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  • 01.06.2012

    Finanzgericht Thüringen: Urteil vom 26.01.2012 – 2 K 440/11

    1. Die als Erledigung i. S. d. § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO anzusehende Klagerücknahme führt auch dann zu einem Anspruch auf Prozesszinsen, wenn durch die – nach Änderungsbescheiden aufgrund im Klageverfahren nachgereichter Unterlagen erfolgte – Klagerücknahme der Kostenausspruch nach § 137 S. 1 FGO vermieden wird.

    2. Der eine Verzinsung verneinende § 236 Abs. 3 AO fordert ausdrücklich eine auf § 137 S. 1 FGO beruhende Kostenentscheidung.


    Im Namen des Volkes

    Urteil

    In dem Rechtsstreit

    hat der II. Senat des Thüringer Finanzgerichts … ohne mündliche Verhandlung in der Sitzung am 26. Januar 2012 für Recht erkannt:

    I. Der Ablehnungsbescheid vom 12.01.2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02.05.2011 wird aufgehoben und Prozesszinsen gem. § 236 Abs. 1 Abgabenordnung werden wie folgt festgesetzt:

    II. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

    III. Das Urteil ist hinsichtlich der erstattungsfähigen Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 120 % der vollstreckbaren Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

    IV. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

    V. Die Revision wird zugelassen.

    Tatbestand

    Die Klägerin begehrt die Festsetzung von Prozesszinsen nach § 236 Abgabenordnung (AO) für Investitionszulage für die Jahre 1993 bis 2003.

    Gegenstand des bei dem Thüringer Finanzgericht unter dem Aktenzeichen 3 K 326/03 geführten Verfahrens war unter anderem die Gewährung bzw. Rückforderung von Investitionszulage für die Jahre 1993 bis 2001. Die Parteien stritten im Wesentlichen darüber, ob die Verbleibensvoraussetzungen erfüllt waren. Die Klage war am April 2003 bei Gericht eingegangen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Klagebegründung verwiesen.

    Erstmals mit Schreiben vom August 2003 reichte die Klägerin – unvollständige – Nachweise für das Verbleiben im Fördergebiet ein. Mit Schreiben vom November 2003 teilte die Klägerin mit, dass weitere Unterlagen bei einem Brand vernichtet worden seien. Nachdem die Klägerin mit Schreiben vom März 2004 weitere Unterlagen vorgelegt hatte, fand im Juli 2007 ein erster Erörterungstermin statt. In der Folge reichte die Klägerin im Dezember 2007 weitere Unterlagen ein. In dem sodann bei dem Beklagten durchgeführten zweiten Erörterungstermin im November 2008 erläuterte die Klägerin nochmals den Sachverhalt anhand der im Verfahren nachgereichten Listen und Unterlagen. Daraufhin legte der damalige Berichterstatter dar, dass die Investitionszulage dem Grunde nach zwingend zu gewähren sei. Das Finanzamt sollte daraufhin abhelfen. Im Protokoll des genannten Erörterungstermins war weiterhin festgehalten: „Im Falle einer Abhilfe könne der Beklagte wegen verspäteter Vorlage der Unterlagen nicht mit Gerichts- und Steuerberaterkosten belastet werden.”

    Mit Datum vom Febr. 2009 erließ der Beklagte die Änderungsbescheide über die Investitionszulage für die Jahre 1993 bis 2001. Darin ergaben sich für die Jahre 1993, 1996, 1997, 1999 bis 2001 jeweils Guthaben zu Gunsten der Klägerin. Wegen der Einzelheiten wird auf die Änderungsbescheide verwiesen. Mit gerichtlichem Schreiben vom März 2009 bat der Berichterstatter die Klägerin um Stellungnahme zu den Änderungsbescheiden und regte an, die Klage zurückzunehmen. Wörtlich hieß es weiter: „Eine Rücknahme scheint zu erwägen!” Daraufhin nahm die Klägerin mit Schreiben vom 31. März 2009 die Klage zurück. Mit Beschluss vom April 2009 wurde das Verfahren nach § 72 Abs. 2 Satz 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) eingestellt.

