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  • 23.03.2012

    Finanzgericht Düsseldorf: Urteil vom 13.07.2011 – 15 K 2727/10 Kg

    - Eine aufgrund ihrer nichtselbständigen Tätigkeit in Polen sozialversicherte Grenzgängerin mit deutscher Staatsangehörigkeit, deren Kinder nicht am Wohnsitz der Mutter im Inland, sondern in Polen leben, hat unabhängig von der Frage der Anwendbarkeit der VO (EWG) 1408/71 nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG keinen Anspruch auf deutsches Kindergeld, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie - in Abhängigkeit von der Einkommenshöhe - polnische Familienleistungen hätte beanspruchen können.


    - Die Familienleistungen in Polen sind ungeachtet ihrer erheblich geringeren Höhe mit den deutschen Kindergeldansprüchen vergleichbar i. S. von § 65 EStG.


    - Der Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG verstößt weder gegen gemeinschaftsrechtliche noch gegen verfassungsrechtliche Vorschriften.


    - Ein Anspruch auf hälftiges Teilkindergeld ließe sich allenfalls im Wege der Analogie aus Artikel 12 Abs. 2 der VO (EWG) Nr. 1408/71 i. V. m. Artikel 7 Abs. 1 der DVO Nr. 574/72 herleiten, wenn aufgrund des Zusammentreffens von Leistungsansprüchen verschiedener EU-Staaten eine Leistungskürzung oder ein Leistungsausschluss in beiden Staaten einträte.


    Tatbestand

    Die aus Polen stammende Klägerin besitzt seit 1993 die deutsche Staatsangehörigkeit und lebt seit dem 14. September 2009 in Deutschland. Sie ist seit dem 14. Dezember 2009 mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet. Bis zum 30. Oktober 2010 war die Klägerin (aufgrund einer Duldung) in Polen als Krankenschwester berufstätig und dort auch sozialversichert. Seit dem 1. November 2010 ist sie im Inland arbeitslos gemeldet. Die beiden Kinder der Klägerin („N”, geb. am ”...” 1991, und „Q”, geb. am ”...” 1992) gehen in Polen zur Schule.

    Mit an die Klägerin adressiertem Bescheid vom 21. Juni 2010 lehnte die Beklagte den Kindergeldantrag der Klägerin vom 1. Juni 2010 ab, weil die Klägerin weder einen inländischen Wohnsitz habe noch unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sei. Hiergegen legten die Klägerin und ihr Ehemann Einspruch ein und machten geltend, dass die Klägerin in „E-Stadt” bei ihrem Ehemann wohne. In Polen habe sie wegen ihrer Berufstätigkeit einen Zweitwohnsitz; diesen werde sie aber - ebenso wie die polnische Arbeitsstelle - in Kürze aufgeben. Mit an die Klägerin adressierter Einspruchsentscheidung vom 20. Juli 2010 wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Sie änderte die Gründe der Ablehnung dahin ab, dass die Klägerin in Polen abhängig beschäftigt sei und daher hinsichtlich des Kindergeldes den dortigen Regelungen unterliege.

    Mit der Klage verfolgt die Klägerin, die in der mündlichen Verhandlung persönlich angehört worden ist, ihr Begehren weiter. Sie habe im streitigen Zeitraum keinen Anspruch mehr auf polnische Familienleistungen gehabt, weil sie die nach dortigem Recht maßgebenden Einkommensgrenzen überschritten habe.

    Die Klägerin beantragt,

    unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 21. Juni 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20. Juli 2010 die Beklagte zu verpflichten, rückwirkend seit ihrer Heirat am 14. Dezember 2009 Kindergeld für die beiden Kinder „N” und „F” zu gewähren.

    Die Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Die Beklagte hält die Klage für unbegründet, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Klägerin bei entsprechender Antragstellung in Polen Familienleistungen erhalten hätte.

    Hinsichtlich der Einzelheiten zum Sachverhalt und zum Klagevorbringen der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der dem Gericht vorgelegten Kindergeldakten Bezug genommen.

    Gründe

    Die Klage ist unbegründet.

    Die angefochtene Ablehnung betreffend den streitigen Zeitraum Dezember 2009 (Heirat; Antrag der Klägerin) bis Juli 2010 (Erlass der Einspruchsentscheidung; vgl. Urteil des Finanzgerichts -FG- Düsseldorf vom 23. Januar 2007 10 K 5107/05 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG- 2007, 600) ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung -FGO-.

