· Fachbeitrag · Abkommensrecht
Auslegungsregeln für DBA
von RA StB FA StR Julian Ott, Fachberater IStR, Berlin
| Art. 3 Abs. 2 OECD-MA ist eine Auslegungsregel mit Verweis auf das nationale Recht für die Abkommensinterpretation. Der Verweis ins nationale Recht wird häufig als Begründung herangezogen, um die Tür zur Beurteilung eines Sachverhalts nach Maßstäben des innerstaatlichen Rechts aufzustoßen. Das führt nicht unbedingt zum sachlich richtigen Ergebnis. Der Beitrag liefert eine Checkliste zur Auslegung unter Berücksichtigung der aktuellen BFH-Rechtsprechung. Das abschließende Beispiel verdeutlicht die Vorgehensweise in der Praxis. |
1. Auslegungsgrundsätze
Art. 3 Abs. 2 OECD-MA eröffnet die Möglichkeit, einem im Abkommen nicht definierten Ausdruck die Bedeutung beizumessen, die ihm im aktuellen nationalen Steuerrecht zukommt, wenn der Zusammenhang nichts anderes erfordert. Wenn die Auslegungsregel in ein gültiges DBA übernommen wurde, ist sie selbst als Bestandteil des DBA eine Rechtsnorm. Um ihre Bedeutung zu erfassen, ist die Auslegungsregel selbst auszulegen und zwar anhand der für die Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen gültigen Regeln.
1.1 Nationale Auslegungsregeln
Hierfür kann nicht die Auslegungsregel des Art. 3 (2) OECD-MA herangezogen werden, denn dies würde zum Zirkelschluss führen. Es wird damit nicht in die Systematik der nationalen, deutschen Auslegungsregeln verwiesen. Die Wortlaut-, teleologische, systematische und historische Auslegung nach den Maßstäben deutschen Rechts ist nicht unmittelbar eröffnet, die Elemente finden sich aber in den anzuwendenden Regeln wieder ‒ wenn auch mit modifizierter Gewichtung.
1.2 WÜRV
Für die Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen, so auch der DBA, sind Regeln in der Wiener Vertragsrechtskonvention (Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.5.69 [WÜRV]) festgelegt. Diese Konvention hat die rechtliche Qualität eines durch Zustimmungsgesetz in deutsches Recht umgesetzten völkerrechtlichen Vertrags sowie des Völkergewohnheitsrechts. Die Auslegungsregeln finden sich in den Art. 31 und Art. 32 WÜRV.
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„Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.“ |
Die Auslegung nach dem Wortlaut ist indirekt in der Konvention verankert, denn Art. 31 Abs. 2 WÜRV belegt, dass der in Absatz 1 enthaltene „Zusammenhang“ auch den „Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen“ umfasst.
Auch Art. 31 Abs. 4 WÜRV kann für die Relevanz der Wortlautinterpretation herangezogen werden. Hiernach soll „Ausdrücken“ eine besondere Bedeutung zukommen, wenn dies sicher die Absicht der Vertragsparteien war. Die Rechtsentwicklung ist in der Konvention als ergänzendes Auslegungsmittel angeführt, die erst subsidiär heranzuziehen ist. Allerdings fließt sie wegen der Ausgestaltung des Art. 31 Abs. 4 WÜRV mit Gewicht ein, wenn es um die sichere Feststellung der Absicht der Vertragsparteien bei der Auslegung von Ausdrücken im Rahmen der Wortlautinterpretation geht.
Aus der systematischen Interpretation der WÜRV ergibt sich ein qualitativer Vorrang der teleologischen und systematischen Auslegungsmethoden. Diese werden ergänzt durch die Wortlautauslegung, sodann wird subsidiär auf die historische Auslegung zurückgegriffen.
MERKE | Prominentes Auslegungskriterium des WÜRV ist die teleologische Auslegung: Sinn und Zweck eines jeden DBA ist ohne Zweifel die Vermeidung der Doppelbesteuerung. Hierauf sollte bei Auslegungsfragen hingewiesen werden. Umgekehrt ist einer Norm des DBA nicht ohne Weiteres zu entnehmen, dass ihr Sinn und Zweck gerade darin besteht, die doppelte Nichtbesteuerung zu vermeiden. Weiße Einkünfte werden häufig nicht schon auf der Auslegungsebene des DBA ausgeschlossen sein. Andernfalls bedürfte es der Vielzahl von Treaty-Overrides im nationalen Recht nicht. |
2. Auslegung durch den BFH
Der BFH hat sich bisher nicht ausdrücklich mit der Auslegung des Art. 3 Abs. 2 OECD befasst. Er bestätigt aber die Anwendung des WÜRV bei der Auslegung von DBA.
2.1 Anwendung des WÜRV
Der BFH wendet die Auslegungsregeln des WÜRV in einer Entscheidung zu einer zwischenstaatlichen Konsultationsvereinbarung für die Auslegung von DBA ausdrücklich an (BFH 10.6.15, I R 79/13, BStBl II 16, 326). Er berücksichtigt die zwischenstaatliche Konsultationsvereinbarung als spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags i. S. d. Art. 31 Abs. 3 WÜRV als ein Kriterium der systematischen Auslegung nach Art. 31 Abs. 2 WÜRV, die aber auch eine teleologische Komponente für das Verständnis des Zwecks der Vorschrift beinhaltet.