    Mit Schreiben vom Dezember 2010 beantragte die Klägerin die Festsetzung von Prozesszinsen nach § 236 AO unter Verweis auf das Klageverfahren 3 K 326/03 und die Änderungsbescheide vom Febr. 2009. Wegen der Einzelheiten wird auf die Berechnungen der Klägerin verwiesen.

    Mit Bescheid vom Januar 2011 lehnte der Beklagte diesen Antrag ab. Die in § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO geforderte Erledigung liege nicht vor. Eine Klagerücknahme sei keine „Erledigung” in diesem Sinne. Ein Kostenpflichtiger, der einen Kostenausspruch nach § 137 Satz 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) durch Klagerücknahme ve rmeide, würde ungerechtfertigt bevorzugt.

    Der hiergegen gerichtete Einspruch der Klägerin vom Febr. 2011 blieb erfolglos. In der Einspruchsentscheidung vom Mai 2011, zur Post gelangt am gleichen Tage, wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Eine Klagerücknahme sei keine Erledigung im Sinne von § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO. Dieses Verständnis des Erledigungsbegriffes folge aus § 236 Abs. 3 AO. Der Gesetzgeber wolle den Steuerpflichtigen, der erst durch seinen verspäteten Sachvortrag die Herabsetzung der Steuer ermöglicht hat, nicht noch durch die Verzinsung der Erstattungsbeträge prämieren. Werte man eine Klagerücknahme als „Erledigung”, würde dieser gesetzgeberische Wille unterlaufen. Zudem ergebe sich aus dem Verweis auf die Regelung zur Kostentragung im Protokoll des Erörterungstermins Vertrauensschutz zugunsten des Finanzamtes, der die Klägerin nach Treu und Glauben an der Geltendmachung des Zinsanspruches hindere.

    Unter dem 03.06.2011, eingegangen am 03.06.2011, erhob die Klägerin Klage. Sie verweist auf die Entscheidung des Bundesfinanzhofes (BFH) vom 13.07.1994 (I R 38/93, BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37). Danach sei geklärt, dass eine „Erledigung” nach § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO auch bei einer Klagerücknahme vorliege. Weiter beruft sie sich auf die h. M. im Schrifttum, wonach nur ein Kostenbeschluss nach § 137 FGO die Verzinsung ausschließe. Wegen der Einzelheiten wird insbesondere auf den Schriftsatz vom Dez. 2011 verwiesen.

    Die Klägerin beantragt sinngemäß:

    den Ablehnungsbescheid vom 12.01.2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02.05.2011 aufzuheben und auf die festgesetzte Investitionszulage Prozesszinsen wie folgt festzusetzen

    Investitionszulage 1993 auf 6.205,00 EUR,

    Investitionszulage 1996 auf 4.284,00 EUR,

    Investitionszulage 1997 auf 26.639,00 EUR,

    Investitionszulage 1999 auf 3.995,00 EUR,

    Investitionszulage 2000 auf 4.335,00 EUR und

    Investitionszulage 2001 auf 41.123,00 EUR.

    Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.

    Die Klägerin regt an, die Revision zuzulassen.

    Der Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Zur Begründung verweist der Beklagte auf die Einspruchsentscheidung vom Mai 2011.

    Die Beteiligten haben auf die mündliche Verhandlung verzichtet, § 90 Abs. 2 FGO.

    Entscheidungsgründe

    Der Senat konnte nach § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil Klägerin und Beklagter ihr Einverständnis erklärt hatten.

    Die zulässige Klage ist begründet.

    Der Klägerin stehen nach § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO die beantragten Prozesszinsen wie tenoriert zu.

