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· Fachbeitrag · Verkehrsrecht

Alleinhaftung eines 80-jährigen Pedelec-Fahrers für Unfall nach verkehrswidriger Schrägfahrt

von RA Detlev Burhoff, RiOLG a. D., Münster/Augsburg

| Verursacht ein 80-jähriger Pedelec-Fahrer einen Zusammenstoß mit einem Pkw, weil er mit seinem Pedelec verkehrswidrig von einem Geh- und Radweg schräg auf die Fahrbahn fährt, um nach links abzubiegen, kann er für den Verkehrsunfall allein haften. Das ist das Fazit eines Urteils des OLG Hamm, das nach einem entsprechenden Hinweisbeschluss ergangen ist. Das OLG bestätigt damit die erstinstanzliche Entscheidung des LG Essen. |

 

Sachverhalt

Der zum Unfallzeitpunkt 80-jährige Kläger befuhr mit seinem Pedelec einen rechts von der Fahrbahn einer Straße durch eine durchgehende Linie abgetrennten Geh- und Radweg. An der Kreuzung mit einer von rechts einmündenden Straße beabsichtigte er nach links abzubiegen, um eine sich einer Häuserzufahrt anschließende, dem Verlauf eines Kanals folgende Zuwegung zu erreichen. Zu diesem Zweck fuhr er über die durchgezogene Linie in Richtung Fahrbahnmitte. Auf der Fahrbahn kam es zum Zusammenstoß mit dem Pkw der Beklagten. Der Pkw berührte mit der rechten Ecke des vorderen Stoßfängers das Hinterrad des Pedelec und brachte dieses zu Fall.

 

Der Kläger stürzte und erlitt Prellungen sowie Frakturen im Bereich seines Beckens. Er hat 20.000 EUR Schmerzensgeld und 500 EUR materiellen Schadenersatz, u. a. für das beschädigte Pedelec, verlangt.

 

  • 1. Bei Verlassen des durch eine durchgehend weiße Linie von der Fahrbahn abgeteilten Radweges in Richtung Fahrbahn sind die erhöhten Sorgfaltspflichten des § 10 S. 1 StVO zu beachten.
  • 2. Das Überqueren dieser Linie entgegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO unter Missachtung der sich aus § 10 S. 1 StVO ergebenden Sorgfaltspflichten, um unmittelbar anschließend unter Missachtung der weiteren sich auf § 9 Abs. 1 und 4 StVO ergebenden Pflichten zwecks Linksabbiegens zur Straßenmitte zu lenken, rechtfertigt die Alleinhaftung des Radfahrers im Falle der Kollision mit dem nachfolgenden Verkehr.
 

Entscheidungsgründe

Das OLG ist von einem erheblichen Eigenverschulden des Klägers an dem Zustandekommen des Unfalls ausgegangen (§§ 7, 17 StVG, 254 BGB). Deshalb haftet die Beklagte - auch unter dem Gesichtspunkt der von ihrem Pkw ausgehenden Betriebsgefahr - nicht. Der Kläger hat die im Straßenverkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und gegen die sich aus den §§ 9, 10 StVO ergebenden Pflichten verstoßen. Er hat versucht, ohne die gebotene Rückschau gleichsam blindlinks von dem rechts neben der Fahrbahn verlaufenden Radweg über die gesamte Breite der Straße hinweg in die gegenüberliegende Zufahrt einzubiegen.

 

Um sich verkehrsgerecht zu verhalten, hätte der Kläger bis zum Einmündungsbereich der von rechts einmündenden Straße fahren müssen. Dort hätte er die von ihm befahrene Straße im rechten Winkel überqueren müssen, sein Pedelec schiebend oder wie ein aus der Straße von rechts einmündenden Straße kommender Verkehrsteilnehmer fahrend.

 

Bei dem Fahrmanöver hat der Kläger seine Absicht abzubiegen weder rechtzeitig angekündigt noch auf den hinter seinem Rücken herannahenden Verkehr geachtet. Die vom Kläger unvermittelt eingeleitete Schrägfahrt hat dazu geführt, dass das Pedelec auf der Straße in Sekundenbruchteilen ein breites, gefährliches Hindernis gebildet hat. Gegenüber diesem groben Fehlverhalten des Klägers tritt die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs - ein Verschulden der Beklagten am Zusammenstoß ist nicht bewiesen - zurück.

 

Relevanz für die Praxis

Das OLG weist darauf hin, dass der Beklagten nicht vorgeworfen werden könne, sich nicht auf das erkennbar höhere Alter des Klägers eingestellt zu haben. Zwar habe sich ein Fahrzeugführer durch vermindern der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft so zu verhalten, dass Kinder, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen nicht gefährdet werden (§§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 2a StVO). Dabei erfordere allerdings nicht jeder im Blickfeld eines Kraftfahrers erscheinende Verkehrsteilnehmer aus diesem Personenkreis sofort die eigene Geschwindigkeit herabzusetzen.

 

Eine solche Reaktion sei erst dann geboten, wenn das Verhalten der Person oder die Situation, in der sie sich befinde, Auffälligkeiten zeige, die zu einer Gefährdung führen könnten. Hiervon habe die Beklagte vor dem Unfall nicht ausgehen müssen. Als sie sich dem auf einem abgeteilten und ausreichend breiten Radweg fahrenden Kläger näherte, habe sie nicht allein aufgrund des höheren Alters des Klägers damit rechnen müssen, dass er die konkrete Verkehrssituation nicht gefahrlos habe beherrschen können.

 

Dieser Hinweis ist m. E. angesichts des massiven Fehlverhaltens des Klägers zutreffend. Befindet sich eine ältere Person in einer Lage, in der für sie nach der Lebenserfahrung aber keine Gefährdung zu erwarten ist, so muss ein Kraftfahrer nicht allein schon wegen ihres höheren Alters ein Höchstmaß an Sorgfalt einhalten (BGH NJW 94, 2829). Nicht jede im Blickfeld eines Kraftfahrers erscheinende Person der in § 3 Abs. 2a StVO genannten Gruppen erfordert in jedem Fall sofort die Fahrgeschwindigkeit herabzusetzen. Dies ist erst der Fall, wenn voraussehbar ist, dass Gefahr für ein verkehrswidriges Verhalten besteht (König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 3 StVO Rn. 29b).

 

Weiterführender Hinweis

  • Zu Entziehung der Fahrerlaubnis bei Nichtvorlage eines Gutachtens, SR 15, 152
Quelle: Ausgabe 04 / 2016 | Seite 62 | ID 43960973