    Die Klägerin ist anspruchsberechtigt nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes -EStG-; sie hat unstreitig ihren Wohnsitz im Inland. Die minderjährigen bzw. in Ausbildung befindlichen Kinder sind gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 EStG steuerlich berücksichtigungsfähig. Dass sie im streitbefangenen Zeitraum nicht in Deutschland lebten, sondern in Polen, ist nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG für die Zeit seit Mai 2004 unmaßgeblich, weil Polen seitdem Mitglied der Europäischen Union (EU) ist.

    Ob der tatbestandsmäßig dem Grunde nach vorliegende Kindergeldanspruch nach dem EStG hier durch das europäische Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen ist, kann vorliegend dahinstehen; der geltend gemachte inländische Kindergeldanspruch kann der Klägerin jedenfalls nicht zugesprochen werden.

    Das Kindergeld unterfällt zwar dem sachlichen Geltungsbereich der Verordnung (EWG) 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (im Folgenden: VO Nr. 1408/71). Beim Kindergeld handelt es sich um eine Familienleistung i. S. von Art. 4 Abs. 1 Buchst. h dieser Verordnung (Urteil des Bundesverfassungsgerichts -BVerfG- vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, Bundesgesetzblatt -BGBl- I 2004, 2570).

    Deren Art. 13 ff. bestimmen, welche Rechtsvorschriften auf innerhalb der Europäischen Union zu- und abwandernde Erwerbstätige anzuwenden sind. Die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 bezwecken damit, dass die Betroffenen grundsätzlich nur dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen, um eine Kumulierung anwendbarer Rechtsvorschriften und der sich daraus möglicherweise ergebenden Schwierigkeiten zu vermeiden (Urteile des Europäischen Gerichtshofs -EuGH- vom 20. Mai 2008, C - 352/06, Bosmann, Höchstrichterliche Rechtsprechung -HFR- 2008, 877; vom 14. Oktober 2010 C-16/09, Schwemmer, Amtsblatt der Europäischen Union 2010, Nr. C 346, 8 Rz. 40; des BFH vom 7. April 2011 III R 89/08, juris).

    Unter welchen Voraussetzungen ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger dem persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung unterfällt und welche Rechtsfolgen sich je nach Fallkonstellation ergeben, ist in der Rechtsprechung der Finanzgerichte umstritten und höchstrichterlich noch nicht geklärt.

    Die VO gilt grundsätzlich auch für Arbeitnehmer (Art. 1 Buchstabe a, Art. 2 und Art. 73 der VO Nr. 1408/71), die gegen mindestens ein Risiko der Sozialversicherung versichert sind. Die Mitgliedstaaten haben aber in Anhang I zu der VO den persönlichen Geltungsbereich für Arbeitnehmer i.S. von Art. 1 Buchst. a der VO näher geregelt. In Anhang I Teil I. unter E. Buchstabe a) wird ausgeführt, dass wenn ein deutscher Träger für die Gewährung der Familienleistungen zuständig ist, als Arbeitnehmer nur gilt, wer für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert ist.

    Diese Voraussetzung erfüllt die Klägerin nicht; im streitigen Zeitraum unterlag sie unstreitig nicht der deutschen, sondern der polnischen Sozialversicherung.

    Teilweise wird die Ansicht vertreten, dass die Regelung in Anhang I Teil I den allgemeinen persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 ausschließt. Besteht keine inländische Sozialversicherungspflicht, ergibt sich nach dieser Auffassung bereits daraus die Anwendung des deutschen Kindergeldrechts; mangels Anwendbarkeit der VO kommt ein Ausschluss des inländischen Kindergeldanspruchs nicht in Betracht (Urteile des Hessischen FG vom 23. Mai 2007 3 K 3143/06, Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG- 2007, 1527; FG Köln vom 21. Januar 2009 14 K 2020/08, EFG 2009, 848; FG Münster vom 30. November 2009 8 K 2866/08 Kg, EFG 2010, 731; FG Düsseldorf vom 11. Januar 2010 7 K 4616/08 Kg, Rev. BFH III R 83/10, juris; des FG Baden-Württemberg vom 18. November 2008 4 K 4293/08, Rev. BFH III R 96/08, juris; und vom 31. Januar 2011 12 K 928/07, Rev. BFH III R 10/11, juris; vgl. auch Urteil des BFH vom 13. August 2002 VIII R 54/00, BFHE 200, 204, BStBl II 2002, 869: Auch der Generalstaatsanwalt hat festgestellt, dass Arbeitnehmern und Selbständigen das Recht auf Export der deutschen Familienleistungen nur dann gewährt wird, wenn der Berufstätige der Solidargemeinschaft des deutschen Sozialversicherungssystems angehört). Folgt man dieser Ansicht, beurteilt sich die vorliegende Klage nach deutschem Kindergeldrecht.

