23.08.2012
Finanzgericht Düsseldorf: Urteil vom 24.04.2012 – 13 K 799/09 L
- Wird ein Arbeitnehmer nicht von Amts wegen zur Einkommensteuer veranlagt und stellt er auch keinen Antrag auf Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 EStG, wird die Differenz der Jahreseinkommensteuer und der vom Arbeitgeber einbehaltenen Lohnsteuer durch Lohnsteuernachforderungsbescheid festgesetzt.
- Die Finanzbehörde ist bei einer dem Arbeitsgeber erteilten unrichtigen Anrufungsauskunft nicht daran gehindert, im Lohnsteuernachforderungsverfahren dem Arbeitnehmer gegenüber einen ungünstigeren Rechtsstandpunkt zu vertreten.
- Ein von dem Wohnsitzfinanzamt erlassener Lohnsteuernachforderungsbescheid kann nicht wegen der möglicherweise gegebenen örtlichen Zuständigkeit des Betriebsstättenfinanzamt des Arbeitgebers oder wegen Unterschreitung eines möglicherweise eingeräumten Ermessens aufgehoben werden, wenn das Betriebsstättenfinanzamt - ggf. aufgrund eines dahin eingeschränkten Ermessens - keine andere Entscheidung in der Sache hätte treffen können.
Tatbestand
Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines gegenüber dem Kläger erlassenen Lohnsteuernachforderungsbescheids.
Der Kläger ist Arbeitnehmer der „G-GmbH”. Die GmbH war zunächst Mitglied der Zusatzversorgungskasse (ZVK) der Stadt „E-Stadt”. Mit der Mitgliedschaft verfolgte sie den Zweck, ihren Arbeitnehmern beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis einen zusätzlichen Versorgungsanspruch zu verschaffen. Entsprechend einer am 10. Januar 2001 abgeschlossenen Vereinbarung übernahm die ZVK „L-Stadt” das Vermögen der ZVK „E-Stadt”. Die bisherigen Mitglieder der ZVK „E-Stadt” wurden mit Wirkung ab dem 01. Januar 2001 Mitglieder der ZVK „L-Stadt”. Zum Ausgleich der mit der Übernahme der ZVK „E-Stadt” für die ZVK „L-Stadt” verbundenen Nachteile hatte die ZVK „E-Stadt” eine Ausgleichszahlung (sog. Nachteilsausgleich) an die ZVK „L-Stadt” zu leisten. Der Nachteilsausgleich belief sich für die GmbH auf ”...” Mio. DM. Der Betrag war ab 2001 in 15 gleichen Raten zu zahlen. Die GmbH leistete den Nachteilsausgleich jedoch in weniger als 15 Raten. Sie behandelte die Zahlungen des Nachteilsausgleichs als erhöhte Umlage und erhob Lohnsteuer mit einem Pauschalsteuersatz gem. § 40b des Einkommensteuergesetzes (EStG). Soweit die Zahlungen die Pauschalierungsgrenze überstiegen, unterwarf die GmbH die entsprechenden Beträge dem Regelbesteuerungsverfahren.
Mit Urteil vom 14. September 2005 VI R 148/98 (Bundessteuerblatt - BStBl - II 2006, 532) entschied der Bundesfinanzhof (BFH), dass die Nachteilsausgleichszahlungen keinen Arbeitslohn darstellten. Im Anschluss an diese Entscheidung beantragte die GmbH beim zuständigen Betriebsstättenfinanzamt „E-Stadt” eine Anrufungsauskunft nach § 42e EStG, wonach es ihr erlaubt sei, sämtliche zu Unrecht versteuerte Nachteilsausgleichszahlungen der Jahre 2002 bis 2005 im laufenden Lohnsteuerzahlungszeitraum des Jahres 2006 in Form negativer Einnahmen zu korrigieren. Diesem Antrag gab das Betriebsstättenfinanzamt am 29. Juni 2006 statt. Die GmbH machte in der Lohnsteuerabrechnung für September 2006 von der Auskunft Gebrauch und verrechnete die laufenden Bruttoarbeitslöhne ihrer Mitarbeiter mit negativen Einnahmen im Umfang der jeweils auf die Nachteilsausgleichszahlungen abgeführten Lohnsteuer, auch soweit das Jahr 2001 betroffen war. Mit Schreiben vom 20. September 2006 widerrief das Betriebsstättenfinanzamt seine Anrufungsauskunft vom 29. Juni 2006. Die dagegen von der GmbH erhobene Klage war in der Revisionsinstanz erfolgreich. Der BFH hob die Aufhebungsverfügung des Betriebsstättenfinanzamts vom 20. September 2006 mit Urteil vom 02. September 2010 VI R 3/09 (BStBl II 2011, 233) auf.