    Wird durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder aufgrund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt, so ist der zu erstattende oder zu vergütende Betrag grundsätzlich vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Auszahlungstag zu verzinsen (§ 236 Abs.1 Satz 1 AO). Dies gilt nach § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO entsprechend, wenn sich der Rechtsstreit durch Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts oder durch Erlass des beantragten Verwaltungsakts erledigt. Nach § 14 Satz 1 Investitionszulagengesetz (in den Fassungen 1991, 1993, 1996, 1999) gelten für die Investitionszulage die für Steuervergütungen geltenden Regelungen der Abgabenordnung, mithin auch § 236 AO.

    Da im Streitfall die Klage nach Ergehen der Änderungsbescheide zur Investitionszulage 1993 bis 2001 zurückgenommen wurde, hat sich der Rechtsstreit nach § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO erledigt.

    „Erledigung des Rechtsstreits” bedeutet Beendigung der Rechtshängigkeit (BFH-Urteil vom 13.07.1994 I R 38/93, BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37). Diese endet mit der rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, der Erledigung der Hauptsache nach § 138 FGO oder der Rücknahme der Klage nach § 72 FGO (BFH-Urteile vom 14.07.1993 I R 33/93, BFH/NV 1994, 438; vom 13.07.1994 I R 38/93, BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37). Dass eine Klagerücknahme eine Erledigung in diesem Sinne darstellt, hat der Bundesfinanzhof in seiner Entscheidung vom 13.07.1994 umfassend dargestellt und überzeugend begründet. Dem schließt sich der Senat für den vo rliegenden Fall ausdrücklich an.

    Da die Änderungen für die Jahre 1993, 1996, 1997, 1999 bis 2001 zu einer Vergütung führten, sind die Voraussetzungen des § 236 Abs. 2 Nr.1 AO erfüllt.

    Der Anspruch auf die Prozesszinsen entfällt auch nicht nach § 236 Abs. 3 AO. Danach wird ein zu erstattender oder zu vergütender Betrag nicht verzinst, soweit dem Beteiligten die Kosten nach § 137 Satz 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) auferlegt worden sind.

    Im vorliegenden Fall liegt kein Beschluss des Thüringer Finanzgerichts in der Sache 3 K 326/03 nach § 137 Satz 1 FGO vor. Weil die Klägerin mit Schreiben vom März 2009 die Klage zurückgenommen hatte, wurde das Verfahren mit Beschluss vom April 2009 nach § 72 Abs. 2 Satz 2 FGO eingestellt. Die Klägerin hat nach § 136 Abs. 2 FGO die Kosten zu tragen. Raum für Billigkeitserwägungen besteht insoweit nicht (Brandis in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, § 136 FGO Rz. 13). Über diese Kostenfolge muss durch Beschluss nur entschieden werden, wenn ein Beteiligter Kostenerstattung beantragt, § 144 FGO.

    Weder höchstrichterlich noch – soweit ersichtlich – durch die Finanzgerichte ist die Frage entschieden, ob ein Anspruch auf Prozesszinsen bei Klagerücknahme nach Bescheidänderung ausgeschlossen ist, wenn der Steuerpflichtige Tatsachen früher hätte geltend machen und beweisen können. Vorliegend hat die Klägerin unstreitig die notwendigen Unterlagen abschließend erst im Verfahren vor dem Thüringer Finanzgericht 3 K 326/03 vorgelegt. Auf dieser Grundlage konnten die Änderungsbescheide vom Febr. 2009 ergehen.

    In seiner Entscheidung vom 13.07.1994 (I R 38/93, BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37) konnte der BFH die dargestellte Frage offen lassen. In dem dort zu entscheidenden Fall beruhte der Erlass des Änderungsbescheides unstreitig nicht auf Tatsachen, die die Klägerin früher hätte geltend machen oder beweisen können und sollen. Der Bundesfinanzhof hat jedoch in einem obiter dictum angedeutet, dass im Fall der Klagerücknahme der Zinsanspruch nicht entfällt. So äußerte der BFH: „Die Rechtssituation erscheint für diesen Fall bei summarischer Betrachtung der Gesetzeslage in der Tat unbefriedigend.” (BFH-Urteil vom 13.07.1994 I R 38/93, BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37 Rz. 13).

