· Fachbeitrag · Umsatzsteuer
BFH schränkt Anwendung des ermäßigten Steuersatzes ein ‒ Wohlfahrtsbereich betroffen
von Rechtsanwältin und Fachanwältin für Steuer- und Sozialrecht Gabriele Ritter, Ritter & Partner mbB, Rechtsanwälte und Steuerberater, Wittlich
| Der Betrieb eines Bistros und einer öffentlichen Toilette eines gemeinnützigen Vereins der Wohlfahrtspflege unterliegt selbst dann nicht dem ermäßigten Umsatzsteuersatz von sieben Prozent, wenn diese Betriebe steuerlich als Integrationsbetriebe anerkannt sind. Das hat der BFH entschieden. Seit dieser Entscheidung stehen insbesondere die Leistungen im Wohlfahrts-/Betreuungsbereich auf dem steuerlichen Prüfstand. Für die betroffenen Leistungsträger wirkt sich die Entscheidung existenziell aus. |
Teilhabe am Arbeitsleben und Umsatzsteuersatz
Geklagt hatte ein gemeinnütziger Verein. Dessen Satzungszweck bestand darin, Personen zu unterstützen, die infolge ihres körperlichen, geistigen oder seelischen Zustands der Hilfe bedürfen. Zur Erfüllung dieses Satzungszwecks betrieb der Verein eine anerkannte Werkstatt für behinderte Menschen. Damit verfolgte er das Ziel, Personen Arbeitsplätze zu bieten, die wegen ihrer Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können.
Zudem betrieb der Verein seit dem 02.07.2007 ein Bistro und eine öffentliche Toilette, die nicht Betriebsteil der Werkstatt für Behinderte waren. Die hier betroffenen Arbeitsplätze wurden mit Bewilligungsbescheiden des Landesamts für Soziales und Versorgung (Integrationsamt) zu 100 Prozent gefördert.
- Der Verein nahm an, dass es sich hierbei um einen Integrationsbetrieb (heute Inklusionsbetrieb) nach § 68 Abs. 3 Buchst. c AO handelt. Daher unterwarf er die Umsätze aus dem Betrieb des Bistros und der öffentlichen Toilette dem ermäßigten Steuersatz nach § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG.
- Im Rahmen einer Außenprüfung gelangte der Prüfer zu der Auffassung, dass es sich bei dem Betrieb des Bistros um einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb handele, der kein Zweckbetrieb sei. Folglich sei der allgemeine Steuersatz anzuwenden. Das FG Berlin-Brandenburg stützte in seinem Urteil (vom 07.11.2016, Az. 5 K 5372/14) die Auffassung des Finanzamts. Der BFH ging im Revisionsverfahren noch einen Schritt weiter.
BFH: Keine Anwendung des ermäßigten Steuersatzes
Nach Auffassung des BFH unterliegen die Umsätze nicht dem ermäßigten Umsatzsteuersatz; und zwar selbst dann nicht, wenn diese Leistungen der Verwirklichung satzungsgemäßer Zwecke gedient haben. Er beruft sich darauf, dass die Regelung in § 12 Abs. 2 Nr. 8a UStG nach Europaarecht restriktiv auszulegen sei (BFH, Urteil vom 23.07.2019, Az. XI R 2/17, Abruf-Nr. 212364).
§ 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a S. 3 UStG stellt unter den dort näher bezeichneten Voraussetzungen darauf ab, dass der Zweckbetrieb
- entweder nicht in unmittelbarem Wettbewerb mit der Regelbesteuerung unterliegenden Unternehmern tätig ist, oder
- mit dessen Leistungen die steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke selbst verwirklicht werden.
Bei der Entscheidung hierüber sind zwingende Vorgaben des Unionsrechts im Bereich der Mehrwertsteuer zu beachten. Danach muss es sich um Leistungen von Einrichtungen handeln, die gemeinnützig und zusätzlich für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit tätig sind. Diese Voraussetzungen waren im Streitfall für den BFH nicht erfüllt.
- Zum einen war der Verein mit seinen Gastronomieumsätzen in Wettbewerb zu anderen Unternehmern mit vergleichbaren Leistungen getreten.
- Zum anderen dienten die Gastronomieumsätze in erster Linie den Zwecken der Bistrobesucher und waren daher keine originär gemeinnützigen Leistungen.
BFH: Ermäßigte-Steuersatz-Regelung ist eng auszulegen
Die nationalen Regelungen sind im Lichte des Europarechts auszulegen. Sie führen zu einer restriktiven Auslegung von Umsatzsteuerermäßigungen bzw. zu einer weiten Auslegung der Anwendung des Regelsteuersatzes. Konkret begründet das der BFH wie folgt:
Nationale Vorschrift des § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG
- Gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a S. 1 UStG ist auf Leistungen von Körperschaften, die ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke gemäß §§ 51 bis 68 AO verfolgen, der ermäßigte Steuersatz anzuwenden (Grundsatz).
- Das gilt nicht für Leistungen, die im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs ausgeführt werden, § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a S. 2 UStG (Ausnahme).