Am 21. November 2008 erhielt der Beklagte (das Finanzamt - FA -) als Wohnsitzfinanzamt des Klägers eine Kontrollmitteilung der Zentralen Außenprüfungsstelle Lohnsteuer (ZALSt). Die ZALSt informierte das FA darüber, dass die GmbH als Arbeitgeber des Klägers im Lohnsteuerzahlungszeitraum September 2006 den Bruttoarbeitslohn des Klägers um 4.082,63 Euro gemindert habe. Die GmbH sei unzutreffenderweise davon ausgegangen, dass in dieser Höhe negativer Arbeitslohn des Klägers vorgelegen habe. Bei dem Betrag handele es sich um die Summe der in den Jahren 2001 bis 2005 individuell versteuerten Nachteilsausgleichszahlungen der GmbH an die ZVK „L-Stadt”.
Das FA erließ daraufhin am 12. Dezember 2008 einen Bescheid über die Festsetzung von nachzufordernder Lohnsteuer sowie von nachzuforderndem Solidaritätszuschlag. Der Lohnsteuernachforderungsbetrag wurde auf 1.154 Euro und der Solidaritätszuschlag auf 63,47 Euro festgesetzt. Der dagegen eingelegte Einspruch hatte keinen Erfolg.
Mit seiner Klage führt der Kläger aus, das FA sei für den Erlass des Lohnsteuernachforderungsbescheids nicht zuständig gewesen. Bei diesem Bescheid, den das FA auf § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG gestützt habe, handele es sich um einen Vorauszahlungsbescheid. Dafür sei jedoch ausschließlich das Betriebsstättenfinanzamt zuständig. Auch wenn der Nachforderungsbescheid einen Steuerbescheid i.S. von § 155 der Abgabenordnung (AO) darstelle, sei er hier im Verfahren der Lohnsteueranmeldung ergangen. Für dieses Verfahren sei das Betriebsstättenfinanzamt zuständig. Das FA könne sich nicht auf § 127 AO berufen. Es hätte, statt einen Lohnsteuernachforderungsbescheid zu erlassen, eine andere, korrekte Entscheidung treffen können, nämlich den Kläger zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung aufzufordern. Einen Einkommensteuerbescheid habe das FA ohne vorhergehende Aufforderung zur Abgabe einer Steuererklärung nicht erlassen dürfen.
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG lägen nicht vor, da die GmbH als Arbeitgeber wegen der ihr erteilten Anrufungsauskunft vorschriftsgemäß und nicht vorschriftswidrig gehandelt habe. Zwar entfalte die Anrufungsauskunft im Veranlagungsverfahren keine Wirkung, der Nachforderungsbescheid sei aber nicht im Veranlagungsverfahren, sondern im Lohnsteuerabzugsverfahren ergangen. An diesem Verfahren seien Arbeitgeber und Arbeitnehmer beteiligt. Die dem einen Beteiligten erteilte Anrufungsauskunft müsse auch dem anderen Beteiligten gegenüber wirken, da insoweit sich widersprechende Entscheidungen ausgeschlossen seien. Dass das FA den Weg der Nachforderung und nicht den der Veranlagung gewählt habe, sei seine Entscheidung gewesen.
