· Fachbeitrag · OWi-Recht
Verkehrs-OWi-Sachen: Die Rechtsprechung in 2020
von RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg
| Der Beitrag stellt Ihnen im Anschluss an VA 20, 91 und 130 die wichtigsten Entscheidungen aus dem Jahr 2020 aus dem Bereich der Verkehrsordnungswidrigkeiten vor. Ausgenommen sind die Entscheidungen zur Verhängung eines Fahrverbots. Darüber haben wir in VA 20, 147 und 167 berichtet. |
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Anwesenheit in der Hauptverhandlung, Abwesenheitsverhandlung Der mit Vertretungsvollmacht ausgestattete Verteidiger kann für den von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbundenen Betroffenen Erklärungen zur Sache abgeben (§ 73 Abs. 3 OWiG) (OLG Düsseldorf VA 20, 127).
Wird das Abwesenheitsverfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG durchgeführt, muss der wesentliche Inhalt früherer Vernehmungen des Betroffenen und seine schriftlichen oder protokollierten Erklärungen durch Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts oder durch Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Das gilt z. B. auch für von dem Betroffenen vor der Hauptverhandlung gestellte Beweisanträge (OLG Jena VA 20, 127).
Hatte der Betroffene im Vorfeld der Hauptverhandlung über seinen Verteidiger in mehreren Schriftsätzen verschiedene Anträge gestellt und zum Verfahren vorgetragen, insbesondere Einwendungen bezüglich der Geschwindigkeitsmessung vorgebracht, müssen diese Erklärungen des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 1 S. 2 OWiG durch Mitteilung des wesentlichen Inhalts oder durch Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt werden (OLG Frankfurt VA 20, 165). Kommt das AG diesen Verpflichtungen nicht nach, wird der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt (OLG Düsseldorf, OLG Frankfurt und OLG Jena, jeweils a. a. O.).
Lassen sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des erlaubt abwesenden Betroffenen nicht feststellen, zwingt die Aufklärungspflicht das Tatgericht nicht zu weiteren Ermittlungen, wenn es beabsichtigt, eine Geldbuße von mehr als 250 EUR zu verhängen (KG NZV 20, 597).
Das letzte Wort ist ein höchstpersönliches Recht des Betroffenen, das seiner Natur nach nicht übertragbar ist. Daher ist der Verteidiger ‒ auch als bevollmächtigter Vertreter des abwesenden Betroffenen ‒ weder zum letzten Wort aufzufordern noch kann er verlangen, nach seinem Schlussvortrag noch ein letztes Wort zu haben (OLG Düsseldorf zfs 20, 410). |
Anwesenheit in der Hauptverhandlung, Allgemeines Das AG muss den Betroffenen nach § 73 Abs. 2 OWiG von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbinden, wenn dieser seine Fahrereigenschaft eingeräumt und im Übrigen angekündigt hat, sich in der Hauptverhandlung nicht weiter zur Sache zu äußern (OLG Frankfurt VA 20, 165). Dies gilt auch, wenn über ein Fahrverbot zu entscheiden war, da der Betroffene zwar berechtigt, aber nicht verpflichtet ist, an einer weiteren Aufklärung der persönlichen Verhältnisse mitzuwirken (OLG Frankfurt, a. a. O.).
Bei Beantwortung der Frage, wann ein Entbindungsantrag noch als „rechtzeitig“ gestellt anzusehen ist, ist zu prüfen, ob in dem jeweiligen Einzelfall ‒ angelehnt an den Zugang von Willenserklärungen im Zivilrecht ‒ unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt das Gericht von ihm Kenntnis hätte nehmen können und ihn deshalb hätte bearbeiten müssen (OLG Frankfurt a. M. 20.10.20, 1 Ss-OWi 1097/20, NJW 21, 1109). |
Weigert sich der Betroffene beharrlich, der im Gerichtsgebäude bestehenden Maskenpflicht nachzukommen, bleibt er unentschuldigt aus i. S. d. § 74 Abs. 2 OWiG (AG Reutlingen VA 20, 221). Ein Studienaufenthalt in den USA kann das Ausbleiben in der Hauptverhandlung in einem Bußgeldverfahren genügend entschuldigen (OLG Zweibrücken zfs 20, 652).