- Für Leistungen, die im Rahmen eines Zweckbetriebs ausgeführt werden (Rückausnahme), gilt die Steuermäßigung nur,
- wenn der Zweckbetrieb nicht in erster Linie der Erzielung zusätzlicher Einnahmen durch die Ausführung von Umsätzen dient, die in unmittelbarem Wettbewerb mit dem allgemeinen Steuersatz unterliegenden Leistungen anderer Unternehmer ausgeführt werden (§ 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a S. 3, 1. Alt. UStG), oder
Unionsrechtliche Vorgaben spielen in die Auslegung herein
Bei der Auslegung von § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG ist seit 1993 auch das dieser Steuersatzermäßigung zugrunde liegende Unionsrecht zu beachten. Zu einer entsprechenden Einschränkung der für die Mitgliedstaaten bestehenden Regelungsbefugnisse kam es ‒ so der BFH ‒ durch Art. 12 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Anhang H der Richtlinie 77/388/EWG i. d. F. der Richtlinie 92/77/EWG des Rates vom 19.10.1992 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG.
Danach können die Mitgliedstaaten zwar einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden (Art. 98 Abs. 1 MwStSystRL). Die ermäßigten Steuersätze sind aber „nur“ auf die Lieferungen und Dienstleistungen der im Anhang III MwStSystRL genannten Kategorien anwendbar (Art. 98 Abs. 2 MwStSystRL). Dabei besteht für die Mitgliedstaaten nach Anhang III Nr. 15 MwStSystRL die Befugnis, für die steuerpflichtigen Leistungen der „von den Mitgliedstaaten anerkannte[n] gemeinnützige[n] Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit“ einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden.
Auf dieser Grundlage dürfen die Mitgliedstaaten insbesondere „nicht auf alle gemeinnützigen Leistungen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden“, sondern nur auf diejenigen, die von Einrichtungen erbracht werden, die sowohl gemeinnützig als auch für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit tätig sind“ (EuGH, Urteil vom 17.06.2010, Rs. C-492/08, Abruf-Nr. 190675 ‒ Kommission/Frankreich; UR 2010, 662, Rz. 43; BFH, Urteil vom 10.08.2016, Az. V R 11/15, Rz. 22, Abruf-Nr. 190263).
Das hat zur Folge: Andere als gemeinnützige Leistungen sind unionsrechtliche vom Anwendungsbereich der Steuersatzermäßigung für gemeinnützige Körperschaften von vornherein ausgeschlossen (BFH, Urteil vom 10.08.2016, Az. V R 11/15, Rz. 22, Abruf-Nr. 190263; Heuermann in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 12 Rz. 611; Heuermann, DStR 2015, 1416, [1419]; Bunjes/Heidner, UStG, 18. Aufl., § 12 Rz. 151b, 164, 167; Wäger in Festschrift Gosch, 2016, 427, [430]; Michel, DB 2012, 2007, [2008 f.]). Für nicht originär gemeinnützige Leistungen sieht das EU-Recht keine Steuersatzermäßigung vor (Bunjes/Heidner, a.a.O., § 12 Rz. 167).
Wichtig | Dies führt dazu, dass § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a S. 1 UStG nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, weil einer unionsrechtskonformen Auslegung des Satzes 1 der Wortlaut der Vorschrift entgegen steht.
Konsequenzen für Bistro und Toilette
Bei Anwendung dieser Grundsätze kommt der BFH im Urteilsfall zum Schluss: Die Leistungen des Bistros und ‒ dies stellte der BFH ebenfalls fest ‒ die Umsätze aus dem Betrieb der öffentlichen Toilette unterlagen nicht dem ermäßigten Steuersatz des § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG. Daran ändert die Tatsache nichts, dass in der Sache ein Zweckbetrieb nach § 68 Nr. 3 Buchst. c AO anzunehmen war.
Leistungen im Wettbewerb mit anderen Unternehmen
Der Verein erzielte in erster Linie zusätzliche Einnahmen durch die Ausführung von Umsätzen, die in unmittelbarem Wettbewerb mit dem allgemeinen Steuersatz unterliegenden Leistungen anderer Unternehmer ausgeführt wurden, weil diese für den Satzungszweck des Vereins nicht unerlässlich waren (zur Bedeutung dieses Umstands: BFH, Urteil vom 08.03.2012, Az. V R 14/11, Rz. 29, Abruf-Nr. 121803). Es kommt dabei weder darauf an, ob der Verein aus den zusätzlichen Einnahmen geringe oder keine Gewinne erzielt hat, noch darauf, ob die Einnahmen dem Verein verblieben sind (BFH, Urteil vom 08.03.2012, Az. V R 14/11, Rz. 28, Abruf-Nr. 121803).
Wichtig | Der Verein tritt mit den Umsätzen des Bistros und der öffentlichen Toilette in Wettbewerb mit anderen Unternehmern, die vergleichbare Leistungen anbieten. § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a S. 3, 1. Alt. UStG ist damit nicht erfüllt.