Es werde nicht verkannt, dass es der BFH im Urteil vom 09. Oktober 1992 VI R 97/90 abgelehnt habe, die Bindungswirkung der Anrufungsauskunft auf den Lohnsteuerjahresausgleich oder das Einkommensteuerveranlagungsverfahren zu erstrecken und dass er diese Rechtsprechung in der Entscheidung vom 22. Mai 2007 VI B 143/06 (Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH 2007, 1658) bestätigt habe. Dies schließe es aber nicht aus, die Finanzverwaltung im Einzelfall nach Treu und Glauben an die Auskunft auch im Einkommensteuerveranlagungsverfahren zu binden. Ein solcher Fall liege hier vor, weil die von der Auskunft gebilligte Verfahrensweise nicht nur im Interesse der Arbeitnehmer, sondern im Interesse der Finanzverwaltung entwickelt worden sei, um dieser eine Vielzahl von Berichtigungsbescheiden zu ersparen. Es widerspreche Treu und Glauben, von diesem Verfahren abzurücken, nachdem Festsetzungsfristen inzwischen abgelaufen seien.
Entgegen der Ansicht des FA sei die Inanspruchnahme des Klägers eine Ermessensentscheidung gewesen. Das FA könne sich zwar auf die Entscheidungen des BFH vom 17. Mai 1985 VI R 173/82 und vom 27. Mai 2008 VIII B 127/07 berufen, die Leitentscheidung vom 17. Mai 1985 betreffe aber keine Lohnsteuernachforderung, sondern die Veranlagung zur Einkommensteuer. Deshalb habe das FA grundsätzlich Ermessensfreiheit, ob es den Arbeitgeber oder den Arbeitnehmer in Anspruch nehmen wolle. Könne das FA den Arbeitgeber aus Gründen, die es selbst zu vertreten habe, nicht in Anspruch nehmen, reduziere sich das Ermessen nicht etwa auf Null. Vielmehr entspreche es allein Treu und Glauben, die Entscheidung so zu treffen, als ob das FA auch den Arbeitgeber in Anspruch nehmen könne. Das FA dürfe sich nicht darauf berufen, dass es den Arbeitgeber aus eigenem Verschulden nicht in Anspruch nehmen könne.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid über die Festsetzung nachzufordernder Lohnsteuer sowie nachzuforderndem Solidaritätszuschlag vom 12. Dezember 2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 05. Juni 2009 aufzuheben.
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Zur Begründung trägt es unter Bezugnahme auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung vor, die Meinung des Klägers, das FA sei für den Erlass des Nachforderungsbescheids nicht zuständig gewesen, werde nicht geteilt. Die Zuständigkeit des jeweiligen Wohnsitzfinanzamts ergebe sich aus dem BFH-Urteil vom 21. Februar 1992 VI R 141/88 (BStBl II 1992, 565, unter 1.d). Das FA habe im Lohnsteuernachforderungsbescheid nicht die „aufgrund der beim Arbeitgeber getroffenen Feststellungen über den nachzuerhebenden Teil der nach den Merkmalen der Lohnsteuerkarte zu berechnenden Entrichtungsschuld” festgesetzt, sondern die „anhand der individuellen Besteuerungsmerkmale des Arbeitnehmers korrigierte vorschriftsmäßige Entrichtungsschuld”. Dies sei erforderlich gewesen, weil der Kläger - anders als in den vorangegangenen Jahren - für das Jahr 2006 keine Einkommensteuerveranlagung beantragt habe und die Voraussetzungen für eine Pflichtveranlagung des Klägers nicht vorgelegen hätten. Deshalb handele es sich bei dem angefochtenen Nachforderungsbescheid nicht um einen Vorauszahlungsbescheid. Vielmehr sei der Differenzbetrag zwischen der nach den individuellen Besteuerungsmerkmalen des Klägers ermittelten vorschriftsmäßigen Lohnsteuerentrichtungsschuld für das Jahr 2006 und dem Lohnsteuerabzugsbetrag, die sich aus der Lohnsteuerbescheinigung des Arbeitgebers für das Jahr 2006 ergeben habe, als Nachforderungsbetrag festgesetzt worden. Der Kläger sei für die zu wenig erhobene Lohnsteuer in Anspruch genommen worden, weil der Arbeitgeber die Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig vom Arbeitslohn einbehalten habe. Daher sei die Einkommensteuer, die auf die Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit entfalle, erst mit der Erhebung der streitigen Nachforderungsbeträge abgegolten.