Belehrung des Betroffenen Wird ein kraftfahrzeugführender Betroffener, bei dem im Rahmen einer polizeilichen Kontrolle angesichts des Antreffens im grenznahen Gebiet zu den Niederlanden und aufgrund stark erweiterter Pupillen ohne Reaktion und starkem Lidflattern der Anfangsverdacht für eine Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 2 StVG besteht, ohne vorangegangene Belehrung zunächst befragt, „ob er etwas genommen hat“, so verstößt dies gegen § 136 Abs. 1 S. 2, § 163a Abs. 4 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG (OLG Hamm DAR 20, 699).
Ob über die Unverwertbarkeit der Angaben des nicht ordnungsgemäß belehrten Betroffenen hinaus ein Beweisverwertungsverbot Fernwirkung bzgl. anderer Beweismittel besteht, ist umstritten. Die Antwort richtet sich nicht nur nach der Sachlage und Art und Schwere des Verstoßes, sondern auch nach der Kausalität der unzulässig erlangten Erkenntnisse für die weiteren Ermittlungen und schließlich die Überführung des Betroffenen (OLG Hamm, a. a. O.).
Beschlussverfahren (§ 72 OWiG) Ein bereits vor dem Hinweis nach § 72 Abs. 1 S. 2 OWiG ausdrücklich oder schlüssig erklärter Widerspruch gegen eine Entscheidung ohne Hauptverhandlung wird nicht dadurch gegenstandslos, dass der Betroffene auf den späteren Hinweis schweigt oder die ausdrückliche Anfrage des Gerichts, ob dem schriftlichen Verfahren widersprochen werde, unbeantwortet lässt (BayObLG 10.11.20, 201 ObOWi 1369/20, Abruf-Nr. 219721).
Beweisverwertungsverbot Zur Aufklärung einer Verkehrsordnungswidrigkeit darf das Einwohnermeldeamt auf Anforderung der Bußgeldstelle ein Pass- oder Personalausweisfoto des vermutlichen Fahrers zum Zwecke der Fahreridentifizierung übersenden (OLG Koblenz 2.10.20, 3 OWi 6 SsBs 258/20, VA 21, 50).
Das AG Landstuhl hat seine Rechtsprechung, wonach Passfotos von einem einer Verkehrsordnungswidrigkeit Verdächtigen zum Abgleich mit dem Messfoto nicht angefordert werden dürfen, bevor der Betroffene erstmals mit dem Vorwurf durch die Bußgeldbehörde konfrontiert wird, fortgesetzt (AG Landstuhl VA 20, 165). |
Einspruch, Beschränkung/Rücknahme Gemäß § 67 Abs. 2 OWiG i. V. m. § 302 Abs. 2 StPO muss der die Beschränkung in der Hauptverhandlung erklärende (unterbevollmächtigte) Rechtsanwalt wirksam zur Beschränkung ermächtigt sein. Das muss das Rechtsbeschwerdegericht auf die Sachrüge von Amts wegen prüfen (BayObLG VA 20, 221). In Bußgeldverfahren kann der Einspruch gegen den Bußgeldbescheid auch telefonisch zurückgenommen werden (AG Dortmund zfs 21, 55).
Einstellung Wird dem Betroffenen durch nicht ausreichende Akteneinsicht die Verteidigung erschwert, kann das Verfahren ggf. nach § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt werden (AG Landstuhl 28.4.20, 2 OWi 4211 Js 13721/19).