    Die Entscheidungen der Finanzgerichte zu Prozesszinsen im Fall der Klagerücknahme sind sämtlich vor der Entscheidung des Bundesfinanzhofes vom 13.07.1994 (BFH-Urteil vom 13.07.1994 I R 38/93, BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37) ergangen und beantworten die Frage nicht abschließend (FG des Saarlandes-Urteil vom 28.01.1992 1 K 169/91, EFG 1992, 385; FG Münster-Urteil vom 12.07.1991 6 K 6530/88 E, EFG 1992, 175; FG Bremen-Urteil vom 16.03.1993 2 92 103 K 2, EFG 1993, 632). Die Entscheidungen befassen sich mit der Vorfrage, ob eine Klagerücknahme eine Erledigung im Sinne von § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO ist, wobei die Antwort nicht einheitlich ausfällt. Das FG Münster hat die Frage bejaht und ging dabei auf den möglichen Ausschluss nach § 236 Abs. 3 AO nicht ein (FG Münster-Urteil vom 12.07.1991 6 K 6530/88 E, EFG 1992, 175). Das FG des Saarlandes und das FG Bremen haben die Frage verneint und dies im Kern mit dem Regelungsgedanken des § 236 Abs. 3 AO begründet (FG des Saarlandes-Urteil vom 28.01.1992 1 K 169/91, EFG 1992, 385; FG Bremen-Urteil vom 16.03.1993 2 92 103 K 2, EFG 1993, 632 – Vorinstanz zu BFH-Urteil vom 13.07.1994 I R 38/93, BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37). „Ein Steuerpflichtiger, der einen Kostenausspruch des Gerichts nach § 137 Satz 1 FGO durch Klagerücknahme vermeidet, würde somit einen Zinsanspruch erhalten und damit ungerechtfertigt gegenüber anderen Steuerpflichtigen bevorzugt, zu deren Lasten eine Kostenentscheidung nach § 137 Satz 1 FGO ergeht.” (FG Bremen-Urteil vom 16.03.1993 2 92 103 K 2, EFG 1993, 632). Daraus ergebe sich, dass eine Klagerücknahme keine Erledigung sein könne.

    Das Schrifttum vertritt überwiegend die Ansicht, dass nur ein Kostenbeschluss nach § 137 AO den Zinsanspruch gemäß § 236 Abs. 3 AO ausschließe. Nach Kruse/Loose (Kruse/Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, § 236 AO Rz. 25) komme es darauf an, dass dem Kläger die Kosten tatsächlich auferlegt worden sind, ist das nicht geschehen, so bestehe der Zinsanspruch ungeachtet dessen, dass die Voraussetzungen dafür vorlagen. Nach Kögel (Kögel in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 236 AO Rz. 35) müsse eine Kostenentscheidung nach § 137 AO tatsächlich getroffen worden sein, es reiche nicht aus, dass nur deren Voraussetzungen vorgelegen haben. Nach Günther (Günther in Pump/Leibner, AO, § 236 AO Rz. 26) komme es lediglich auf die erfolgte Kostenentscheidung nach § 137 AO an. Es sei nicht zu prüfen, ob ein Beteiligter Tatsachen und Beweismittel tatsächlich verspätet vorgebracht hat. Zwar ist auch Schwarz (Schwarz in Schwarz, AO, § 236 AO Rz. 4) der Ansicht, maßgeblich sei die Kostenentscheidung und nicht lediglich die Möglichkeit der Auferlegung der Kosten. Allerdings müsse § 236 Abs. 3 AO in den Fällen einschränkend ausgelegt werden, in denen der Kläger die Klage zurücknimmt und deshalb nach § 136 Abs. 2 FGO die Kosten zu tragen hat; denn Grund für den Ausschluss der Verzinsung sei die mangelnde Mitwirkung des Klägers während des bisherigen Verfahrens (Schwarz in Schwarz, AO, § 236 AO Rz. 4). Auch nach Heuermann (Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 236 AO Rz. 31) entfalle die Verzinsung, wenn die späte Klärung auf das alleinige oder Mitverschulden des Beteiligten zurückzuführen ist und diesem die Kosten tatsächlich auferlegt worden sind.