Der Nachforderungsbescheid sei ein Steuerbescheid i.S. von § 155 Abs. 1 Satz 1 AO. Wolle das FA zu wenig einbehaltene Lohnsteuer vom Arbeitnehmer nachfordern, erlasse es gegen diesen einen Steuerbescheid. Nach Ablauf des Kalenderjahres komme eine Nachforderung von Lohnsteuer oder Einkommensteuer ggfs. auch durch eine Veranlagung zur Einkommensteuer in Betracht. In Fällen, in denen der Steuerabzug vom Arbeitslohn vorschriftswidrig nicht vorgenommen worden sei und die Voraussetzungen des § 46 EStG nicht vorlägen, komme eine Nachforderung durch Nachforderungsbescheid in Betracht. Dieses Festsetzungsverfahren sei auf die Ermittlung der individuellen Jahreslohnsteuer des Arbeitnehmers gerichtet und entspreche deshalb weitgehend dem Einkommensteuerveranlagungsverfahren. Es sei nicht auf die Festsetzung einer Vorauszahlung gerichtet. Die Zuständigkeit des FA ergebe sich somit aus § 19 Abs. 1 Satz 1 AO.
I.ü. sei das Betriebsstättenfinanzamt auch deshalb nicht zuständig gewesen, weil der Kläger und sein Arbeitgeber nicht Gesamtschuldner i.S. des § 42d Abs. 3 Satz 1 EStG gewesen seien. Eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers sei nämlich wegen der Anrufungsauskunft nach Treu und Glauben ausgeschlossen.
Der Erlass des Nachforderungsbescheids habe nicht im Auswahlermessen des FA gestanden. Für eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers als Haftungsschuldner sei das FA nicht zuständig gewesen. Im Rahmen seiner Zuständigkeit habe es sich allein an den Kläger wenden können. Zudem handele es sich nach dem BFH-Urteil vom 21. Februar 1992 (BStBl II 1992, 565) bei dem Lohnsteuernachforderungsbescheid um eine gebundene Entscheidung. Aber selbst wenn eine Ermessensentscheidung zu treffen gewesen wäre, hätte hier eine Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen, da wegen der Anrufungsauskunft nicht der Arbeitgeber, sondern ausschließlich der Arbeitnehmer hätte in Anspruch genommen werden können.
Die dem Arbeitgeber erteilte Anrufungsauskunft habe keine Bindungswirkung für den Lohnsteuernachforderungsbescheid entfaltet. Insbesondere der Umstand, dass die Auskunft vom Betriebsstättenfinanzamt und nicht vom FA erteilt worden sei, spreche für die Beschränkung der Bindung auf das Lohnsteuerabzugsverfahren. Die Auskunft sei nur gegenüber dem Arbeitgeber bekanntgegeben worden, der Kläger habe keine Kenntnis von ihr gehabt. Es sei nicht erkennbar, woraus sich eine Drittwirkung ergeben könnte. Auch der BFH habe im Urteil vom 13. Januar 2011 VI R 61/09 (unter II.1.d. bb) ausgeführt, dass die Anrufungsauskunft ausschließlich das auskunftserteilende Betriebsstättenfinanzamt im Rahmen des Lohnsteuerabzugsverfahrens binde. Die Bindungswirkung erstrecke sich i.ü. nur auf den Arbeitgeber, dem die Auskunft erteilt worden sei.