Einstellung, Auslagenerstattung Ist ein Ordnungswidrigkeitenverfahren justizseitig in ungewöhnlich großem Ausmaß verzögert und deswegen nach § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt worden, ist es unbillig, den Betroffenen mit seinen notwendigen Auslagen zu belasten. Diese sind vielmehr der Staatskasse aufzuerlegen (§ 46 Abs. 2 OWiG, 467 Abs. 4 StPO) (OLG Hamm 18.12.20, 4 RBs 414/20, Abruf-Nr. 220118).
Die Möglichkeit, nach § 46 OWiG, § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO von einer Erstattung der notwendigen Auslagen abzusehen, besteht nur, wenn zusätzlich zu dem Verfahrenshindernis als alleinigem eine Verurteilung hindernden Umstand weitere besondere Umstände hinzutreten, die es als billig erscheinen lassen, dem Betroffenen die Auslagenerstattung zu versagen (OLG Hamm, a. a. O.). |
Grundlage für ein Absehen von der Erstattung notwendiger Auslagen muss ein hinzutretendes vorwerfbar prozessuales Fehlverhalten des Betroffenen sein. Bei einem in der Sphäre des Gerichtes eingetretenen Verfahrenshindernis wird es hingegen regelmäßig der Billigkeit entsprechen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzubürden (LG Ulm DAR 20, 58).
Elektronisches Gerät Über die Rechtsprechung zum „neuen“ § 23 Abs. 1a StVO haben wir in VA 21, 15 umfassend berichtet. Darüber hinaus ist auf folgende Entscheidungen hinzuweisen:
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Erzwingungshaft Die Anordnung von Erzwingungshaft gemäß § 96 Abs. 1 OWiG ist eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung im Sinne von § 89 Abs. 1 InsO. Sie ist daher nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens unzulässig, soweit sie vor diesem Zeitpunkt fällig gewordene Geldbußen betrifft (LG Stuttgart NZV 20, 542).
Fahren im Verband Konstituierendes Merkmal eines geschlossenen Verbands i. S. d. § 27 Abs. 5 StVO ist, dass es einen für die Einhaltung der Vorschriften einstehenden Führer gibt, der auch die Kennzeichnung der zu dem Verband gehörenden Fahrzeuge bestimmt (KG 2.9.20, 3 Ws (B) 187/20, Abruf-Nr. 219729). Jedenfalls bei Kraftfahrzeugen kann die Kennzeichnung des Verbands nicht lediglich durch eine (einheitliche) „Fahrzeugart“ erfolgen (KG, a. a. O.).
Freie-Bahn-Schaffen Kann der Betroffene wegen der Eigengeräusche seines Fahrzeugs das mit eingeschaltetem Martinshorn herannahende Einsatzfahrzeug nicht wahrnehmen, muss er dieses Defizit ausgleichen, indem er die Verkehrslage besonders aufmerksam beobachtet (§ 38 StVO) (KG VA 20, 126).
Geldbuße, Allgemeines Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen sind bei der Bemessung der Geldbuße gem. § 17 Abs. 3 S. 2 OWiG nur zu berücksichtigen, wenn er ihre Feststellung durch entsprechende Angaben ermöglicht. Der pauschale Hinweis auf den Bezug von Leistungen zur Grundsicherung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch genügt dazu nicht (OLG Bremen 27.10.20, 1 SsBs 43/20, Abruf-Nr. 221435). |
Geldbuße, Nachtatverhalten Positives Nachtatverhalten kann sich auch dann lohnen, wenn dem Betroffenen wegen eines Verkehrsverstoßes „nur“ eine Geldbuße droht (AG Eilenburg VA 20, 183).
Geschwindigkeitsüberschreitung, Allgemeines Über die Rechtsprechung zur Geschwindigkeitsüberschreitung haben wir gerade in den Übersichten VA 21, 53 und 73 berichtet. Darauf wird auch wegen der Rechtsprechung aus 2020 verwiesen.