Beachten Sie | Diese Auslegung legt die Argumentation nahe, eine im Zeitverlauf veränderte Kommentierung des OECD-MA könnte als spätere Übereinkunft i. S. d. Art. 31 Abs. 3 WÜRV bei der Auslegung zu berücksichtigen sein. Sie wird aber das vom BFH regelmäßig angewandte statische Abkommensverständnis deswegen nicht durchbrechen können, weil es sich beim OECD-MA regelmäßig nicht um eine spätere Übereinkunft (nur) der Vertragsparteien des jeweiligen DBA handelt.
2.2 Gewichtung durch BFH
Der BFH legt jedoch eine andere Gewichtung der Auslegungskriterien fest, indem er die Auslegungsgrenze des Abkommenswortlauts als absoluten Pflock einschlägt. Nach Ansicht des BFH kann die „Grenzmarke“ für das richtige Abkommensverständnis immer nur der Abkommenswortlaut sein. Damit postuliert der BFH einen Vorrang eines Teilaspekts der grammatischen Auslegung: Die Auslegung endet dort, wo das Ergebnis der Auslegung (nach Maßgabe der anderen Kriterien) vom Abkommenswortlaut nicht mehr gedeckt ist.
3. Auslegung des Art. 3 Abs. 2 OECD-MA
Der Verweis ins nationale Recht erfolgt laut Art. 3 Abs. 2 OECD-MA, „wenn der Zusammenhang nichts anderes erfordert“, für jeden im Abkommen nicht definierten Ausdruck.
3.1 Wortlaut
Die Wortlautauslegung kann dahin gehend interpretiert werden, dass sie für den Fall einer fehlenden ausdrücklichen Definition einen allgemeinen Verweis ins nationale Recht beinhaltet. Eine solche Auslegung könnte man als Maßgeblichkeit nationalen Rechts bei Definitionsfreiheit im Abkommen verstehen.
MERKE | Die Frage, ob eine Definition vorliegt, bezieht sich auf das Tatbestandsmerkmal des DBA, unter welches der Sachverhalt subsumiert werden soll: Das Tatbestandsmerkmal „Künstler“ ist in Art. 17 OECD-MA definiert. Dass der zu subsumierende Begriff ‒ z. B. des Kostümbildners ‒ nicht im Abkommen definiert ist, eröffnet nicht den Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 2 OECD-MA. |
3.2 Systematische Auslegung
Nach den Auslegungsregeln des Art. 31 Abs. 1 WÜRV sind jedoch systematische und teleologische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Systematisch sprechen die Einzelverweise im OECD-MA (z. B. Art. 10 Abs. 2 OECD-MA) klar gegen eine Interpretation als allgemeiner Verweis ins nationale Recht. Diese wären überflüssig, wenn die Verweisfunktion bereits durch Art. 3 Abs. 2 OECD-MA sichergestellt wäre. Ein allgemeiner Verweis ins nationale Recht wäre für das Ziel des DBA, die Vermeidung einer Doppelbesteuerung, nicht zuträglich, weil er Qualifikationskonflikte begünstigt.
3.3 BFH
Der BFH nimmt im Urteil vom 2.9.09 (I R 90/08, DB 09, 2414) Bezug auf den Grundsatz der Entscheidungsharmonie bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge. Hiernach ist diejenige Auslegung zu bevorzugen, welche die höchste Wahrscheinlichkeit hat, in beiden Vertragsstaaten anerkannt zu werden. Diesem Grundsatz widerspräche das Verständnis als allgemeiner Verweis ins nationale Recht. Dieser hätte für beide Vertragsstaaten Geltung und würde konsequenterweise zu widersprüchlichen Interpretationen und damit zur Doppelbesteuerung führen, zu deren Vermeidung das DBA gerade dienen soll.
Es ist also im Sinne der abkommensautonomen Auslegung, zunächst eine Auslegung des Abkommens nach Maßgabe der Auslegungskriterien des WÜRV vorzunehmen. Erst wenn diese Auslegung zu keinem Ergebnis führt, was nur selten der Fall sein wird, ist aufgrund der Auffangregelung des Art. 3 Abs. 2 OECD-MA eine Auslegung nach nationalem Recht zulässig.