§ 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG stehe der Lohnsteuernachforderung nicht entgegen. Der BFH habe bereits entschieden, dass diese Vorschrift keine Auswirkungen auf das Lohnsteuerverfahren, womit das Nachforderungsverfahren nach § 41c Abs. 4 Satz 2 EStG gemeint sei, habe (BFH-Urteil vom 13. November 1959 VI 124/59 U, BStBl III 1960, 108). Mithin würden die Beschränkungen des § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG nur für die Inanspruchnahme des Arbeitnehmers innerhalb des Lohnsteuerabzugsverfahren gelten. Deshalb könne der Arbeitnehmer im Festsetzungsverfahren zur Lohnsteuernachforderung uneingeschränkt in Anspruch genommen werden.
Der Erlass des angefochtenen Bescheids verstoße schließlich auch nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Zum einen habe das FA keinen Vertrauenstatbestand gegenüber dem Kläger geschaffen. Zum anderen habe der Kläger keine vermögensrechtliche Disposition getroffen, die nach Treu und Glauben zu schützen wäre.
Gründe
Die Klage ist unbegründet.
1. Der angefochtene Lohnsteuernachforderungsbescheid ist rechtmäßig. Das FA hat den Kläger zu Recht wegen nicht einbehaltener Lohnsteuer in Anspruch genommen.
a) Der dem Kläger im September 2006 zugeflossene Arbeitslohn unterlag, wie zwischen den Beteiligten nach Ergehen des BFH-Urteils vom 13. Januar 2011 VI R 61/09 (BStBl II 2011, 479) nicht mehr streitig ist, in voller Höhe der Einkommensbesteuerung. Die vom Arbeitgeber des Klägers vorgenommene Verrechnung des Bruttoarbeitslohns mit negativen Einnahmen i.H. von 4.082,63 Euro war rechtswidrig. Der Kläger hatte weder negative Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit noch Werbungskosten, da dies voraussetzt, dass beim Arbeitnehmer Güter abgeflossen oder Aufwendungen entstanden sind, was unstreitig nicht der Fall war.
b) Vom Bruttoarbeitslohn war durch den Arbeitgeber Lohnsteuer zu erheben (§ 38 Abs. 1 EStG), was der Arbeitgeber des Klägers, soweit es den hier in Rede stehenden Betrag von 1.154 Euro nebst eines Solidaritätszuschlags betrifft, unterlassen hat. Schuldner der Lohnsteuer ist gem. § 38 Abs. 2 Satz 1 EStG der Kläger als Arbeitnehmer.
c) Das FA war nicht gehindert, die Lohnsteuer sowie den Solidaritätszuschlag gegenüber dem Kläger als Schuldner der Lohnsteuer mit Bescheid vom 12. Dezember 2008 festzusetzen. Soweit die Einkommensteuer materiell-rechtlich unzutreffend - wie hier in zu geringer Höhe - durch den Abzug vom Arbeitslohn erhoben worden ist, gebietet es der Grundsatz der Besteuerungsgleichheit (§ 85 AO, Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes), die noch nicht verjährte Steuer vom Arbeitnehmer auch nach Ablauf des Kalenderjahres nachzufordern (vgl. Finanzgericht - FG - Hamburg, Urteil vom 31. Oktober 1991 VI 214/89, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1992, 692; Krüger in Schmidt, EStG, 31. Auflage, 2012, § 42d Rz. 24). Dies erfolgt regelmäßig im Rahmen einer Einkommensteuerveranlagung (§§ 25 Abs. 1, 46 EStG). Wird der Arbeitnehmer - wie hier der Kläger - aber nicht von Amts wegen zur Einkommensteuer veranlagt und stellt er auch keinen Antrag auf Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 EStG, wird die Differenz der Jahreseinkommensteuer und der vom Arbeitgeber einbehaltenen Lohnsteuer durch Lohnsteuernachforderungsbescheid festgesetzt (FG Hamburg, in EFG 1992, 692).