Zum Beschluss des BVerfG vom 12.11.20 (2 BVR 1616/18, Abruf-Nr. 219741) wird verwiesen auf VA 21, 33 und zur ersten Rechtsprechung der Instanzgerichte auf VA 21, 113, vgl. VA 21, 130. |
Halterhaftung (§ 25a StVG) Gibt der Halter eines Fahrzeugs in der Anhörung wegen eines Parkverstoßes den Namen eines Fahrzeugführers auch ohne weitere persönliche Daten an, sind der Verwaltungsbehörde zumindest einfache Nachforschungen zumutbar, um den Fahrzeugführer zu ermitteln (AG Tübingen 3.4.20, 16 OWi 713/20). Die Ermittlung eines Fahrzeugführers im Ausland nach einem Parkverstoß kann unverhältnismäßig sein (AG Tübingen 27.3.20, 16 OWi 788/20). Benennt der Halter einen Fahrzeugführer mit Wohnsitz im Ausland, ist dies allein noch kein Grund, um von unangemessenem Aufwand auszugehen. Dies ist vielmehr im Einzelfall abzuwägen (AG Tübingen, a. a. O.; zu allem Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn. 2440 ff. m. w. N).
Innerörtliche Probefahrt Ein Betroffener, der ein Fahrzeug mit rotem Kennzeichen zu anderen als in § 16 FZV genannten Zwecken auf öffentlichem Straßenland steuert, führt ein Fahrzeug ohne Zulassung nach § 3 Abs. 1 FZV (KG 17.9.20, 3 Ws (B) 189/20, Abruf-Nr. 219730).
Parken in zweiter Reihe Das Parken am Fahrbahnrand neben einem ausreichend befestigten Parkstreifen oder einer Parkbucht verstößt grundsätzlich gegen § 12 Abs. 4 S. 1 StVO (KG VA 20, 125). Wird der Parkstreifen ‒ etwa durch die Anpflanzung von Straßenbäumen ‒ unterbrochen, darf in diesem Bereich am rechten Fahrbahnrand geparkt werden, sofern nicht hierdurch andere Verkehrsteilnehmer gefährdet oder mehr als unvermeidbar behindert werden und die Unterbrechung des Parkstreifens länger als das abgestellte Fahrzeug ist (KG VA 20, 125). Parkt der Betroffene ‒ wenn auch nur teilweise ‒ neben dem Parkstreifen, kommt es daher nicht mehr darauf an, ob er andere Verkehrsteilnehmer behindert hat (KG VA 20, 125). |
Punktestand Wurde bei der Ermittlung des Punktestands, der einer Fahrerlaubnisentziehung nach dem FABS zugrunde lag, eine durch rechtskräftigen Bußgeldbescheid geahndete Zuwiderhandlung berücksichtigt, so entfallen die Voraussetzungen für diese Berücksichtigung rückwirkend, wenn dem Fahrerlaubnisinhaber Wiedereinsetzung in die Frist für einen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid gewährt wird (OVG Lüneburg NJW 20, 3475).
Rechtsbeschwerde, Begründung Zur ausreichenden Begründung der Verfahrensrüge, mit der geltend gemacht wird, dem Betroffenen sei nicht das letzte Wort gewährt worden (§ 258 StPO), ist es erforderlich, den tatsächlichen Ablauf der Hauptverhandlung wiederzugeben sowie den für die Beurteilung der Beachtung des § 258 StPO maßgeblichen Inhalt des Hauptverhandlungsprotokolls. Darüber hinaus ist auch mitzuteilen, was der Betroffene im Falle der Gewährung des letzten Wortes vorgebracht hätte (OLG Frankfurt a. M. 8.9.20, 2 Ss-OWi 817/20, Abruf-Nr. 218607). |
Weiterführender Hinweis
- Diese Rechtsprechungsübersicht wird in der folgenden Ausgabe fortgeführt.