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· Fachbeitrag · Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen

Wann der Arbeitgeber keine Hinweispflicht auf drohenden Urlaubsverfall hat

von Ass. jur. Petra Wronewitz

| Der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer nicht auf Zusatzurlaub nach dem Schwerbehindertenrecht hinweisen, wenn er keine Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers hat, urteilte das LAG Rheinland-Pfalz. |

Sachverhalt

Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger aus den Jahren 2017 und 2018 zusätzlicher Urlaub für schwerbehinderte Menschen von insgesamt sieben Tagen zusteht.

 

Mit Bescheid vom März 2019 wurde die Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers mit einem Grad der Behinderung von 50 rückwirkend ab August 2017 festgestellt. Diesen Bescheid legte der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber noch im März 2019 vor. Bisher war dem Arbeitgeber die Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers nicht bekannt. Anfang April 2019 verlangte der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber die Gewährung des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen und stellte einen entsprechenden Urlaubsantrag. Daraufhin teilte ihm der Arbeitgeber schriftlich mit, dass sein zusätzlicher Urlaub für schwerbehinderte Menschen für die Jahre 2017 und 2018 verfallen sei.

 

Der Arbeitnehmer klagte daraufhin auf Feststellung, dass dieser zusätzliche Urlaub, der sich insgesamt auf sieben Tage für die Jahre 2017 und 2018 belief, nicht verfallen sei. Das Arbeitsgericht Trier gab ihm recht (23.1.20, 3 Ca 697/19). Der Arbeitgeber griff das Urteil jedoch mit einer Berufung an. Die Berufungsinstanz (LAG Rheinland-Pfalz 22.4.21, 2 Sa 59/20, Abruf-Nr. 224555) konnte seine Argumente nachvollziehen und hielt die Urlaubsansprüche des Arbeitnehmers für die Jahre 2017/2018 nach § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG mit Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres für verfallen.

Entscheidungsgründe

Nach § 208 Abs. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr.

 

Bei rückwirkender Feststellung ‒ wie in diesem Fall ‒ finden nach § 208 Abs. 3 SGB IX auch für die Übertragung des Zusatzurlaubs in das nächste Kalenderjahr die dem Beschäftigungsverhältnis zugrunde liegenden urlaubsrechtlichen Regelungen Anwendung. Danach verfällt nicht genommener Zusatzurlaub auch im Falle der rückwirkenden Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft mit Ende des jeweiligen Urlaubsjahres, wenn er nicht nach den für das Beschäftigungsverhältnis geltenden Regelungen übertragen wurde. Mit dieser Regelung möchte der Gesetzgeber eine Kumulation von Ansprüchen auf Zusatzurlaub aus vorangegangenen Urlaubsjahren ausschließen.

 

Beachten Sie | Ein Übertragungstatbestand i. S. v. § 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG liegt nicht vor, weil die Ungewissheit über das Bestehen der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch kein in der Person des Arbeitnehmers liegender Übertragungsgrund ist.

 

Nach der neueren Rechtsprechung des BAG erlischt der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub (§ 1, § 3 Abs. 1 BUrlG) bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG allerdings nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 S. 2 und S. 4 BUrlG), wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer schriftlich darauf hingewiesen haben muss, dass sein Urlaubsanspruch droht zu verfallen. Auf den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen nach § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX sind die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs anzuwenden.

 

Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen und Mindesturlaub: Es gelten die gleichen Regeln

Der Zusatzurlaubsanspruch für Schwerbehinderte nach § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist genauso zu behandeln wie der gesetzliche Mindesturlaub, es sei denn, tarifliche oder einzelvertragliche Bestimmungen sehen für den Arbeitnehmer günstigere Bestimmungen vor.

 

MERKE | Hätte der Arbeitgeber also Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers gehabt, hätte er ihn auf den Verfall des Urlaubs aufmerksam machen müssen.

 

In diesem Fall ist es aber unstreitig, dass der Arbeitgeber erst im März 2019 von der Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers erfahren hat. Solange der Arbeitgeber nicht weiß, dass der Arbeitnehmer schwerbehindert ist, besteht für ihn keine Verpflichtung, den Arbeitnehmer vorsorglich auf einen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen hinzuweisen und diesen möglicherweise vorsorglich zu gewähren.

 

Soweit der Arbeitnehmer demgegenüber darauf verwiesen hat, dass er seinerseits aufgrund der noch nicht erfolgten Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft in den Jahren 2017 und 2018 den entsprechenden Zusatzurlaub nicht habe nehmen können, hat der Gesetzgeber dieses besondere Risiko nach § 208 Abs. 3 SGB IX dem Arbeitnehmer zugewiesen. Demgemäß können die „Verfallsregeln“ des BUrlG entgegen der Auffassung des Arbeitnehmers auch nicht teleologisch dahingehend reduziert werden, dass sie nachträglich entstandene Zusatzurlaubsansprüche nicht umfassen.

