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· Fachbeitrag · Schwerbehinderte Menschen

Das mehrstufige Gespräch im öffentlichen Dienst bei Bewerbungsgesprächen

von RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FA FamR, Prof. Dr. Jesgarzewski & Kollegen Rechtsanwälte, Osterholz-Scharmbeck, FOM Hochschule Bremen

| Nach § 82 S. 2 SGB IX (a. F.) muss der öffentliche ArbG schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einladen, wenn die fachliche Eignung nicht offensichtlich fehlt. Das Vorstellungsgespräch umfasst auch bei mehrstufigen Auswahlprozessen grundsätzlich alle Instrumente des Verfahrens der Personalauswahl unabhängig von ihrer Bezeichnung, der angewandten Methode und der konkreten Durchführungsform, die nach der Konzeption des ArbG erforderlich sind, um sich ein umfassendes Bild von der fachlichen und persönlichen Eignung des Bewerbers zu machen. |

 

Sachverhalt

Die Parteien streiten über eine Entschädigung wegen einer Benachteiligung aufgrund einer Schwerbehinderung. Der Kläger hatte sich unter Hinweis auf seine Schwerbehinderung bei dem beklagten Bundesland beworben. Das Land hat den Kläger zum Vorstellungsgespräch geladen und ergänzend mitgeteilt, dass im Nachgang noch ein weiteres Gespräch für eine Potenzialanalyse erfolgen werde. Hierzu wurde der Kläger indes nicht mehr eingeladen. Er erhielt vielmehr eine Absage mit dem Inhalt, dass er nicht in die engere Auswahl einbezogen worden wäre.

 

Der Kläger ist der Auffassung, das beklagte Land sei ihm nach § 15 Abs. 2 AGG zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet. Es habe ihn den Vorgaben des AGG sowie des SGB IX zuwider wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt. Dies folge bereits daraus, dass er entgegen der gesetzlichen Verpflichtung nicht zur Potenzialanalyse und damit nicht zu allen Teilen des Vorstellungsgesprächs eingeladen worden sei. Entscheide sich der öffentliche ArbG für ein mehrstufiges Auswahlverfahren, müsse er den schwerbehinderten Bewerber zu jeder Stufe einladen.

 

Das beklagte Land vertritt die Ansicht, der Kläger habe im Auswahlgespräch nicht überzeugt und sei deshalb nicht mehr zur ergänzenden Potenzialanalyse einzuladen gewesen. Die gesetzliche Verpflichtung zur Einladung beziehe sich nur auf das Vorstellungsgespräch als solches. Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab (LAG Düsseldorf 26.9.18, 7 Sa 227/18).

 

Entscheidungsgründe

Das BAG (27.8.20, 8 AZR 45/19, Abruf-Nr. 219884) gab der Revision des Klägers statt. Der Kläger habe gegen das beklagte Land einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG.

 

Das beklagte Land habe den Kläger entgegen seiner Verpflichtung nach § 82 S. 2 SGB IX a. F. nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Dieser Umstand begründe die Vermutung i. S. v. § 22 AGG, dass der Kläger wegen seiner Behinderung benachteiligt wurde. Das beklagte Land habe diese Vermutung nicht widerlegt. Es hätte den fachlich nicht offensichtlich ungeeigneten Kläger auch zu der Potenzialanalyse einladen müssen, da diese gleichfalls Bestandteil des Vorstellungsgesprächs gewesen sei.

 

Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers sollten schwerbehinderte Bewerber durch das Vorstellungsgespräch die Möglichkeit erhalten, ihre Chancen im Auswahlverfahren zu verbessern. Sie sollten die Chance haben, den ArbG von ihrer Eignung zu überzeugen Dabei sei der Begriff der „Eignung“ als umfassendes Qualifikationsmerkmal zu verstehen, das die ganze Persönlichkeit des Bewerbers über rein fachliche Gesichtspunkte hinaus erfasse. Da die Potenzialanalyse Teil der Prüfung der Eignung der Bewerber gewesen wäre, sei sie folglich auch Teil des Vorstellungsgesprächs.

 

Soweit sich das beklagte Land darauf beruft, dem Kläger sei es in dem Auswahlgespräch nicht gelungen, seine persönliche Eignung überzeugend darzulegen, werde der vorgenannte Gesetzeszweck verkannt. Dem schwerbehinderten Bewerber solle das vollständige Vorstellungsgespräch zur Verfügung stehen, um von sich zu überzeugen. Werde nur zu einem Teil davon eingeladen, sei eine Benachteiligung wegen der Behinderung zu vermuten.

 

Relevanz für die Praxis

Die Entscheidung ist zwar noch zum alten Recht ergangen. Die Gründe gelten jedoch uneingeschränkt auch für das neue Recht. Nach der Reform des Neunten Sozialgesetzbuches findet sich die Regelung der Einladungsverpflichtung schwerbehinderter Bewerber für öffentliche ArbG in § 165 S. 3 SGB IX. Inhaltlich wurde die Norm nicht verändert.

 

Es gilt daher nach wie vor, was der 8. Senat zur Konkretisierung des Einladungserfordernisses entschieden hat. Öffentliche ArbG sind verpflichtet, schwerbehinderte Stellenbewerber zum Vorstellungsgespräch einzuladen. Diese Pflicht entfällt nur, wenn der Bewerber offensichtlich ungeeignet ist. Die fehlende Eignung muss in der fachlichen Qualifikation begründet liegen und evident sein. Es handelt sich dabei um einen eng auszulegenden Ausnahmetatbestand.

 

Dies folgt aus dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung, welchen der 8. Senat des BAG für die Auslegung des Begriffs „Vorstellungsgespräch“ heranzieht. Gesetzgeberisches Ziel ist es, dem schwerbehinderten Bewerber den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Den öffentlichen ArbG kommt hierfür eine besondere Vorbildfunktion zu. Daher ist der Anwendungsbereich der Einstellungsverpflichtung weit auszulegen. Das gilt namentlich für die Definition des Vorstellungsgesprächs. Dazu gehören alle Elemente der persönlichen Gespräche im Rahmen des Einstellungsvorgangs. Wird dieser mehrstufig ausgestaltet, ist der schwerbehinderte Bewerber auch zu allen Stufen des Vorstellungsgesprächs einzuladen.

 

Weiterführender Hinweis

  • Die Einladung zum Vorstellungsgespräch durch öffentliche ArbG bei schwerbehinderten Personen: Jesgarzewski in AA 21, 3
Quelle: Seite 41 | ID 47132791