    Teilweise wird dagegen die Auffassung vertreten, dass die Vorschrift in Anhang I Teil I lediglich eine Einschränkung ihres persönlichen Anwendungsbereichs hinsichtlich der Familienleistungen darstelle und insoweit die Frage, welche Rechtsvorschriften nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 anzuwenden sind, vorrangig zu prüfen sei (Urteile des FG Düsseldorf Urteil 22. Dezember 2008 10 K 404/08 Kg, EFG 2009, 497, Rev. BFH III R 5/09; vom 16. März 2010 10 K 1829/09 Kg, Rev. BFH III R 27/10, juris; vom 27. April 2010 10 K 3402/08 Kg, Rev. BFH III R 38/10, juris). Diese Ansicht kommt hier für den vorliegenden Sachverhalt zu der Anwendbarkeit polnischen Rechts. Denn nach Art. 13 Abs. 1 Buchstabe a) der VO Nr. 1408/71 gilt bei Arbeitnehmern das Recht des Beschäftigungsstaates, mithin hier Polens.

    Nach abweichender Auffassung ist indes der Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 bereits dann eröffnet, wenn der Antragsteller überhaupt - sei es in Deutschland oder im Ausland - der Sozialversicherung angehört hat. Er unterliegt dann gemäß dem Ausschließlichkeitsgrundsatz in Art. 13 Abs. 1 Satz 1 der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften desjenigen Mitgliedstaates, dessen System der sozialen Sicherheit er angehört (Urteile des FG Düsseldorf vom 24. September 2010 16 K 4953/08 Kg, Rev. BFH III R 61/10, juris; vom 5. Oktober 2010 16 K 3718/08 Kg, juris). Nach diesen Grundsätzen würde die Klägerin - in Polen sozialversichert - dem polnischen Recht unterliegen.

    Nach der vorstehend beiden zuletzt dargelegten Rechtsansicht ist die Klage somit bereits deshalb unbegründet, weil nicht - wie beantragt - deutsches Kindergeldrecht gilt, sondern polnisches Recht maßgebend ist. Der geltend gemachte deutsche Kindergeldanspruch ergäbe sich auch nicht aus den Gründen des Urteils des EuGH in der Rechtssache Bosmann (Urteil vom 20. Mai 2008, C - 352/06, HFR 2008, 877; keine Anwendungsbestimmung zugunsten des nationalen Rechts, vgl. hierzu im einzelnen die Urteile des FG Düsseldorf vom 27. April 2010 10 K 3402/08 Kg Rev. BFH III R 38/10, juris; vom 24. September 2010 16 K 4953/08 Kg, Rev. BFH III R 61/10, juris).

    Aber auch nach den anderen Auffassungen führt die Klage nicht zum Erfolg. Denn bei fehlender Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts (sondern Anwendung deutschen Rechts) beurteilt sich die Kollision zwischen inländischem Kindergeldanspruch und Anspruch auf polnische Familienleistungen nach der Vorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. Danach wird Kindergeld nicht gezahlt, wenn für das Kind im Ausland dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt werden oder bei entsprechender Antragstellung hätten gewährt werden müssen.

    Ein Bezug derartiger Leistungen (polnische Familienleistungen) hat vorliegend im streitigen Zeitraum zwar nicht vorgelegen. Indes kann nach den Gesamtumständen nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin bei entsprechender Antragstellung polnische Familienleistungen erhalten hätte. Die Beklagte hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die vorgelegten Bescheinigungen (insbesondere die Anlagen zum Schriftsatz der Klägerin vom 19.06.2011) keine Einkommensnachweise für den maßgebenden Zeitraum enthalten - wie die Klägerin nach Einsichtnahme in die Gerichtsakte in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat. Wie das Gericht der Klägerin bereits mit gerichtlicher Verfügung vom 10. Juni 2011 mitgeteilt hatte, ist nach dem Gesetz über polnische Familienleistungen vom 28. November 2003 das Einkommen des Kalenderjahres maßgebend, das dem Beihilfezeitraum (1. September bis 31. August) vorangeht; dieses darf die monatliche Grenze von 504 PLN je Familienmitglied nicht übersteigen, vgl. Art. 3, Art. 5 Abs. 1 des o. a. Gesetzes. Dass eine derartige Überschreitung in dem hiernach maßgebenden Zeitraum 2008 vorlag, kann nicht festgestellt werden; insoweit ist die gerichtlicher Verfügung vom 10. Juni 2011 mangels Vorlage von Nachweisen für das Jahr 2008 ins Leere gegangen. Die verbleibenden Zweifel gehen zu Lasten der Klägerin; der Senat kann nicht zweifelsfrei ausschließen, dass im Streitzeitraum in Polen ein Anspruch auf Kindergeld bestanden hätte. Die Höhe der hier relevanten Einkommensbeträge sind von der Klägerseite aufgrund der erhöhten Mitwirkungspflichten aus § 90 Abs. 2 der Abgabenordnung -AO- beizubringen, da ein Auslandssachverhalt vorliegt. Dies ist Folge der fehlenden Möglichkeiten des Gerichts, in Polen selbst zu ermitteln (vgl. Urteil des FG Münster vom 14. Dezember 2010 1 K 4131/07 Kg, juris, unter Hinweis auf Seer in Tipke/Kruse, AO und FGO, § 90 AO, Tz. 20 m.w.N.; dem dortigen Gericht lag ein Formular E 411 vor, das lediglich die Eintragung enthielt, dass kein Antrag gestellt worden sei, ohne indes Angaben zur Einkommenshöhe aufzuweisen). Dieser nicht auszuschließende Anspruch schließt - so bereits der Wortlaut des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG - den deutschen Kindergeldanspruch hier insgesamt aus.

