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  • 07.12.2011

    Finanzgericht Bremen: Urteil vom 10.11.2011 – 3 K 26/11 (1)

    1. Ist eine polnische Staatsangehörige in Deutschland ansässig und erwerbstätig, lebt ihr minderjähriger Sohn im Haushalt der Großmutter in Polen und erfüllen weder der (inhaftierte) Kindesvater noch die Großmutter die tatsächlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Familienleistungen nach polnischem Recht, so ist nach der ab 1.5.2010 maßgeblichen Rechtslage Deutschland gemäß Art. 67 S. 1 und Art. 11 VO (EG) Nr. 883/2004 zur Leistung von Kindergeld für das Kind verpflichtet.

    2. Aus der in Art. 60 Abs. 1 S. 2 VO (EG) 987/2009 angeordneten sog. Familienbetrachtung folgt, dass für den Kindergeldanspruch alle Beteiligten (Kindesmutter, Kindesvater, Großmutter, Kind) so zu behandeln sind, als ob sie in Deutschland wohnen würden. Aufgrund der Haushaltsaufnahme des Kindes bei der Großmutter ist diese gegenüber der Kindesmutter nach § 64 Abs. 2 S. 1 EStG vorrangig kindergeldanspruchsberechtigt (gegen FG Rheinland-Pfalz v. 23.3.2011, 2 K 2248/10).

    3. Die Anwendung des BKKG in Fällen der vorliegenden Art auf die in Polen lebende Person scheidet aus, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1-4 BKKG mangels Vorliegens des in dieser Vorschrift geregelten besonderen Bezugs zur deutschen Sozialrechtsordnung nicht erfüllt sind.


    IM NAMEN DES VOLKES

    URTEIL

    In dem Rechtsstreit

    hat das Finanzgericht Bremen – 3. Senat – aufgrund mündlicher Verhandlung vom 10. November 2011 durch die Vorsitzende Richterin am Finanzgericht … als Vorsitzende, den Richter am Finanzgericht …, die Richterin am Amtsgericht …, den ehrenamtlichen Richter … und den ehrenamtlichen Richter …

    für Recht erkannt:

    Die Klage wird abgewiesen.

    Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

    Die Revision wird zugelassen.

    Tatbestand

    Streitig ist, ob die Beklagte die Festsetzung von Kindergeld gegenüber der in Deutschland wohnhaften und erwerbstätigen Klägerin für ihren minderjährigen Sohn … (nachfolgend abgekürzt: L.) mit der Begründung ablehnen durfte, dass der in Polen wohnhaften Großmutter, die L. in ihrem Haus in Polen betreut und versorgt, ein vorrangiger Kindergeldanspruch zustehe.

    Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige. Sie war zunächst in R.-P. als Haushaltshilfe nichtselbständig tätig. Im Zeitraum 1. Januar bis 31. Juli 2009 erhielt sie einen Bruttoarbeitslohn i.H.v. 8.610,– EUR. Seit Mitte des Jahres 2009 wohnt sie in … zusammen mit Herrn … (nachfolgend abgekürzt: P.) in einer Zweizimmerwohnung in B. In B. war sie ab 17. September 2009 geringfügig bei einem Reinigungsunternehmen beschäftigt und erhielt bis einschließlich Dezember 2009 einen Bruttoarbeitslohn i.H.v. insgesamt 1.074,– EUR. Seit dem 22. März 2010 übt die Klägerin eine nichtselbständige Tätigkeit bei der …-GmbH aus. Bis einschließlich Dezember 2010 betrug ihr Bruttoarbeitslohn insgesamt 10.962,97 EUR. In der Zeit von Januar bis September 2011 verdiente sie rund 898,– EUR netto monatlich.

    Die Klägerin ist die leibliche Mutter des am … 1994 geborenen Sohnes L. und der am … 1993 geborenen Tochter … (nachfolgend abgekürzt: N.). Das Klageverfahren wegen Kindergeld für das Kind N. wurde durch Beschluss des Gerichts vom 14. Oktober 2011 abgetrennt und zum Ruhen gebracht bis zum rechtskräftigen Abschluss des vorliegenden Verfahrens wegen Kindergeld für das Kind L.