 

MERKE | Vielmehr hat der Gesetzgeber durch die Regelung des § 208 Abs. 3 SGB IX klargestellt, dass die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderung nicht zur Folge haben soll, dass dem Arbeitnehmer in größerem Umfang aufgestaute Urlaubsansprüche zufallen sollen.

 

 

Der Anspruch ist auch nicht aufgrund von betrieblicher Übung entstanden

Der Zusatzurlaub aus den Jahren 2017 und 2018 ist auch nicht aufgrund einer vertraglichen Regelung bzw. betrieblichen Übung übertragen worden.

 

Sehr einleuchtend und lesenswert argumentiert das LAG Rheinland-Pfalz, dass der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers nicht aufgrund von betrieblicher Übung entstanden ist. Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden.

 

PRAXISTIPP | Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer betrieblichen Übung zur Übertragung von Urlaub über die in § 7 Abs. 3 BUrlG genannten Fristen hinaus bzw. zur unbegrenzten Mitnahme von Urlaubsansprüchen auch nach Ablauf der gesetzlichen Verfallsfristen trägt der Arbeitnehmer als Anspruchsteller. Der Arbeitnehmer muss vortragen, in welchem Zeitraum der Arbeitgeber welchen Arbeitnehmern Urlaub in welchem Umfang aus welchem Zeitraum außerhalb des gesetzlichen Fristenregimes gewährt hat. Das Erfordernis einer solchen Konkretisierung ergibt sich auch daraus, dass eine betriebliche Übung als Anspruchsgrundlage nur in Betracht kommt, wenn auf die gewährte Leistung kein einzelvertraglicher oder kollektivrechtlicher Anspruch besteht. Das Vorbringen muss daher den Arbeitgeber in die Lage versetzen, mögliche Ausschlusstatbestände vorzutragen.

 

Nach diesen Grundsätzen lässt sich auf der Grundlage des Vortrags des darlegungs- und beweisbelasteten Klägers das Vorliegen der von ihm behaupteten betrieblichen Übung zur unbegrenzten „Mitnahme“ von Urlaubsansprüchen nicht feststellen.

 

Zwar benennt der Arbeitnehmer vier Kollegen mit Namen, aber die vier Arbeitnehmer, bei denen der Urlaub übertragen wurde, müssen in Verhältnis zur gesamten Belegschaft des Unternehmens gesetzt werden. In den Jahren 2015 bis 2019 arbeiteten durchschnittlich mehr als 65 Mitarbeiter für das Unternehmen. Zur Begründung einer betrieblichen Übung reichen die vier geschilderten Fälle nicht aus.

Relevanz für die Praxis

Arbeitgeber müssen mitwirken, damit der Urlaub des Arbeitnehmers nicht verfällt. Bisher genügte es, wenn Arbeitgeber die entsprechenden Mitarbeiter etwa mit einem solchen Text darauf hingewiesen haben:

 

Musterformulierung / 

Sehr geehrte Frau/Herr …,

 

im laufenden Kalenderjahr haben Sie noch … Tage Resturlaub.

Hiermit fordere ich Sie auf, Ihren Resturlaub bis zum 31.12. dieses Jahres zu nehmen. Ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, dass Ihr Urlaubsanspruch mit Ablauf des 31.12. verfallen wird, wenn Sie ihn nicht nehmen.

 

Konnten Sie Urlaub aus dringenden betrieblichen oder in Ihrer Person liegenden Gründen nicht nehmen, verfällt der Urlaubsanspruch insoweit mit Ablauf des 31.03. des Folgejahres.

 

Unterschrift Arbeitgeber

 

Beachten Sie | Das LAG Rheinland-Pfalz hat entschieden, dass diese Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers sich nicht auf den Zusatzurlaub für Schwerbehinderte erstreckt, wenn dem Arbeitgeber die Schwerbehinderteneigenschaft des Mitarbeiters gar nicht bekannt war.

 

PRAXISTIPP | Derzeit ist der Rechtsstreit beim BAG anhängig. Erst wenn das BAG entschieden hat, steht fest, ob noch ein vorsorglicher Hinweis in das Schreiben an die Mitarbeiter mitaufgenommen werden sollte, der auf § 208 SGB IX verweist.

 
Quelle: Ausgabe 11 / 2021 | Seite 188 | ID 47728238