3.4 Praktische Vorgehensweise
Unter Berücksichtigung der BFH-Rechtsprechung sollte praktisch bei der Auslegung wie folgt vorgegangen werden:
Checkliste / Für die Auslegung |
4. Nationales Recht des anderen Staates
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4. Beispiel
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Ein in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtiger Rentner hat sein aktives Berufsleben als angestellter Lehrer an einer staatlichen Schule in der Schweiz verbracht und ist nach seiner Pensionierung nach Deutschland zurückgekehrt. Er bezieht im Jahr 2017 eine monatliche Versorgungsleistung aus einer Schweizer Pensionskasse, der St. Galler Lehrerversicherungskasse. Während seiner aktiven Zeit hat er hierfür neben seinem staatlichen Arbeitgeber Beitragsleistungen aus seinem Gehalt erbracht. Die Leistung der Pensionskasse ist der zweiten Säule der schweizerischen Altersvorsorge zuzuordnen. Die Schweiz erhebt bei Auszahlung der Pension eine Quellensteuer von 10 % der Bruttopension. |
4.1 Wortlautauslegung des Begriffs „Ruhegehalt“
Die Versorgungsleistung könnte nach Art. 19 Abs. 1 DBA-Schweiz 1971/1992 dem Kassenstaatsprinzip unterfallen und in Deutschland unter Progressionsvorbehalt freigestellt sein. Dann müsste es sich bei der Versorgungsleistung der Pensionskasse um ein Ruhegehalt i. S. d. Art. 19 Abs. 1 S. 1 DBA-Schweiz handeln. Der Begriff des Ruhegehalts ist abkommensautonom auszulegen. Eine Auslegung anhand nationaler Vorschriften scheidet aus (BFH 8.12.10, I R 92/09, BStBl II 11, 488). Zwar enthält auch das DBA-Schweiz mit Art. 3 Abs. 2 eine Regelung i. S. d. OECD-MA, aber der Zusammenhang erfordert den Verweis ins nationale Recht nicht. Vielmehr ist eine Auslegung nach Maßstäben des Abkommens möglich.
Nach dem DBA sind Ruhegehälter Vergütungen, die von dem Arbeitgeber oder aus einem Sondervermögen „für erbrachte Dienste“ gewährt werden. Die vom BFH vorgenommene Auslegung des Abkommenswortlauts stellt auf den finalen Charakter des Begriffs „für erbrachte Dienste“ ab und sieht diese Tatbestandsvoraussetzung dann nicht als gegeben an, wenn die Versorgungsleistungen wirtschaftlich vom Arbeitnehmer selbst durch Beitragszahlungen (mit-)veranlasst worden sind. Damit scheidet nach dem Kriterium der Wortlautauslegung des Art. 19 DBA-Schweiz eine Anwendung des Kassenstaatsprinzips auf die vom Berechtigten mitfinanzierte Versorgungsleistung aus der Pensionskasse aus. Im Ergebnis führt dies zur Doppelbesteuerung, die der BFH in Kauf nimmt. Eine Anrechnung der aus deutscher Sicht abkommenswidrig ‒ unter Verstoß gegen Art. 21 DBA-Schweiz ‒ erhobenen Quellensteuer scheitert nach Art. 24 Abs. 1 Nr. 2 DBA-Schweiz und nach § 34c Abs. 6 S. 1 EStG.
4.2 Systematische Auslegung/Konsultationsvereinbarung
Der nicht sachgerecht lösbare Qualifikationskonflikt hat zu einer Konsultationsvereinbarung zwischen den Vertragsstaaten geführt (BMF 4.1.17, IV B 2 - S 1301-CHE/07/10019-04), die zur Beilegung des Qualifikationskonflikts bis zur Anwendung einer angestrebten Änderung des DBA geschlossen wurde. „Danach gelten Vergütungen, einschließlich wiederkehrende oder einmalige Zahlungen von Vorsorgeeinrichtungen der zweiten Säule der schweizerischen Altersvorsorge an aktive oder ehemals Bedienstete im Schweizer öffentlichen Dienst als aus einem ‚Sondervermögen‘ nach Artikel 19 Absatz 1 des DBA gewährt.“
Die Konsultationsvereinbarung ist als spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags i. S. d. Art. 31 Abs. 3 WÜRV als ein Kriterium der systematischen Auslegung nach Art. 31 Abs. 2 WÜRV zu berücksichtigen, denn sie widerspricht nicht der absoluten Wortlautgrenze des BFH. Das in der Konsultationsvereinbarung gefundene Abkommensverständnis ist durch den Wortlaut des Abkommens gedeckt, denn der Abkommensbegriff „Vergütungen für erbrachte Dienste“ erlaubt ein Wortlautverständnis auch dahin gehend, dass auch die aus dem Gehalt einbehaltenen Beiträge zur Pensionskasse als Vergütung des Arbeitgebers für erbrachte Dienste anzusehen sind. Die Wortlautauslegung deckt somit beide Interpretationen. Nachdem die Konsultationsvereinbarung eine spezielle Auslegungsregel beinhaltet und den Willen der Vertragsstaaten ausdrücklich festlegt, ist der systematischen Auslegung der Vorrang einzuräumen. Im Ergebnis unterfällt danach die Versorgungsleistung dem Kassenstaatsprinzip und das ausschließliche Besteuerungsrecht liegt gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 1 DBA-Schweiz bei der Schweiz.
Zum Autor | Der Autor ist als Geschäftsführer der Klier & Ott GmbH Steuerberatungsgesellschaft Rechtsanwaltsgesellschaft in Berlin tätig.