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  • 09.10.2013

    Finanzgericht Niedersachsen: Urteil vom 16.05.2013 – 10 K 233/10

    - Einer polnische Staatsangehörige, die 2007 vom 10.4. bis 10.6. und 2.7. bis 31.8. sozialversicherungspflichtig bei einer
    Gartenbau KG in Deutschland beschäftigt war, steht kein Kindergeld zu, wenn sie im Inland weder einen Wohnsitz oder noch einen
    gewöhnlichen Aufenthalt hatte.




    - Das gilt auch im Hinblick auf § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG, denn die Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig
    erfolgt nur, soweit inländische Einkünfte i. S. des § 49 EStG erzielt werden.




    - Daraus folgt, dass in Polen lebende Kindergeldberechtigte Kindergeld nur für den Zeitraum erhalten, in dem sie inländische
    Einkünfte erzielt haben.


    Tatbestand

    Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der in Polen lebenden Klägerin Kindergeld auch für Zeiträume zusteht, in denen sie
    nicht in Deutschland gearbeitet hat.



    Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige. Sie lebt mit ihrem Ehemann und den



    gemeinsamen Kindern N (geb. am 7. Oktober 2000) und P



    (geb. 21. November 2002) in Polen. Im Streitjahr 2007 war die Klägerin vom 10. April bis 10. Juni und vom 2. Juli bis 31.
    August sozialversicherungspflichtig bei der K Gartenbau in Deutschland beschäftigt. Für diese Tätigkeit erhielt sie Arbeitslohn
    von insgesamt 5.522 €. Dieser wurde jeweils am Ende des Monats bzw. am Ende des Beschäftigungszeitraums in bar ausgezahlt.
    Weitere inländische Einkünfte erzielte die Klägerin im Jahr 2007 nicht. Die Klägerin wurde auf ihren Antrag hin vom zuständigen
    Finanzamt L als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig nach § 1 Abs. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) behandelt. Für ihre beiden
    Kinder erhielt die Klägerin in Polen Familienleistungen.



    Mit Bescheid vom 14. Januar 2010 setzte die beklagte Familienkasse gegenüber der



    Klägerin Kindergeld für die Monate April 2007 bis einschließlich August 2007 in Höhe der Differenz zwischen dem deutschen
    Kindergeld und den polnischen Familienleistungen fest. Wegen der Berechnung wird auf die Anlage zum Bescheid (Blatt 40 Kindergeldakte)
    Bezug genommen. Für die übrigen Monate des Jahres 2007 gewährte die Beklagte kein Kindergeld.



    Hiergegen wendet sich die Klägerin nach erfolglosen Einspruchsverfahren mit der



    vorliegenden Klage. Sie ist der Ansicht, dass ihr für das gesamte Jahr 2007 Kindergeld zustehe, da sie einkommensteuerrechtlich
    für das gesamte Jahr nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt worden sei. Eine Versagung ihres




    Kindergeldanspruchs stelle eine nicht gerechtfertigte Diskriminierung von Wanderarbeitern gegenüber sog. Grenzpendlern da,
    die ohne einen Wohnsitz in Inland ihre Einkünfte im Inland erzielten und für das gesamte Jahr einen Kindergeldanspruch hätten.
    Wegen der Einzelheiten des Vorbringens, insbesondere auch der europarechtlichen Argumentation sowie der Auseinandersetzung
    mit Literatur und Rechtsprechung wird auf den Schriftsatz der Klägerin vom 13. Mai 2013 Bezug genommen.



