18.05.2012
Finanzgericht Düsseldorf: Urteil vom 18.01.2012 – 10 K 2739/10 Kg
Eine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG kann nur für solche Zeiträume eine Kindergeldberechtigung begründen, in denen der Steuerpflichtige die für die fiktive Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG erforderlichen inländischen Einkünfte i. S. von § 49 EStG erzielt.
Tatbestand
Strittig ist, ob der Kläger für seine Kinder (*5. Mai 1989), (*21. Januar 1991) und (*22. Januar 1994) Anspruch auf Kindergeld für die Zeiträume Januar 2008 bis Februar 2008 und Juni 2009 bis Dezember 2009 hat.
Der Kläger, dessen Familienwohnsitz sich in Polen befindet, meldete am 28. April 2008 einen inländischen Wohnsitz an. Als Einzugsdatum gab er den 7. April 2008 an (Kindergeldakte – KG-Akte – Bl. 18). Nach elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen für 2008 und 2009, in denen die Anschrift des Klägers angegeben war, war er vom 27. März 2008 bis zum 30. Mai 2009 ununterbrochen bei diesem Unternehmen als Arbeitnehmer beschäftigt. Die Arbeitgeberin behielt Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag ein, nicht jedoch Arbeitnehmeranteile zur gesetzlichen Rentenversicherung und am Gesamtsozialversicherungsbeitrag (KG-Akte Bl. 4, 33 f.). Das Finanzamt veranlagte den Kläger durch Einkommensteuerbescheid vom 3. September 2009, der an ihn unter seiner Adresse in Polen gerichtet war, für das Jahr 2008 zur Einkommensteuer. Dabei wurden Kinderfreibeträge für 2 Kinder berücksichtigt.
Der Kläger beantragte am 14. Januar 2010 bei der Beklagten Kindergeld. Zu der Frage, ob er in den letzten fünf Jahren vor der Antragstellung unselbständig tätig gewesen sei, gab er an, dass er von März 2008 bis Mai 2009 mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden beschäftigt gewesen sei. In Deutschland sei er wegen dieser Erwerbstätigkeit nicht sozialversichert gewesen. Seine Ehefrau sei seit September 1997 in Polen unselbständig erwerbstätig. Dem Antrag beigefügt waren Formulare E 402 und Erklärungen zu den Einkünften und Bezügen eines über 18 Jahre alten Kindes.
Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 26. Januar 2010 zunächst mit der Begründung ab, dass ein Kindergeldanspruch nicht bestehe, weil der Kläger in Deutschland nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt sei (KG-Akte Bl. 20).
Der Kläger legte dagegen Einspruch ein, mit dem er geltend machte, dass eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nicht Voraussetzung für einen Anspruch auf Kindergeld sei (KG-Akte Bl. 21). Mit Schreiben vom 9. März 2010 wies er darauf hin, dass ihm für den maßgeblichen Zeitraum in Polen kein Anspruch auf Kindergeld zugestanden habe. Außerdem habe er einen zeitlich und der Höhe nach unbeschränkten Antrag gestellt. Nach § 66 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) bestehe der Anspruch für den Zeitraum, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt seien, und nicht allein für den Zeitraum, in dem er in Deutschland seiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sei. Seine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht ergebe sich aus § 1 Abs. 3 EStG. Der Anspruch auf Kindergeld bestehe mithin für jedes volle Kalenderjahr, für das die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 EStG gegeben seien (KG-Akte Bl. 26 f.).
Die Beklagte half dem Einspruch durch Bescheid vom 28. Juni 2010 insoweit ab, als sie Kindergeld (einschließlich des Kinderbonus 2009 in Höhe von 100 Euro je Kind) für 2 Kinder für den Zeitraum von März 2008 bis Mai 2009 und für das 3. Kind für den Zeitraum von März 2008 bis Januar 2009 festsetzte (KG-Akte Bl. 39). Durch Bescheid vom 30. Juni 2010 setzte sie überdies Kindergeld für das 3. Kind für den Zeitraum von Februar 2009 bis Mai 2009 fest (KG-Akte Bl. 42). Die Beschränkung der Festsetzung auf den Zeitraum von März 2008 bis Mai 2009 begründete sie damit, dass es sich dabei um den Zeitraum nachgewiesener Beschäftigung in Deutschland handele.
