01.06.2012
Finanzgericht Düsseldorf: Urteil vom 27.10.2011 – 14 K 42/10 Kg
- Eine in Deutschland wohnhafte und in den Niederlanden nichtselbständig tätige Grenzgängerin, die ausschließlich in den Niederlanden sozialversichert ist und dort Familienleistungen bezieht, hat Anspruch auf deutsches Kindergeld in Höhe der Differenz zu den niederländischen Familienleistungen.
- Als Kollisionsnorm ist Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO (EWG) 574/72 dahin auszulegen, dass er nicht nur einschlägig ist, wenn andere Personen als der Arbeitnehmer ebenfalls im Wohnsitzland einen Anspruch auf Familienleistungen haben, sondern auch für den Arbeitnehmer selbst gilt; das Beschäftigungslandprinzip des Art. 13 der VO (EWG) 1408/71 steht dem nicht entgegen (Anschluss an Urteil des FG Münster vom 30.04.2009 11 K 998/06 Kg, EFG 2009, 571; entgegen BVerfG-Beschluss vom 08.06.2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412 und BFH-Urteil vom 24.03.2006 III R 41/05, BStBl II 2008, 369).
- Die Regelung des § 65 EStG ist auf Grenzgänger auf Grund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht anwendbar.
Tatbestand
Die Klägerin bezog für ihren am 22.01.2008 geborenen Sohn „A” fortlaufend Kindergeld.
Mit Schreiben vom 06.10.2009 teilte die niederländische Sociale Verzekeringsbank der Beklagten mit, dass die Klägerin seit dem 09.02.2009 in den Niederlanden beschäftigt sei. Auf Grund dessen bestehe ab April 2009 ausschließlich Anspruch auf niederländisches Kindergeld.
Mit Bescheid vom 27.10.2009 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung ab April 2009 gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf. Zur Begründung stellte sie darauf ab, dass auf Grund der Beschäftigung der Klägerin in den Niederlanden ab April 2009 ein ausschließlicher Anspruch auf niederländische Familienleistungen bestehe. Zugleich forderte die Beklagte das für den Zeitraum April 2009 bis Oktober 2009 i. H. v. 1.148,00 Euro gezahlte Kindergeld gemäß § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) zurück.
Gegen den Bescheid legte die Klägerin am 30.11.2009 Einspruch ein und trug zur Begründung vor: Sowohl der Kindesvater als auch sie selbst arbeiteten in den Niederlanden. Die Familie lebe in Deutschland. Richtig sei, dass sie ab April 2009 niederländische Familienleistungen bezogen habe. Dennoch bestehe ein Anspruch auf Differenzkindergeld, da die niederländischen Leistungen niedriger seien. Beigefügt war dem Einspruch eine Bescheinigung der niederländischen Behörde, aus der sich ergibt, dass der Kindergeldanspruch der Klägerin 194,99 Euro pro Quartal beträgt.
Die Beklagte wies den Einspruch in der Einspruchsentscheidung vom 07.12.2009 zurück. Zur Begründung stellte sie im Wesentlichen darauf ab, dass ein inländischer Kindergeldanspruch nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG vollständig ausgeschlossen sei, wenn ein Anspruch auf eine dem Kindergeld vergleichbare Leistung bestehe. Dies gelte auch dann, wenn - wie vorliegend - die ausländische Leistung niedriger als das deutsche Kindergeld sei.
Gegen die Einspruchsentscheidung hat die Klägerin am 06.01.2010 Klage erhoben und trägt ergänzend vor: Da die niederländischen Familienleistungen ab April 2009 lediglich pro Quartal 194,99 Euro betrügen, bestehe ein Anspruch auf Differenzkindergeld zu den in Deutschland bestehenden Ansprüchen. Zur weiteren Begründung werde auf die Entscheidung des Finanzgerichts Münster vom 30.04.2009 11 K 998/06 Kg verwiesen. Danach sei der Anspruch nach deutschem Recht nicht gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen. Die genannte Regelung werde durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO (EWG) 574/72 verdrängt. Danach bestehe ein Anspruch nicht nur, wenn andere Personen Anspruch auf Familienleistungen hätten, sondern auch in Bezug auf den Arbeitnehmer, also vorliegend sie selbst. Demzufolge ruhe der inländische Anspruch in Höhe des Anspruches auf niederländische Familienleistungen.
Die Klägerin beantragt,
den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 27.10.2009 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.12.2009 insoweit aufzuheben, als die Beklagte die Bewilligung von Kindergeld für den Sohn „A” ab April 2009 hinausgehend über einen Betrag von 65,00 Euro aufgehoben hat und einen Betrag hinausgehend über 455,00 Euro zurückfordert.