    Der Vater von L. und N. ist der am 22. August 1970 geborene … (nachfolgend abgekürzt: R.). Zurzeit sitzt er im Gefängnis und verbüßt bis etwa März 2012 eine dreijährige Haftstrafe. Davor wohnte er in einer Wohnung im Haus seiner Mutter … – der Großmutter von L. und N. (nachfolgend abgekürzt: Großmutter) – unter der Adresse … in Polen. Die Kinder L. und N. wohnen in der zuvor von ihrem Vater bewohnten Wohnung im Haus der Großmutter. Sie werden von der Großmutter betreut und versorgt, die hierfür von der Klägerin 300,– EUR pro Monat für beide Kinder bekommt. Zwischen den Beteiligten ist im Klageverfahren unstreitig geworden, dass L. im Haushalt der Großmutter aufgenommen ist.

    R. bezieht weder für L. noch für N. in Polen Kindergeld.

    L. wird seit September 2009 in Polen zum Schlachter ausgebildet. Er geht drei Tage pro Woche zur Berufsschule und macht zwei Tage pro Woche ein Praktikum bei einem Schlachter. Seine Einkünfte belaufen sich auf 100,– PLN pro Monat.

    Die Klägerin erhielt für die Monate Juli 2008 bis Juli 2009 nach den deutschen Rechtsvorschriften volles Kindergeld und für die Monate August bis November 2010 hälftiges Kindergeld für L. Mit Bescheid vom 25. November 2010 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung ab dem Monat Dezember 2010 gemäß § 70 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf. Der Aufhebungsbescheid wurde bestandskräftig, nachdem der dagegen von der Klägerin am 9. Dezember 2010 eingelegte Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom 4. März 2011 als unbegründet zurückgewiesen worden war.

    In der Einspruchsschrift vom 9. Dezember 2010 teilte die Klägerin mit, dass L. und N. bei ihrer Schwiegermutter in Polen lebten. Sie sei die einzige Person, die für L. und N. sorge. Der Vater R. habe nie für seine Kinder Unterhalt gezahlt oder sich um sie gekümmert. Sie, die Klägerin, unterstütze ihre Kinder, indem sie ihnen Geld schicke. Ihre Schwiegermutter sei nicht in der Lage, L. und N. finanziell zu unterstützen, da sie nur eine kleine Rente beziehe.

    Mit Schreiben vom 19. April 2011 beantragte die Klägerin durch ihre Prozessbevollmächtigten bei der Beklagten Kindergeld für ihr Kind L. ab April 2011 i.H.v. monatlich 184,– EUR. Zur Begründung trug sie vor, dass L. und N. bei R., ihrem geschiedenen Ehemann, wohnten. Sie zahle für ihre beiden Kinder monatlich zwischen 200,– EUR und 300,– EUR an deren Großmutter, ihre ehemalige Schwiegermutter, die für die Kinder L. und N. sorge. Das Haus, in dem die Kinder L. und N. und ihr Vater gemeinsam mit der Großmutter lebten, gehöre der Großmutter.

    Mit Bescheid vom 6. Mai 2011 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit folgender Begründung ab: Nach § 64 Abs. 2 EStG werde Kindergeld für jedes Kind nur einer Person gezahlt. Wenn für ein Kind mehrere Personen die Anspruchsvoraussetzungen erfüllten, sei das Kindergeld derjenigen Person zu gewähren, die das Kind in ihren Haushalt aufgenommen habe (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). Nach den eigenen Angaben der Klägerin lebe ihr Kind L. nicht in ihrem Haushalt, sondern im Haushalt des Kindesvaters in Polen. Daher könne nach § 63 Abs. 1 Satz 4 EStG i.V.m. § 2 Abs. 4 Satz 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKKG) ihr, der Klägerin, gegenüber kein Kindergeld festgesetzt werden. Der Vater von L. könne Kindergeld nach dem BKKG bei der Bundesagentur für Arbeit, Familienkasse Nürnberg, Solgerstr. 1, 90429 Nürnberg, beantragen.

    Gegen den Bescheid vom 6. Mai 2011 legte die Klägerin mit Schreiben vom 1. Juni 2011 Einspruch ein. Zur Begründung verwies sie darauf, dass sie bis einschließlich November 2010 Kindergeld für ihr Kind L. erhalten habe und sich an den Grundlagen dafür seither nichts geändert habe.

    Mit Einspruchsentscheidung vom 7. Juli 2011 wies die Beklagte den Einspruch der Klägerin als unbegründet zurück.