Dem steht § 46 Abs. 4 Satz 1 EStG nicht entgegen. Danach gilt, wenn eine Veranlagung nicht in Betracht kommt, die Einkommensteuer, die auf die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit entfällt, für den Steuerpflichtigen durch den Lohnsteuerabzug als abgegolten, allerdings nur, soweit er nicht für zu wenig erhobene Lohnsteuer in Anspruch genommen werden kann. Entspricht der Lohnsteuerabzug in seiner Summe nicht der Jahreseinkommensteuer, entfaltet er keine Abgeltungswirkung (Drenseck in Stolterfoth, Grundfragen des Lohnsteuerrechts, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft e.V., 1986, 377, 381).
Die Festsetzung der nachzufordernden Lohnsteuer ist auch nicht durch § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift kann der Arbeitnehmer im Rahmen der zwischen ihm und dem Arbeitgeber bestehenden Gesamtschuldnerschaft nur in Anspruch genommen werden, wenn der Arbeitgeber die Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig vom Arbeitslohn einbehalten hat. Durch diese Formulierung wird nach der Rechtsprechung des BFH (BFH-Urteil vom 28. August 1991 I R 3/89, BStBl II 1992, 107), der sich der Senat anschließt, jedoch nicht der Grundsatz eingeschränkt, demzufolge der Arbeitnehmer Schuldner der Steuer ist.
Auch die Anrufungsauskunft (§ 42e EStG) des Betriebsstättenfinanzamts vom 29. Juni 2006, auf die der Arbeitgeber des Klägers die materiell-rechtlich unzutreffende Einbehaltung der Lohnsteuer stützen konnte und die nicht wirksam mit Schreiben des Betriebsstättenfinanzamts vom 20. September 2006 aufgehoben worden ist, stellt keinen Hinderungsgrund für den Erlass des Lohnsteuernachforderungsbescheids dar. Die Bindungswirkung der Anrufungsauskunft ist personenbezogen (BFH in BStBl II 1992, 107). Die Auskunft will sicherstellen, dass der Anrufende (hier der Arbeitgeber) im Rahmen des Lohnsteuerabzugsverfahrens ohne Risiko der Inanspruchnahme disponieren kann. Die Finanzbehörde ist allerdings bei einer dem Arbeitsgeber erteilten Anrufungsauskunft nicht daran gehindert, im Lohnsteuerverfahren - hier also im Lohnsteuernachforderungsverfahren - dem Arbeitnehmer gegenüber einen anderen, ungünstigeren Rechtsstandpunkt zu vertreten als im Auskunftsverfahren gegenüber dem Arbeitgeber (BFH in BStBl II 1992, 107, zum Lohnsteuernachforderungsbescheid gegenüber einem beschränkt steuerpflichtigen Arbeitnehmer; Gosch, Die steuerliche Betriebsprüfung, 1992, 72). Hieran hat die Qualifikation der Anrufungsauskunft als Verwaltungsakt durch die jüngere Rechtsprechung des BFH nichts geändert (vgl. BFH in BStBl II 2011, 479, unter II.d bb).
d) Der angefochtene Lohnsteuernachforderungsbescheid war auch nicht deshalb aufzuheben, weil - nach Auffassung des Klägers - das FA für seinen Erlass nicht zuständig gewesen wäre und der Nachforderungsbescheid nur vom Betriebsstättenfinanzamt hätte erlassen werden können.
aa) Dabei kann offen bleiben, ob das FA als Wohnsitzfinanzamt (§ 19 AO) des Klägers oder das Finanzamt „E-Stadt” als Betriebsstättenfinanzamt des Arbeitgebers für den Erlass des Nachforderungsbescheids örtlich zuständig war. Auch wenn das Betriebsstättenfinanzamt und nicht das FA zuständig gewesen wäre, könnte der Lohnsteuernachforderungsbescheid deswegen nicht aufgehoben werden, da auch vom Betriebsstättenfinanzamt keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können.
bb) Die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der - wie hier - nicht nach § 125 AO nichtig ist, kann nämlich wegen Verletzung der Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit gem. § 127 AO nicht beansprucht werden, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Diese Vorschrift bezieht sich zwar in erster Linie auf gebundene Verwaltungsakte, denn bei Ermessensentscheidungen kann grundsätzlich nicht angenommen werden, dass keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Etwas anderes gilt in diesem Fall jedoch dann, wenn die Ausübung des Ermessens dahin eingeengt ist, dass das örtlich zuständige Finanzamt nur eine Entscheidung, nämlich die Inanspruchnahme des Klägers als Arbeitnehmer, hätte treffen können (vgl. BFH-Urteil vom 20. Juni 1990 I R 157/87, BStBl II 1992, 43, unter II.2.).