    Die Klägerin beantragt,



    unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 14. Januar 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28. Juni 2010 die
    Beklagte zu verpflichten, gegenüber der Klägerin Kindergeld für deren Kinder in Höhe von 2.156 € festzusetzen und zu gewähren;



    hilfsweise,



    das Verfahren im Hinblick auf eine Anrufung des EuGH durch den 3. Senat des BFH (C - 4/13) sowie der beim BFH anhängigen Revisionsverfahren
    III R 10/12 und XI R 39/10 auszusetzen bzw. ruhen zu lassen;



    weiterhin hilfsweise,



    dem EUGH folgende Frage im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens vorzulegen:



    Ist das EU-Primärrecht (hier insbesondere die Artikel 3 und 45 des



    Vertrages über die Europäische Union (AEUV) sowie das



    EU-Sekundärrecht (hier insbesondere die VO 1408/71 bzw. 883/2004)



    jeweils in ihren aktuellen Fassungen dahin auszulegen das sie einer



    Entscheidung des Mitgliedstaates entgegenstehen, wonach einem Angehörigen eines Mitgliedstaates, der sich zur Ausübung einer
    Beschäftigung in diesem Mitgliedstaat dort aufhält und tätig ist (sog. Wanderarbeitnehmer) und der als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig
    im gesamten Kalenderjahr veranlagt wurde, Familienleistungen i.S.d. VO 1408/71 bzw. 883/2004 lediglich für den Zeitraum der
    Ausübung der Beschäftigung in diesem Mitgliedstaat gewährt wird, wenn nach der Entscheidung des Mitgliedstaates jedoch einem
    Angehörigen eines Mitgliedstaates, der sich lediglich als sog. Grenzpendler innerhalb seiner täglichen Arbeitszeit in diesem
    Mitgliedstaat aufhält und als unbeschränkt einkommenssteuerpflichtig im gesamten Kalenderjahr veranlagt wurde, die Familienleistungen
    für das gesamte Kalenderjahr gewährt werden?



    Die Beklagte beantragt,



    die Klage abzuweisen.



    Sie ist der Ansicht, dass Kindergeld nur für den Zeitraum zu gewähren sei, in dem die Klägerin in Deutschland sozialversicherungspflichtig
    beschäftigt war. Einem Ruhen des Verfahrens stimmt die Beklagte nicht zu.



    Gründe

    I. Nachdem die Bundesagentur für Arbeit ihre Familienkassen zum 1. Mai 2013 neu



    geordnet hat, war das Rubrum entsprechend anzupassen, da insoweit aufgrund dieses Organisationsaktes ein Beklagtenwechsel
    stattgefunden hat (vgl. BFH-Urteil vom 1. August 1979 VII R 115/76, BStBl II 1979, 714).



    II. Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Kindergeld für die Monate Januar bis März 2007 sowie September
    bis Dezember 2007.



    1. Der Klägerin steht nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG für die streitigen Monate Januar bis März 2007 und September bis Dezember
    2007 kein Anspruch auf Kindergeld zu; denn nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG hat Anspruch auf Kindergeld für Kinder i. S. d. § 63
    EStG, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht.
    Anhaltspunkte für einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin in diesem Zeitraum im Inland sind weder von der
    Klägerin vorgetragen noch aus den Akten ersichtlich.



    2. Für die streitigen Monate Januar bis März 2007 und September bis Dezember 2007 steht der Klägerin auch kein Anspruch nach
    § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG zu. Nach dieser Norm hat Anspruch auf Kindergeld, wer ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt
    im Inland nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird. Die Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig
    erfolgt jedoch nur, soweit inländische Einkünfte i.S.d. § 49 EStG erzielt werden. Dementsprechend liegt eine Behandlung nach
    § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig bei der Anwendung des § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG nur für diejenigen
    Kalendermonate vor, in denen der Kindergeldberechtigte Einkünfte i.S.d. § 49 EStG erzielt, die nach § 1 Abs. 3 EStG der Einkommensteuer
    unterliegen (vgl. BFH-Urteil vom 24. Oktober 2012 V R 43/11, BFH/NV 2013, 448).



    Vorliegend hat die Klägerin im Jahr 2007 durch die nichtselbständige Tätigkeit für die K Gartenbau lediglich in den Monaten
    April bis August inländische Einkünfte i.S.d. § 49 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a EStG erzielt. Der für diese Tätigkeit entrichtete
    Arbeitslohn wurde vollständig in den Monaten April bis August 2007 in bar an die Klägerin ausgezahlt. In den übrigen Monaten
    des Jahres 2007 erzielte die Klägerin keine inländischen Einkünfte.