Die Beklagte, die trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist, beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Beschluss vom 08.06.2004 2 BvL 5/00 (Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - BVerfGE - 110, 412) und des Bundesfinanzhofs (BFH) im Urteil vom 24.03.2006 III R 41/05 (Bundessteuerblatt - BStBl - II 2008, 369) bestehe nach der VO (EWG) 1408/71 und der VO (EWG) 574/72 für einen sog. Grenzgänger nur ein Kindergeldanspruch im Beschäftigungsland. Zweck dieser Regelungen sei es, alle Arbeitnehmer eines Landes unabhängig von ihrem Wohnland gleichzustellen. Diese Rechtsfolge sei verfassungsgemäß.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die dem Gericht vorliegende Kindergeldakte Bezug genommen.
Gründe
Der Senat war zur Durchführung der mündlichen Verhandlung trotz der Abwesenheit der ordnungsgemäß geladenen Beklagten gemäß § 91 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) befugt.
Die Klage ist begründet.
Der Klägerin steht ab April 2009 ein Kindergeldanspruch in Höhe der Differenz zwischen den niederländischen Familienleistungen und dem Kindergeldanspruch nach deutschem Recht zu. Der mit der Klage angefochtene Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 27.10.2009 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.12.2009 verletzt die Klägerin daher in Höhe der Differenzbeträge in ihren Rechten und war insoweit aufzuheben (§ 100 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz FGO).
1. Die in den Niederlanden als Arbeitnehmerin tätige Klägerin, die mit ihrem minderjährigen Sohn in Deutschland wohnt, erfüllt bei Anwendung der deutschen Vorschriften gemäß §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 des im streitigen Zeitraum geltenden EStG die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld in Deutschland. Da dies zwischen den Beteiligten nicht streitig ist, sieht der Senat von weiteren Ausführungen ab.
2. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 EStG, wonach u.a. (Differenz-)Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt wird, für das dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistungen im Ausland gewährt werden, steht dem nicht entgegen. Auf Grund der Beschäftigung der Klägerin in den Niederlanden besteht zwar unstreitig ab April 2009 ein Anspruch auf niederländische Leistungen in Höhe von 194,99 Euro pro Quartal, was einem monatlichen Anspruch von aufgerundet 65,00 Euro entspricht. Die Regelung des § 65 EStG ist jedoch auf Grenzgänger, d. h. Personen, die in einem Staat wohnen und in einem anderen Staat arbeiten, auf Grund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten nicht anwendbar (vgl. Beschluss des BVerfG vom 08.06.2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412). Bestehen sowohl im Wohnland als auch im Beschäftigungsland Ansprüche auf Familienleistungen, ist vielmehr nach den Bestimmungen der VO (EWG) 1408/71 und der VO (EWG) 574/72 zu entscheiden, welche Leistungen vorrangig sind. Für Staatsangehörige der EU/EWR und der Schweiz gilt bis zum 30.04.2010 und damit im gesamten Streitzeitraum die VO (EWG) 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 (ABL. EG Nr. 149, 2) i. d. F. der VO 669/2006/EG vom 05.04.2006 (ABL. Nr. L 114, 1). Die VO findet nach ihrem sachlichen und persönlichen Geltungsbereich auf die Klägerin Anwendung. Das Kindergeld ist eine Familienleistung gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. h i. V. m. Art. 1 Buchst. u Ziffer i VO (EWG) 1408/71 (vgl. BFH-Urteil vom 13.08.2002 VIII R 54/00, BStBl II 2002, 869) und die Klägerin ist unstreitig Arbeitnehmerin i. S. des Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Buchst. a Ziffer ii) VO 1408/71, Anhang I Teil 1 Buchst. E VO 1408/71 (vgl. EUGH-Vorlage des BFH vom 30.10.2008 III R 92/07, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 2009, 456).
3. Der deutsche Kindergeldanspruch der Klägerin wird auch nicht durch die vorgenannten gemeinschaftsrechtlichen Regelungen verdrängt, sondern ruht lediglich nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO (EWG) 574/72 in Höhe der niederländischen Familienleistungen von 65,00 Euro pro Monat. Im Übrigen besteht der Kindergeldanspruch hingegen fort.
a) In den Art. 13 ff. VO (EWG) 1408/71 wird bestimmt, welche Rechtsvorschriften auf innerhalb der Gemeinschaft (jetzt: Union) zu- und abwandernde Erwerbstätige anzuwenden sind. Die Art. 13 ff. der VO (EWG) 1408/71 bezwecken u. a., dass die Betroffenen grundsätzlich dem System der sozialen Sicherheit nur eines einzigen Staates unterliegen, sodass die Kumulierung anwendbarer Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden. Dieser Grundsatz kommt insbesondere in Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a der VO (EWG) 1408/71 zum Ausdruck. Danach unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaates abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohnt. Als spezielle Regelung zu den Familienleistungen sieht Art. 73 VO (EWG) 1408/71 vor, dass u. a. Arbeitnehmer in dem Beschäftigungsstaat, dessen Rechtsvorschriften sie unterliegen, Familienleistungen auch für diejenigen Familienangehörigen erhalten, die in einem anderen Land leben. Diese Norm begründet u. a. für Grenzgänger die Ansprüche auf Familienleistungen im Beschäftigungsland und konkretisiert damit das Beschäftigungslandprinzip (vgl. EuGH-Vorlage des BFH vom 21.10.2010 III R 5/09, BFH/NV 2011, 360).