    Der Wortlaut des § 136 Abs. 3 AO erscheint eindeutig. Danach erfolgt keine Verzinsung, soweit dem Beteiligten die Kosten nach § 137 Satz 1 FGOauferlegt worden sind. Erforderlich ist danach eine Kostenentscheidung des Gerichtes, die auf § 137 Satz 1 FGO beruht.

    Aus der Entstehungsgeschichte der Norm lassen sich konkrete Anhaltspunkte nicht entnehmen. Eine Regelung über Prozesszinsen im eigentlichen Sinn war erstmals mit Steueränderungsgesetz 1961 (vom 13.07.1961, BGBl I 1961, 981) in § 155 der Reichsabgabenordnung (AO) eingeführt worden. § 155 Abs. 2 Reichsabgabenordnung lautete: „Ein zuviel entrichteter Betrag wird nicht verzinst, soweit dem Steuerpflichtigen die Kosten des Rechtsmittels auferlegt worden sind, weil die Herabsetzung auf Tatsachen beruht, die der Steuerpflichtige früher hätte geltend machen können und müssen.” Eine entsprechende Regelung enthielt § 111 FGO a.F., der § 155 AO ablöste. Der genaue Wortlaut des § 236 Abs. 3 AO findet sich so erstmalig in § 111 Abs. 3 FGO a. F. Ohne Änderung übernommen wurde dies in § 4b Abs. 3 des Steuersäumnisgesetzes (StSäumG), der Nachfolgevorschrift zu § 111 FGO a.F.

    Der heutige § 236 AO löste den § 4b des Steuersäumnisgesetzes (StSäumG) mit Wirkung zum 01.01.1977 ab.

    Regelungszweck des § 236 Abs. 3 AO ist, dass derjenige nicht durch Zahlung von Prozesszinsen begünstigt werden soll, der durch verspäteten Vortrag oder verspätete Vorlage von Unterlagen die Herabsetzung der Steuer erst im Prozess ermöglicht hat. Dem trägt die Regelung durch Verweis auf § 137 Satz 1 FGO Rechnung. Allerdings verweist § 236 Abs. 3 AO nicht auf die Voraussetzungen des § 137 Satz 1 FGO, sondern stellt explizit darauf ab, dass eine solche Kostenentscheidung auch getroffen worden ist „auferlegt worden sind”). Damit soll auch verhindert werden, dass die Finanzbehörde bei Geltendmachen eines Prozesszinsenanspruchs nach Bescheidänderung mit anschließender Klagerücknahme inzident prüfen muss, ob die Voraussetzungen des § 137 Satz 1 FGO bei Erlass eines Kostenbeschlusses nach § 138 Abs. 2 FGO vorgelegen hätten (vgl. FG Bremen-Urteil vom 16.03.1993 2 92 103 K 2, EFG 1993, 632 Rz. 24). Es kann nicht Sache der beteiligten Finanzbehörde sein, anstelle des Gerichts hypothetisch zu prüfen, ob trotz vorgenommener Bescheidänderung im Beschluss nach § 138 Abs. 1 FGO die Kosten dem Steuerpflichtigen hätten auferlegt werden können. Dies ist schon deshalb ausgeschlossen, weil § 137 FGO eine Ermessensentscheidung des Gerichtes vorsieht „können”). Im vorliegenden Fall müsste bei Verneinung des Prozesszinsenanspruchs der Senat prüfen, wie die Finanzbehörde das Ermessen des Finanzgerichtes einzuschätzen gehabt hätte. Das erscheint nicht durchführbar.

