 und 2) s. Nieskoven, PIStB 15, 235, 365