Keine eigene Verwirklichung der satzungsmäßigen Zwecke
Die Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a S. 3, 2. Alt. UStG liegen ebenfalls nicht vor. Der satzungsmäßige Zweck des Vereins war im Streitfall die Unterstützung von Personen, die infolge ihres körperlichen, geistigen oder seelischen Zustands der Hilfe bedürfen.
Der Verkauf von Gastronomieleistungen und die Zurverfügungstellung der öffentlichen Toilette mögen zwar der Verwirklichung dieser Zwecke gedient haben; „mit diesen Leistungen“ werden jedoch nicht die satzungsmäßigen Zwecke des Vereins „selbst verwirklicht“. Denn die einzelnen Gastronomieleistungen des Bistros wie auch die Zurverfügungstellung der öffentlichen Toilette dienen in erster Linie den Zwecken der Besucher (Verbraucher) und der Nutzer, die nicht vom gemeinnützigen Zweck der Einrichtung des Vereins erfasst werden. Sie sind daher nicht originär gemeinnützige Leistungen im Sinne des Art. 98 Abs. 2 und 3 in Verbindung mit Anhang III Nr. 15 MwStSystR.
Bedeutung des Urteils für die Praxis
Die Entscheidung des BFH war nicht überraschend. Sie zeichnete sich vielmehr ab. Der BFH verweist in dem aktuellen Urteil auf seine Entscheidung zur Veräußerung von Scannern und Dienstleistungen für Archivsysteme durch ein Integrationsprojekt. Begünstigt waren demnach nur Leistungen gegenüber den behinderten Personen, aber nicht solche Leistungen, an deren Erbringung behinderte Arbeitnehmer des Integrationsunternehmens teilhaben (BFH, Urteil vom 24.09.2014, Az. V R 11/14, Abruf-Nr. 174671).
Auch das FG Münster weist auf die Problematik des ermäßigten Steuersatzes und seiner Vereinbarkeit mit Unionsrecht hin. In dem Fall ging es um Jugendliche in Wohngruppen, die durch einen ebenfalls gemeinnützigen Verein betreut wurden. Die in diesen Wohngruppen lebenden Jugendlichen waren in der von dem Verein betriebenen Kfz-Werkstatt tätig und führten Reparaturarbeiten an Kfz aus. Das FG berief sich auf Unionsrecht und nahm in gleicher Argumentation wie der BFH den Regelsteuersatz an (FG Münster, Urteil vom 18.06.2019, Az. 15 K 1952/15 U, Abruf-Nr. 211311).
Urteil sorgt für große Verunsicherung im Wohlfahrts-/Betreuungsbereich
Obgleich (also) nicht überraschend, schlug das Urteil des BFH angesichts seiner Deutlichkeit hohe Wellen im Wohlfahrts-/Betreuungsbereich.
Während man bislang von Einzelfällen ausging, besteht jetzt die (berechtigte) Sorge, dass generell die Teilhabe am Arbeitsleben auch ggf. in Werkstätten für behinderte Menschen sowie die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen in Inklusionsbetrieben und Beschäftigungsgesellschaften im Kern gefährdet ist. Mit der Anwendung des Regelsteuersatzes werden die Leistungen am Markt aufgrund der Verteuerung möglicherweise nicht mehr angenommen. Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Behinderungen kann aber nur dann erfolgen, wenn auch am Markt und am Wettbewerb partizipiert wird.
Reaktionen auf das Urteil
- Bislang hat das BMF das Urteil des BFH noch nicht für über den entschiedenen Einzelfall hinaus anwendbar erklärt.
- Verschiedene Träger und Verbände der Eingliederungshilfe haben bereits dadurch interveniert, indem sie sich an das BMF oder an ihr örtliches Finanzamt gewandt haben; teilweise haben sie sich dabei sogar auf die UN-Behindertenrechtskonvention berufen.
- Im Rahmen einer Bund-Länder-Kommission soll besprochen werden, ob und wie dieses Urteil Anwendung finden soll. Bereits jetzt gibt es Äußerungen einzelner Finanzämter, dass das Urteil bis auf weiteres nicht angewendet werden muss und eine Bezugnahme auf die (günstigeren) Regelungen des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses weiter möglich bleibt.
- Noch Ende vergangenen Jahres wurde gegen das Urteil des BFH Verfassungsbeschwerde eingelegt (Az. beim BVerfG: 1 BvR 2837/19). Begründet worden soll das damit sein, dass der Fall dem EuGH hätte vorgelegt werden müssen (siehe dazu auch Hüttemann in MwStR 2020, Seite 81 ff.).
PRAXISTIPP | Der BFH hat den Rechtstreit an die Vorinstanz zurückverwiesen. Diese muss nun prüfen, ob der ermäßigte Steuersatz vielleicht aus anderen Gründen gewährt werden kann. In der Praxis ist daher zu prüfen, ob die Umsätze nicht aus anderen Gründen mit sieben Prozent berechnet werden können, weil sie unter einen der in Anlage 2 zum UStG genannten Gegenstände fallen (z. B. nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG in Verbindug mit Anlage 2 für die Zubereitung bestimmter Speisen). |