    Eine Ausweitung des § 236 Abs. 3 AO über den Wortlaut hinaus ist nach Überzeugung des Senats auch deshalb abzulehnen, weil dies zu Lasten des Steuerpflichtigen geschehen würde. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verbietet zwar grundsätzlich nicht die Analogie. Es dürfen aber über den möglichen Wortsinn des Gesetzes hinaus keine Steuertatbestände ausgeweitet und keine neuen Steuertatbestände geschaffen werden (Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, § 4 AO Rz. 360 m. w. N.). Im Übrigen ergibt sich aus § 233 Satz 1 AO, dass es keinen Rechtsgrundsatz gibt, wonach Ansprüche aus dem Steuerverhältnis zu verzinsen sind. Eine Zinspflicht besteht nur „auf der Grundlage genau beschriebener Tatbestände” (BFH-Urteil vom 17.01.2007 X R 19/06, BFHE 216, 396, BStBl II 2007, 506). Zudem bilden die Zinstatbestände der §§ 233a bis 237 AO nach Auffassung des Bundesfinanzhofes einen abschließenden Katalog (BFH-Urteil vom 31.08.2011 X R 49/09, zur Veröffentlichung in BFHE vorgesehen; DStR 2012, 130). Im Gegenzug muss gelten, dass grundsätzlich zustehende Zinsen nur auf Grund einer eindeutigen gesetzlichen Regelung wieder entzogen werden können. Bereits daran scheitert eine Auslegung des § 236 Abs. 3 AO über den Wortlaut hinaus.

    Dass die dargelegte Auslegung des § 236 Abs. 3 AO vorliegend zu einem unbefriedigend erscheinenden Ergebnis führt, vermag die Einschätzung nicht zu beeinflussen. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass es sich vor dem Hintergrund der §§ 233 a, 236 Abs. 4 AO um einen nicht übermäßig häufigen Fall handeln dürfte. Nach dem durch das Steuerreformgesetz 1990 (BGBl. I 1988, 1093) eingeführten § 236 Abs. 4 AO werden Zinsen nach § 233 a AO angerechnet, die für denselben Zeitraum festgesetzt wurden. Der Vollverzinsung unterliegen nach § 233a Abs. 1 AO nur Einkommensteuer-, Körperschaftsteuer-, Umsatzsteuer- und Gewerbesteuerbeträge, ohne dass es auf Gründe für die spätere Auszahlung ankommt. Diese Aufzählung ist abschließend. Der Anspruch auf Investitionszulage ist dagegen nicht zu verzinsen (BFH-Urteil vom 23.02.2006 III R 66/03, BFHE 212, 386, BStBl II 2006, 741). Daraus folgt, dass insbesondere für den Fall der Investitionszulage die Bedeutung der Prozesszinsen höher ist, weil keine Vollverzinsung nach § 233a AO möglich ist. In den meisten anderen Fällen stellt sich diese Problematik nicht in dieser Deutlichkeit.

    Der Geltendmachung des Zinsanspruchs steht der von dem Beklagten erhobene Einwand von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht entgegen.

    Eine Rechtsausübung ist nach dem auch im Steuerrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben u. a. unzulässig, wenn durch das Verhalten des Berechtigten ein Vertrauenstatbestand entstanden ist und der andere Teil im Hinblick darauf bestimmte Dispositionen getroffen hat, sogenannter Grundsatz des venire contra factum proprium (Palandt/Grüneberg, BGB, 69. Auflage, § 242 Rz. 55; BFH-Urteile vom 06.02.1991 I R 13/86, BFHE 164, 168, BStBl II 1991, 673; vom 09.08.1989 I R 181/85, BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990). Dieser Grundsatz gilt auch zugunsten des Finanzamtes (BFH-Urteil vom 10.11.1987 VII R 171/84, BFHE 151, 123, BStBl II 1988, 41).