    III. Das Gericht durfte in der Sache entscheiden. Eine Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO kommt nicht in Betracht. Nach
    dieser Norm kann das Gericht die Aussetzung des Verfahrens anordnen, wenn die Entscheidung des Rechtstreits ganz oder zum
    Teil von dem Bestehen oder dem Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen
    Rechtstreits bildet. Eine derartige Aussetzung ist nicht im Hinblick auf das von der Klägerin genannte Verfahren C – 4/13
    vor dem EuGH geboten. Der BFH hat dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens am 27. September 2012 (III R 40/09,
    BFH/NV 2013, 302) folgende Fragen vorgelegt:



    1. Ist Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass es im



    Ermessen des zuständigen Trägers des Beschäftigungsmitgliedstaats steht, Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 anzuwenden,
    wenn im Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt wird?



    2. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Aufgrund welcher Ermessenserwägungen kann der für Familienleistungen zuständige
    Träger des Beschäftigungsmitgliedstaats Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 anwenden, als ob Leistungen im Wohnmitgliedstaat
    der Familienangehörigen gewährt würden?



    3. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Inwieweit unterliegt die Ermessensentscheidung des zuständigen Trägers
    der gerichtlichen Kontrolle?



    Da die hier zu entscheidende Rechtsfrage nicht den Gegenstand des Verfahrens beim EuGH bildet, kommt eine Aussetzung vorliegend
    nicht in Betracht.



    Der erkennende Senat hält eine Aussetzung des Klageverfahrens im Hinblick auf die beim BFH unter den Aktenzeichen III R 10/12
    und XI R 39/10 anhängigen Revisionsverfahren nicht für geboten. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des BFH, der sich der




    erkennende Senat anschließt, darf ein Rechtsstreit nicht allein deshalb nach § 74 FGO ausgesetzt werden, weil beim BFH ein
    Revisionsverfahren anhängig ist, dass eine



    vergleichbare Rechtsfrage betrifft oder als Musterverfahren geführt wird (vgl. BFH-Beschluss vom 24. September 2012 VI B 79/12,
    BFH/NV 2013, 70 m.w.N.).



    Ebenso war kein Ruhen des Verfahrens nach § 155 Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 251 Zivilprozessordnung (ZPO) anzuordnen,
    da dies nicht von beiden Beteiligten beantragt worden ist.



    IV. Für den erkennenden Senat besteht kein Anlass, dem EuGH die im Klageantrag hilfsweise gestellte Rechtsfrage vorzulegen.
    Eine europarechtswidrige Ungleichbehandlung von Grenzgängern und Wanderarbeitern liegt nicht vor. Beide Gruppen haben im Inland
    einen Kindergeldanspruch nach dem Monatsprinzip für den Zeitraum ihrer anspruchsbegründenden Tätigkeit. Die von der Klägerin
    gerügte Ungleichbehandlung der Wanderarbeiter läge nach Ansicht des erkennenden Senats nur dann vor, wenn einem Grenzpendler,
    der seiner Tätigkeit im Inland erst während des laufenden Jahres aufnimmt oder vor Ablauf des Jahres beendet, Kindergeld für
    das gesamte Jahr zustünde. Diese Frage ist jedoch -soweit ersichtlich- in Rechtsprechung und Literatur noch nicht positiv
    beantwortet worden. Wegen der weiteren Begründung schießt sich der Senat den Ausführungen des BFH im Urteil vom 24. Oktober
    2012 (V R 43/11, BFH/NV 2013, 448) an.



    V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Zulassung der Revision



    beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO; die Frage unter welchen Voraussetzungen Wanderarbeiter, die nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt
    einkommensteuerpflichtig behandelt werden, für das gesamte Jahr einen Anspruch auf Kindergeld haben und ob ggf. eine Gleichstellung
    mit sog. Grenzpendlern erfolgen muss, ist Gegenstand mehrere Revisionsverfahren beim BFH und hat daher grundsätzliche Bedeutung.

    VorschriftenEStG § 1 Abs. 2, EStG § 49, EStG § 62