    Einen Anspruch auf Kindergeld könnten zwar grundsätzlich mehrere Berechtigte haben (§§ 62 Abs. 1 i.V.m. 63 Abs. 1, 32 Abs. 1 EStG). Nach § 64 Abs. 1 EStG werde das Kindergeld aber nur an einen Berechtigten gezahlt. Das bedeute zum einen, dass Kindergeld für ein und dasselbe Kind nicht mehrfach gewährt werde, und zum anderen, dass eine Aufteilung des Kindergeldes unter mehreren Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen erfüllten, nicht stattfinde. Wenn mehrere Personen für ein Kind die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld erfüllten, so werde nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG das Kindergeld an denjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen habe. Denn der Gesetzgeber gehe davon aus, dass derjenige das Kindergeld erhalten solle, der durch Betreuung, Erziehung und Versorgung des Kindes am meisten mit dem Kindesunterhalt belastet sei (Obhutsprinzip). Der Berechtigte, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen habe, schließe alle anderen Berechtigten, zu deren Haushalt das Kind nicht gehöre, vom Anspruch auf Kindergeld aus.

    Unter Haushaltsaufnahme i.S. des § 64 Abs. 2 EStG sei das örtlich gebundene Zusammenleben von Kind und Berechtigtem in einer gemeinsamen Familienwohnung zu verstehen. Das Kind müsse in diesem Haushalt seine persönliche Versorgung und Betreuung finden und sich hier grundsätzlich nicht nur zeitweise, sondern durchgängig aufhalten. Eine Haushaltsaufnahme sei bei Aufnahme des Kindes in die Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und Erziehungsverhältnis gegeben. Neben dem örtlich gebundenen Zusammenleben müssten die Voraussetzungen materieller Art (Versorgung, Unterhaltsgewährung) und immaterieller Art (Fürsorge, Betreuung) erfüllt sein (z.B. BFH-Urteil vom 20. Juni 2001 VI R 224/98, BFHE 195, 564, BStBI II 2001, 713). Wenn nur eines der vorbezeichneten Merkmale örtlicher, materieller und immaterieller Art fehle, sei eine Haushaltsaufnahme nicht gegeben.

    Die Klägerin erfülle die genannten Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld nicht. Denn das Kind L. sei nicht in ihren Haushalt, sondern in den Haushalt des Vaters, des geschiedenen Ehemanns der Klägerin, aufgenommen. Der Vater sei damit vorrangig anspruchsberechtigt und schließe nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG die Klägerin von der Kindergeldzahlung aus.

    Die Einspruchsentscheidung schließt mit dem Hinweis, dass es dem Vater jederzeit freistehe, Kindergeld nach dem BKGG i.V.m. Art. 67, 68 der seit dem 1. Mai 2010 anwendbaren Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (nachfolgend abgekürzt: VO (EG) Nr. 883/2004) bei der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg zu beantragen.

    Gegen die Einspruchsentscheidung vom 7. Juli 2011 hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 5. August 2011, der am selben Tag beim Gericht eingegangen ist, Klage erhoben. Die Klägerin ist der Ansicht, dass die von der Beklagten in ihrer Einspruchsentscheidung vertretene Auffassung nicht zutreffe, und beruft sich zur Begründung auf das Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 23. März 2011 2 K 2248/10 (EFG 2011, 1323). Ergänzend trägt sie Folgendes vor:

    Sie, die Klägerin, lebe und arbeite seit März 2008 in Deutschland. Ihr Kind L. stamme aus der Ehe mit R. Die Ehe sei geschieden. R. und L. lebten in Polen. R. sei erwerbslos und zurzeit in Haft. Er leiste weder Bar- noch Naturalunterhalt. Die Kinder L. und N. seien nicht im Haushalt des Vaters aufgenommen, sondern lebten bei der Großmutter väterlicherseits in einem Haus, das der Großmutter gehöre. Die Großmutter kümmere sich in ihrem, der Klägerin, Auftrag um die Versorgung, Fürsorge und Betreuung der Kinder. Sie, die Klägerin, zahle Barunterhalt an die Kinder zu Händen der Großmutter i.H.v. monatlich 100,– EUR bis 150,– EUR pro Kind, also insgesamt monatlich zwischen 200,– EUR und 300,– EUR. Seit Ende 2008 erfolgten die Zahlungen jeweils per Überweisung. Nur wenn sie die Kinder alle drei Monate in Polen besuche, gebe sie der Großmutter das Geld für den Besuchsmonat (300,– EUR) in bar. Die Gelder kämen ausschließlich den Kindern zugute. Weder sie, die Klägerin, noch der Vater ihrer Kinder oder die Großmutter bezögen in Polen für die Kinder irgendwelche Familienleistungen. Die Großmutter sei in Polen auch nicht anspruchsberechtigt.