    Wenn der Beklagte gegen die Geltendmachung des Zinsanspruches einwendet, dass in dem Protokoll zum Erörterungstermin im Nov. 2008 der ausdrückliche Hinweis des Berichterstatters enthalten war, dass im Falle einer Abhilfe der Beklagte wegen verspäteter Vorlage der Unterlagen nicht mit Gerichts- und Steuerberaterkosten belastet werden könne, so vermag der Senat dem nicht zu folgen.

    Zum einen fehlt es schon an einem wie auch immer gearteten Verhalten der Klägerin. Es handelte sich lediglich um einen Hinweis des Berichterstatters in dem damaligen Verfahren 3 K 326/03. Keine der Parteien hat behauptet, im damaligen Termin habe man sich ausdrücklich über Prozesszinsen verständigt. Denkbar wäre allenfalls gewesen, dass die Klägerin sich ausdrücklich verpflichtet, keinen Antrag nach § 236 AO zu stellen. Allerdings sind die Prozesszinsen von Amts wegen festzusetzen (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, § 236 AO Rz. 30). Zum anderen bezieht sich der Hinweis des Berichterstatters ausdrücklich nur auf „Gerichts- und Steuerberaterkosten”. Daraus war schon nicht ohne Weiteres zu schließen, dass auch die Prozesszinsen erfasst sein sollen. Hätte der Beklagte auch die Prozesszinsen ausschließen wollen, hätte er diese Frage ansprechen und hierüber eine Einigung erzielen müssen (vgl. FG Bremen-Urteil vom 16.03.1993 2 92 103 K 2, EFG 1993, 632 Rz. 30). Letztlich kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Beklagte im Hinblick gerade auf diesen Hinweis bestimmte Dispositionen getroffen hat. Die Änderungsbescheide sind vielmehr darauf zurückzuführen, dass die Klägerin in dem damaligen Verfahren fehlende Unterlagen vorgelegt hatte.

    Schließlich bleibt auch zu berücksichtigen, dass die Klagerücknahme durch die Klägerin nach einem ausdrücklichen Hinweis des damaligen Berichterstatters erfolgte. Der mögliche Vorwurf an die Klägerin, sie habe sich in die Klagerücknahme „geflüchtet”, ist deshalb nicht haltbar.

    Zinsen stehen der Klägerin in der tenorierten Höhe zu. Der Zinslauf beginnt am 07.04.2003 mit der Rechtshängigkeit der Klage. Rechtshängigkeit tritt nach § 66 Abs. 1 FGO mit der Erhebung ein. Der Zinslauf endet mit dem Auszahlungstag. Hierfür hat die Klägerin das Datum der Änderungsbescheide angenommen. Wegen der Einzelheiten wird auf die – von dem Beklagten nicht beanstandeten – Berechnungen der Klägerin verwiesen.

    Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).

    Die Revision ist zuzulassen, denn die Sache ist von grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Die Frage, ob ein Anspruch auf Prozesszinsen bei Klagerücknahme nach Bescheidänderung ausgeschlossen ist, wenn der Steuerpflichtige Tatsachen früher hätte geltend machen und beweisen können, ist bislang höchstrichterlich nicht geklärt. In seiner Entscheidung vom 13.07.1994 (I R 38/93, BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37) konnte der Bundesfinanzhof diese Frage offen lassen.

    Im Streitfall war die Zuziehung eines Bevollmächtigten im außergerichtlichen Vorverfahren wegen der besonderen rechtlichen Schwierigkeiten der zu entscheidenden Fragen gem. § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO für notwendig zu erklären, um dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit zu geben, seine Rechte wirkungsvoll durchzusetzen (vgl. BFH-Beschluss vom 18.07.1967 GrS 5-7/66, BFHE 90, 150, BStBl II 1968, 56).

    VorschriftenAO § 236 Abs. 2 Nr. 1, AO § 236 Abs. 3, FGO § 72 Abs. 2 S. 2, FGO § 136 Abs. 2