    Die Familienleistungen in Polen sind mit den deutschen Kindergeldansprüchen vergleichbar i. S. von § 65 EStG. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass die polnischen Leistungen erheblich geringer sind als das deutsche Kindergeld. Die Vergleichbarkeit mehrerer kindbezogener Leistungen richtet sich nicht nach der rechtlichen Ausgestaltung des Anspruchs, sondern nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Zur Vermeidung von Doppelleistungen kommt es lediglich darauf an, ob die zu vergleichende Leistung wirtschaftlich die gleiche Zielrichtung verfolgt wie das Kindergeld (vgl. Urteil des BFH vom 27. Oktober 2004, VIII R 104/01, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH -BFH/NV- 2005, 341). Die Höhe der ausländischen Leistung ist für die Vergleichbarkeit mit dem Kindergeld grundsätzlich nicht maßgebend. Denkbar ist zwar, dass bei ganz geringfügigen ausländischen Leistungen auch die funktionelle Vergleichbarkeit entfällt (Beschluss des BVerfG vom 8. Juni 2004, 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570). Dies ist jedoch bei den polnischen Familienleistungen für in Polen lebende Kinder nicht der Fall. Dabei ist zu berücksichtigten, dass die Klägerin, deren Kinder in Polen leben, keine geringeren Leistungen erhalten hätte als andere polnische Familien. Nach Auffassung des polnischen Gesetzgebers reichen die dort gewährten Familienleistungen für einen Ausgleich der kindbedingten Mehrbelastungen aus (Urteile des FG Düsseldorf vom 11. Januar 2010 7 K 4616/08 Kg, juris, Rev. BFH III R 83/10; vom 1. Februar 2011 10 K 1723/08 Kg, juris; des FG Baden-Württemberg vom 14. Februar 2011 10 K 91/10, juris).

    Gemeinschaftsrechtliche Vorschriften stehen der nationalen Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nach Ansicht des Senates nicht entgegen. Außerhalb des Anwendungsvorrangs des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts hat ein nach der VO Nr. 1408/71 gerade nicht zuständiger Mitgliedstaat die Befugnis zu bestimmen, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen er in diesem Fall Familienleistungen gewähren will; ebenso muss er entscheiden dürfen, ob und wie er berücksichtigen will, dass in einem anderen Staat ein Anspruch auf eine vergleichbare Leistung besteht. Weil für den nicht zuständigen Staat (hier: die Bundesrepublik) im Hinblick auf den Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EG (jetzt Art. 45 AEUV) schon keine Verpflichtung besteht, in einem solchen Fall überhaupt Familienleistungen zu gewähren, liegt in § 65 EStG kein Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG stehen vorliegend auch keine gemeinschafts- bzw. unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote entgegen.

    Einen Verstoß der Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG gegen das Grundgesetz -GG- vermag der Senat ebenfalls nicht zu erkennen.

    Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung durch die Bestimmung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG besteht nach Ansicht des erkennenden Senates auch nicht zwischen den Besserverdienenden, bei denen die gebotene steuerliche Freistellung für ein Kind im Rahmen des Familienleistungsausgleichs nach § 31 EStG regelmäßig über die Gewährung der Kinderfreibeträge erfolgt, und den geringer Verdienenden, deren Freistellung in der Regel über das Kindergeld vorgenommen wird. Zwar werden für die erste Gruppe von Steuerpflichtigen die ausländischen Leistungen gemäß § 31 Satz 6 EStG lediglich angerechnet, während bei der Festsetzung von Kindergeld die vergleichbaren ausländischen Leistungen nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zur gänzlichen Versagung des inländischen Anspruchs führen können. Im Rahmen des Familienleistungsausgleichs indes ist der „Anspruch auf Kindergeld” maßgebend und sind die ausländischen Leistungen gemäß § 31 Satz 5 EStG in die Vergleichsrechnung betr. Anspruch auf Kindergeld einerseits und Auswirkung der Freibeträge andererseits einzubeziehen (vgl. hierzu Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 31 Rdn. 36 ff.; Dürr in Frotscher, EStG, § 31 Rdn. 47 ff.; Selder in Blümich, EStG, § 31 Rdn. 100 f.). In Fällen mit vorliegender Fallkonstellation wäre einerseits im Hinblick auf die Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ein Anspruch auf Kindergeld (ggf. in voller Höhe) zu verneinen. Da zugleich die polnischen Familienleistungen eine nur geringe Höhe aufweisen, ergäbe die Vergleichsrechnung nach § 31 Satz 4 EStG typischerweise, dass auch einem geringer verdienenden Steuerpflichtigen der Kinderfreibetrag zu gewähren wäre und somit die geltend gemachte Ungleichbehandlung mit Besserverdienenden bereits aus diesem Grunde ausschiede. Somit wird dem verfassungsrechtlichen Gebot, einen Einkommensbetrag in Höhe des Existenzminimums eines Kindes steuerlich frei zu stellen, im Rahmen der sog. Günstigerprüfung gemäß § 65 Absatz 1 EStG i.V.m. § 31 Satz 4 und 5 EStG Rechnung getragen; die Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ist sachlich gerechtfertigt. Nach dieser gesetzlichen Konzeption der §§ 31, 65 EStG entscheidet erst und nur die Höhe des Kinderfreibetrages endgültig darüber, ob den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verschonung des Existenzminimums der Kinder genügt wird; die Funktion des Kindergeldes beschränkt sich insofern auf eine als vorläufiger „Abschlag” wirkende Steuervergütung (Beschluss des BVerfG vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570; vgl. auch Urteil des FG Baden-Württemberg vom 18. November 2008 4 K 4293/08, EFG 2009, 264).

    Etwaige Benachteiligungen von Grenzgängern gegenüber uneingeschränkt Kindergeldberechtigten sind zudem aufgrund der anderweitigen Leistung und der Praktikabilitätsanforderungen an Kollisionsregeln bei grenzüberschreitenden Sachverhalten gerechtfertigt. Zu dem Aspekt der anderweitigen sozialen Absicherung (im Ausland) treten Gründe der Einfachheit des Rechts und dessen Praktikabilität im Verwaltungsvollzug, die die Kollisionsnorm des § 65 EStG ebenfalls rechtfertigen (Beschluss des BVerfG vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570).

    Die Klägerin kann auch nicht verlangen, dass das Kindergeld nach dem EStG zu ihren Gunsten zumindest in Höhe von 50% der gesetzlich bestimmten Monatsbeträge festgesetzt wird.

    Ein solcher Anspruch auf hälftiges Teilkindergeld ließe sich im Wege der Analogie allenfalls aus Artikel 12 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 i. V. m. Artikel 7 Abs. 1 der DVO Nr. 574/72 herleiten. Diese Analogie würde indessen voraussetzen, dass aufgrund des Zusammentreffens von Leistungsansprüchen verschiedener EU-Staaten eine Leistungskürzung oder ein Leistungsausschluss in den betreffenden Staaten (im Streitfall: sowohl in Deutschland als auch in Polen) gedroht hätte. Ein solche Kürzung von Familienleistungen war im Streitfall jedoch nicht zu befürchten, da die Klägerin - einen entsprechenden Antrag auf Familienleistungen unterstellt - in Polen noch die ungekürzten Familienleistungen erhalten hätte (vgl. Urteile des Hessisches FG vom 23. Mai 2007 3 K 3143/06, EFG 2007, 1527; des FG Baden-Württemberg vom 18. November 2008 4 K 4293/08, EFG 2007, 1527).

    Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

    Die Revisionszulassung beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1, 2 FGO.

    VorschriftenEStG § 31, AO § 90 Abs. 2; VO (EWG) Nr. 1408/71 Art. 1 Buchst. a Art. 2 Art. 4 Abs. 1 Buchst. h Art. 12 Abs. 2 Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Art. 13 Abs. 2 Buchst. a Art. 73, EG Art. 39, GG Art. 3 Abs. 1