Den weitergehenden Einspruch wies die Beklagte durch Einspruchsentscheidung vom 1. Juli 2010 als unbegründet zurück. Hinsichtlich des Begehrens, Kindergeld über den Zeitraum von März 2008 bis Mai 2009 hinaus festzusetzen, verwies sie darauf, dass die Arbeitgeberin des Klägers diesen mit Beginn des Monats Juni 2009 aus Deutschland abberufen habe. Er unterliege daher seit Juni 2009 allein den Vorschriften des Entsendestaates, nicht aber mehr deutschen Rechtsvorschriften (KG-Akte Bl. 43 - 47).
Mit der Klage verfolgt der Kläger das Begehren weiter, ihm für 2 Kinder auch für Januar 2008 bis Februar 2008 und für Juni 2009 bis Oktober 2009 sowie für das 3. Kind für Januar 2008 bis Februar 2008 Kindergeld zu gewähren Wegen der Einzelheiten seines Vorbringens wird auf die Klageschrift nebst Anlagen Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 1. Juli 2010 die Beklagte zu verpflichten, weiteres Kindergeld für das 3. Kind in Höhe von 308 Euro und für 2 Kinder in Höhe von jeweils 1.128 Euro festzusetzen.
Die Beklagte beantragt,
das Ruhen des Verfahrens bis zu einer Entscheidung in dem beim Bundesfinanzhof anhängigen Verfahren III R 38/10 anzuordnen.
Gründe
I. Das Ruhen des Verfahrens war nicht anzuordnen.
Das Gericht hat nach § 155 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i. V. m. § 251 Satz 1 der Zivilprozessordnung das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn beide Parteien dies beantragen und anzunehmen ist, dass dies wegen Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen zweckmäßig ist. Da der Kläger das Ruhen des Verfahrens nicht beantragt hat, fehlt es schon an den erforderlichen übereinstimmenden Anträgen. Die Anordnung des Ruhens des Verfahrens erscheint zudem nicht aus sonstigen wichtigen Gründen zweckmäßig. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat das Verfahren III R 38/10 bis zu Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in den Verfahren C-611/10 und C-612/10 ausgesetzt. Diese Verfahren betreffen die Auslegung von Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. Auf die Auslegung und Anwendung derartiger Vorschriften kommt es im Streitfall nicht an. Im Streitfall entscheidungserheblich ist vielmehr allein die Auslegung und Anwendung der §§ 1 Abs. 3, 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b, 66 EStG. Der Ausgang des Revisionsverfahrens III R 38/10 ist daher für die Entscheidung des Streitfalls nicht rechtserheblich.
II. Die Klage ist unbegründet. Die vom Kläger beantragte Verpflichtung der Beklagten, Kindergeld über den Zeitraum von März 2008 bis Mai 2009 hinaus für weitere Monate der Jahre 2008 und 2009 festzusetzen, war nicht auszusprechen, weil es dafür an einem Anspruch auf Kindergeld fehlt. Die Ablehnung der Beklagten ist daher nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger folglich nicht i. S. von § 101 Satz 1 FGO in seinen Rechten.
Nach § 62 Abs. 1 EStG hat Anspruch auf Kindergeld, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird. Der Kläger erfüllte diese Voraussetzungen nur in der Zeit von März 2008 bis Mai 2009.
Nach der Anmeldebestätigung ist der Kläger am 7. April 2008 in die Wohnung eingezogen. Anhaltspunkte dafür, dass er bereits zuvor einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte, liegen nicht vor. Da das Dienstverhältnis nach der Lohnsteuerbescheinigung 2008 am 27. März 2008 begann, ist eine Wohnsitznahme vor diesem Datum nicht anzunehmen.
Der Kläger hat auch keinen Nachweis für das Fortbestehen eines inländischen Wohnsitzes über das Ende seiner Beschäftigung hinaus, d. h. über den 30. Mai 2009 hinaus, vorgelegt. Im Kindergeldantrag vom 6. September 2009 ist – wie im Einkommensteuerbescheid für 2008 vom 3. September 2009 – als Anschrift die Adresse in Polen angegeben. Dies spricht dafür, dass der Kläger ab Juni 2009 keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland mehr hatte. Da der Kläger nicht in einem Dienstverhältnis zu einer inländischen juristischen Person des öffentlichen Rechts stand, ist er auch nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig i. S. von § 1 Abs. 2 EStG.