Das FA hat sich für seine Ansicht, es habe sich bei dem erlassenen Nachforderungsbescheid um eine gebundene und nicht um eine - wie der Kläger meint - im Ermessen stehende Entscheidung gehandelt, auf das BFH-Urteil vom 21. Februar 1992 (VI R 141/88, BStBl II 1992, 565) bezogen. Der BFH hat in diesem Urteil zur Begründung der Gebundenheit der Entscheidung zur Lohnsteuernachforderung, die eine Änderung des Lohnsteuerjahresausgleichsbescheids erfordert, ausgeführt, es gehe bei einem Lohnsteuernachforderungsbescheid, der nach einer Änderung eines Lohnsteuerjahresausgleichsbescheids erfolge, nicht darum, dem gesetzgeberischen Zweck des Lohnsteuerabzugsverfahrens zu entsprechen, durch den Abzug an der Quelle den schnellen Eingang der Lohnsteuer in einem vereinfachten Verfahren sicherzustellen. Vielmehr würden die nachzufordernden Beträge nach den individuellen Besteuerungsgrundlagen des Arbeitnehmers ermittelt. Diese Überlegung könnte dafür sprechen, auch im vorliegenden Fall von einer gebundenen Entscheidung zum Erlass des Nachforderungsbescheids auszugehen, da das FA mit diesem Bescheid keinen „schnellen Eingang der Lohnsteuer in einem vereinfachten Verfahren” sichergestellt, sondern die Differenz zwischen der auf der Grundlage einer von ihm errechneten individuellen Jahreseinkommensteuer 2006 und der vom Arbeitgeber einbehaltenen Lohnsteuer nachgefordert hat (für eine gebundene Entscheidung auch: FG Hamburg in EFG 1992, 692). Es bedarf allerdings keiner abschließenden Entscheidung, ob die Ausführungen des BFH zur gebundenen Entscheidung für eine Nachforderung im Zusammenhang mit dem Erlass oder der Änderung eines Lohnsteuerjahresausgleichsbescheids auf den Fall zu übertragen sind, dass eine sog. Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 EStG mangels Antrags des Arbeitnehmers ausscheidet. Auch dann, wenn es sich in diesem Fall - wie der Kläger vorträgt - um eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde handeln würde, wäre das Ermessen dahin eingeschränkt gewesen, dass nur der Kläger durch Nachforderungsbescheid in Anspruch genommen werden durfte.
cc) Handelte es sich - der Auffassung des Klägers folgend - bei dem Lohnsteuernachforderungsbescheid um eine Ermessensentscheidung, wäre die Überprüfungsmöglichkeit der Verwaltungsentscheidung durch das Gericht nach § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nur eingeschränkt möglich. Das Gericht darf eine angegriffene Ermessensentscheidung nur auf Ermessensunterschreitung, Ermessensüberschreitung und Ermessensfehlgebrauch prüfen. Stellt es eine Ermessensunterschreitung oder einen Ermessensfehler fest, ist es grundsätzlich auf die Aufhebung der Verwaltungsentscheidung beschränkt. In Fällen der sog. Ermessensreduzierung auf Null ist das Gericht allerdings befugt, seine Entscheidung an die Stelle des Ermessens der Behörde zu setzen (vgl. Gutachten des Großen Senats des BFH vom 17. April 1951 GrS D 1/51 S, BStBl III 1951, 107, unter 7.; BFH-Urteil vom 10. Oktober 2001 XI R 52/00, BStBl II 2002, 201, unter II.2.a; Kruse in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Tz. 76, § 102 FGO Tz. 10 m.w.N.).