b) Art. 10 VO (EWG) 574/72 enthält neben dem hier nicht einschlägigen Art. 76 (EWG) 1408/71, der als Antikumulierungsvorschrift Familienleistungen auf Grund einer Erwerbstätigkeit im Wohnsitzland voraussetzt, Vorschriften für das Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen oder -beihilfen u. a. für Arbeitnehmer, wenn der Anspruch auf Kindergeld im Wohnland der Kinder - wie in Deutschland - nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder sonstigen Tätigkeit abhängt. Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO (EWG) 574/72 ruht der Anspruch bis zur Höhe der Leistungen, die allein auf Grund innerstaatlicher Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats oder z.B. nach Art. 73 VO (EWG) 1408/71 auf Grund der Arbeitnehmertätigkeit eines Elternteils in einem anderen Mitgliedsstaat geschuldet werden.
Als Kollisionsnorm ist Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO (EWG) 574/72 dahin auszulegen, dass er nicht nur einschlägig ist, wenn andere Personen als der Arbeitnehmer ebenfalls im Wohnsitzland einen Anspruch auf Familienleistungen haben, sondern auch für den Arbeitnehmer selbst gilt. Der Senat folgt insoweit den Auffassungen des Finanzgerichts (FG) Münster im Urteil vom 30.04.2009 11 K 998/06 Kg (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2009, 571, Revisionsverfahren III R 51/09), des Niedersächsischen FG im Urteil vom 21.12.2010 12 K 414/08 (EFG 2011, 277, Revisionsverfahren III R 3/11) und des FG Köln im Urteil vom 26.07.2011 8 K 1744/08 (Juris). Der Senat schließt sich nicht der Auffassung des BVerfG (Beschluss vom 08.06.2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412) und ihm folgend des BFH (BFH-Urteil vom 24.03.2006 III R 41/05, BStBl II 2008, 369; ebenso FG Düsseldorf Urteil vom 30.08.2010 7 K 4723/09 Kg, Revisionsverfahren III R 60/10) an, wonach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO (EWG) 574/72 nicht für den Grenzgänger selbst gilt, weil dieser nach dem vorrangigen Grundsatz des Art. 13 VO (EWG) 1408/71 allein den Vorschriften des Beschäftigungslandes unterliegt und damit auch bei niedrigeren ausländischen Familienleistungen kein Anspruch auf Differenzkindergeld besteht.
Zur Begründung folgt der Senat der Argumentation, dass der vom BVerfG und BFH vorgenommenen Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO (EWG) 574/72 unter der Berücksichtigung der neueren Rechtssprechung des EuGH nicht mehr gefolgt werden kann. Entscheidend ist danach, dass die Bestimmungen der VO Nr. 1408/71 und damit insbesondere der Grundsatz des Beschäftigungslandprinzips in Art. 13 VO (EWG) 1408/71 sowie Art. 10 Buchstabe a der VO (EWG) 574/72 als hierzu ergangene Durchführungsverordnung im Lichte des Art. 42 EG-Vertrag auszulegen sind, der die Freizügigkeit eines Arbeitnehmers erleichtern soll und deshalb u. a. impliziert, dass Grenzgänger nicht deshalb Ansprüche der sozialen Sicherheit in ihrem Wohnland verlieren oder geringere Leistungen erhalten dürfen, weil sie das ihnen vom EG-Vertrag verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben (vgl. EuGH-Urteile vom 09.11.2006 Nemec C-205/05 Sgl 2006, I-10745, Rdn. 37, 38; vom 20.05.2008 Bosmann C-352, Sgl 2008, I-03827, Rdn. 29; vom 14.10.2010 C 16/09, Juris, Rdn. 58). Dies deckt sich mit dem ersten Erwägungsgrund der VO (EWG) 1408/71, in dem ausgeführt wird, dass die in der Verordnung enthaltenen Vorschriften zur Koordinierung der Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zur Freizügigkeit und zur Verbesserung von Lebensstandard und Arbeitsbedingungen beitragen sollen (vgl. FG Münster, EFG 2009, 1658). An dem Maßstab des Art. 42 EG-Vertrag ist mithin auch der Grundsatz der vorrangigen Anwendung der Regelungen des Beschäftigungslandes zu messen. Dieser kann im Bereich der Familienbeihilfen nur insoweit zum Tragen kommen, als im Beschäftigungsland Kinderbeihilfen zu gewähren sind oder ggf. sogar tatsächlich gewährt werden. Jede andere Auslegung hätte eine nicht hinnehmbare gemeinschaftswidrige Beschränkung des Rechts auf Freizügigkeit allein wegen der Wahl des Ortes der Beschäftigung als Arbeitnehmer zur Folge (vgl. FG Köln, Urteil vom 26.07.2011 8 K 1744/08, Juris).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO insbesondere im Hinblick auf die divergierenden finanzgerichtlichen Entscheidungen und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zuzulassen.