Der Antrag des Klägers, als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig i. S. von § 1 Abs. 3 EStG behandelt zu werden, begründet auch mit Rücksicht auf § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b EStG keine Kindergeldansprüche für Zeiträume, in denen er keine inländischen Einkünfte erzielt hat. Eine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG kann nur für solche Zeiträume eine Kindergeldberechtigung begründen, in denen der Steuerpflichtige die für die fiktive Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG erforderlichen inländischen Einkünfte i. S. von § 49 EStG erzielt. Die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht entsteht nach § 1 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 EStG nur, „soweit” die Steuerpflichtigen inländische Einkünfte i. S. des § 49 EStG haben. Die Konjunktion „soweit” hat nicht nur konditionale Bedeutung („sofern”), sondern beinhaltet auch ein zeitliches Moment, mit der Folge, dass die Einkünfte i. S. des § 49 EStG den Beginn und das Ende der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG markieren (Stapperfend in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuergesetz/Körperschaftsteuergesetz, § 1 EStG Anm. 297 a. E: „Beginn und Ende der erweiterten unbeschränkten Steuerpflicht richten sich nach der Verwirklichung des Tatbestandes des Abs. 3”).
Diese Auslegung entspricht der Rechtsprechung des BFH zum Kinderfreibetrag, wonach bei einer nur für einen Teil des Kalenderjahres bestehenden unbeschränkten Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG der Kinderfreibetrag nur für diejenigen Monate zu berücksichtigen ist, in denen die unbeschränkte Steuerpflicht bestanden hat (Urteil vom 14. Oktober 2003 VIII R 111/01, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs 2004, 331). Die Rechtslage beim Kinderfreibetrag ist identisch mit der beim Kindergeld. Kinderfreibetrag wie Kindergeld sollen (alternativ) die durch Kinder bedingten finanziellen Belastungen von der Besteuerung freistellen. Dabei gilt sowohl für den Kinderfreibetrag (§ 32 Abs. 6 Satz 1 und Satz 5 EStG) als auch für das Kindergeld (§ 66 Abs. 1 EStG) das Monatsprinzip, d. h. Kinderfreibetrag bzw. Kindergeld werden nur für die Monate gewährt, in denen die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (§ 32 Abs. 1 bis 5 EStG für den Kinderfreibetrag; §§ 62 ff. EStG für das Kindergeld). Dieses Monatsprinzip gebietet es, die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG, auch wenn sie steuerlich zu einer Veranlagung für ein Kalenderjahr führt, kindergeldrechtlich auf den Zeitraum des Bezugs inländischer Einkünfte zu begrenzen, d. h. die Kindergeldberechtigung davon abhängig zu machen (so bereits Senatsurteile vom 16. März 2010 10 K 1829/09 Kg, juris; vom 27. April 2010 10 K 3402/08 Kg, juris, und vom 2. November 2010 10 K 1301/10 Kg, juris; ebenso Finanzgericht Düsseldorf, Urteile vom 13. Juli 2011 15 K 1404/08 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 1811; 15 K 4669/07 Kg, juris; 15 K 1821/08 Kg, juris; 15 K 1011/09 Kg, juris; 15 K 2319/09 Kg, juris; 15 K 16/11 Kg, juris, und 15 K 206/11 Kg, juris, unter Hinweis darauf, dass der Steuerpflichtigen nach § 1 Abs. 3 EStG nicht mit seinem (Jahres-) Welteinkommen, sondern nur mit den während der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht gemäß § 1 Abs. 3 EStG erzielten inländischen Einkünften der Besteuerung unterliegt).
Damit besteht für die Zeiten, in denen der Kläger keine Einkünfte i. S. von § 49 EStG erzielt hat, also die Zeiträume, in denen er in Deutschland nicht erwerbstätig war, keine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG und damit auch keine Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b EStG.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO zuzulassen. Eine höchstrichterliche Entscheidung dazu, ob § 1 Abs. 3 EStG ungeachtet der Regelung in § 66 EStG allein aufgrund der Bestimmung des § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b EStG anspruchserweiternd wirkt, liegt nicht vor. Diese Rechtsfrage ist allerdings in einer Vielzahl kindergeldrechtlicher Verfahren von Bedeutung.
Die Entscheidung ergeht nach § 90a Abs. 1 FGO durch Gerichtsbescheid, weil der Sachverhalt zwischen den Beteiligten nicht umstritten ist, die Entscheidung vielmehr allein von der Beantwortung der dargestellten Rechtsfrage abhängt.