Im vorliegenden Fall hat das FA den Erlass des Lohnsteuernachforderungsbescheids gegenüber dem Kläger als gebundene Entscheidung angesehen und hätte mithin sein - unterstelltes - Ermessen unterschritten. Dies führte jedoch nicht zu einer Aufhebung des angefochtenen Bescheids, da die Ermessensgrenzen so eingeengt gewesen wären, dass für das FA nur eine bestimmte Entscheidung möglich gewesen wäre, während jede andere zu einem Ermessensfehler geführt hätte. Gleiches träfe auf eine Entscheidung des Betriebsstättenfinanzamts im Fall seiner Zuständigkeit zu.
(1) Hinsichtlich der Entscheidung, den Kläger überhaupt durch Lohnsteuernachforderungsbescheid in Anspruch zu nehmen, wäre das (Entschließungs-)Ermessen des FA „auf Null” reduziert gewesen. Die Anrufungsauskunft des Betriebsstättenfinanzamts, auf die der Arbeitgeber des Klägers die materiell-rechtlich unzutreffende Einbehaltung der Lohnsteuer gestützt hat, hätte nämlich keinen Anlass geben können, in Erwägung zu ziehen, den Kläger als Arbeitnehmer nicht in Anspruch zu nehmen. Sie entfaltete ihre Wirkung nur gegenüber dem Arbeitgeber, nicht aber gegenüber dem Kläger im Lohnsteuernachforderungsverfahren (s.o. unter 1.c).
(2) Auch das Auswahlermessen wäre in der Weise eingeengt gewesen, dass nur die Entscheidung, den Kläger durch Lohnsteuernachforderungsbescheid in Anspruch zu nehmen, möglich gewesen wäre. Eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers durch Haftungsbescheid nach § 42d EStG schied wegen der ihm erteilten Anrufungsauskunft unstreitig aus. Andere Personen, die wegen der materiell-rechtlich unzutreffend nicht einbehaltenen Lohnsteuer hätten in Anspruch genommen werden können, waren nicht vorhanden. Entgegen der Auffassung des Klägers ist es für die Frage der Einengung des Auswahlermessens unbeachtlich, dass das Betriebsstättenfinanzamt die Fehlerhaftigkeit der Anrufungsauskunft selbst zu vertreten hatte. Dieser „selbst verschuldete” materiell-rechtlich fehlerhafte Verwaltungsakt war gleichwohl wirksam und bewirkte, dass das FA keine Auswahl zwischen zwei möglichen, in Anspruch zu nehmenden Personen hätte treffen können.
e) Schließlich war das FA auch nicht durch den Grundsatz von Treu und Glauben am Erlass des Lohnsteuernachforderungsbescheids gehindert. Der Grundsatz von Treu und Glauben kann zwar einer Steuernachforderung und damit auch einer Änderung zu Lasten eines Steuerpflichtigen entgegenstehen. Dies setzt aber voraus, dass die Nachforderung dem vorausgegangenen Verhalten der Verwaltung widerspricht und der Steuerpflichtige im berechtigten Vertrauen auf dieses Verhalten vermögensrechtliche Dispositionen getroffen hat, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen (BFH in BStBl II 2011, 479, unter II.e). Solche Dispositionen hat der Kläger nicht getroffen. Er hat auch keinen Vermögensschaden dadurch erlitten, dass er nachträglich zu der gesetzlich geschuldeten Steuer herangezogen wurde (vgl. BFH in BStBl II 2011, 479, unter II.e). Der Vorhalt des Klägers, es widerspreche Treu und Glauben, wenn das FA von der Anrufungsauskunft abrücke, nachdem Festsetzungsfristen abgelaufen seien, überzeugt nicht. Die vierjährige Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 1 AO) für die Einkommensteuer 2006 war im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheids vom 12. Dezember 2008 offenkundig noch nicht abgelaufen, sodass auch eine Veranlagung zur Einkommensteuer 2006 möglich gewesen wäre, wenn der Kläger einen entsprechenden Antrag auf Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 EStG gestellt hätte.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
3. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).