    Die Klägerin beantragt,

    den Bescheid vom 06.05.2011 sowie die Einspruchsentscheidung vom 07.07.2011, zugestellt am 11.07.2011, abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, ihr Kindergeld für das Kind L. geb. 1994 ab 01.04.2011 zu bewilligen und zu zahlen.

    Die Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Dass L. nicht bei seinem Vater, sondern bei der Großmutter wohne, und dass die Großmutter keinen Kindergeldanspruch in Polen habe, ändere nichts an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung der beantragten Kindergeldfestsetzung gegenüber der Klägerin. Denn der Klägerin könne wegen nachrangiger Berechtigung nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG kein Kindergeld gewährt werden. Anstelle des Kindesvaters sei die Großmutter durch die Haushaltsaufnahme von L. gegenüber der Klägerin vorrangig Berechtigte zum Bezug des deutschen Kindergeldes (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG und § 3 Abs. 2 Satz BKGG).). Unter Geltung der seit 1. Mai 2010 geltenden VO (EG) Nr. 883/2004 sei das Kindergeld grundsätzlich nicht mehr ausschließlich gegenüber dem Anspruchsberechtigten festzusetzen bzw. zu bewilligen, der den deutschen Rechtsvorschriften unterliege, sondern gegenüber dem nach § 64 EStG bzw. § 3 BKGG vorrangig Berechtigten (Durchführungsanweisung zum über- und zwischenstaatlichen Recht der Familienkasse Direktion – DA-üzV – 214.7). Der Anspruch des im EU-Ausland lebenden Berechtigten auf das deutsche Kindergeld ergebe sich aus § 1 BKGG i.V.m. Art. 67, 68 VO (EG) Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (nachfolgend abgekürzt: DVO (EG) Nr. 987/2009) sowie dem EuGH-Urteil vom 26. November 2009 C-363108, Slanina (Slg 2009, I-11111).

    Ausgangspunkt für die Anwendung des BKGG sei, dass der im EU-Ausland lebende Anspruchsberechtigte – hier: die Großmutter – nicht nach § 1 Abs. 1 und 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sei und auch nicht nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt werde. Eine Kindergeldzahlung nach den Vorschriften des EStG könne mangels Wohnsitzes nicht erfolgen. Daher sei grundsätzlich der Anwendungsbereich des § 1 BKGG eröffnet. Der Anspruch ergebe sich demnach aus § 1 BKGG i.V.m. Art. 67, 68 VO (EG) Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) Nr. 987/2009. Hiernach sei bei der Anwendung von Art. 67, 68 VO (EG) Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Staates fallen und dort wohnen. Dementsprechend seien die nationalen Bestimmungen, insbesondere § 64 EStG so anzuwenden, als würden alle beteiligten Personen hier in Deutschland leben. Nach § 64 EStG erhalte derjenige Berechtigte das Kindergeld, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen habe. Dass der andere Berechtigte im Ausland selbst nicht den deutschen Rechtsvorschriften unterfalle, könne einer Zahlung bzw. dem Anspruch nicht entgegengehalten werden, da er nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) Nr. 987/2009 so zu behandeln sei, als würde er den deutschen Vorschriften unterfallen. Des Weiteren sei das EuGH-Urteil vom 26. November 2009 C-363108, Slanina (Slg 2009, I-11111) zu beachten, welches grundsätzlich verlange, dass auch der im Ausland lebende Berechtigte die Ansprüche auf Familienleistungen geltend machen könne.

    Dem Gericht haben die von der Beklagten für die Klägerin geführten Kindergeldakten vorgelegen. Der Inhalt dieser Akten ist, ebenso wie der Inhalt der Gerichtsakten (1 Band), Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Insoweit wird auf den Akteninhalt ergänzend Bezug genommen.

    Entscheidungsgründe

    Die Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 6. Mai 2011 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. Juli 2011 betreffend die Ablehnung der Kindergeldfestsetzung für das Kind L. ab April 2011 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (vgl. § 101 Satz 1 FGO). Die Festsetzung von Kindergeld gegenüber der Klägerin für das Kind L. durfte mit der Begründung abgelehnt werden, dass der in Polen lebenden Großmutter, in deren Haushalt L. aufgenommen ist, gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zusteht.

    I. Deutschland ist zur Leistung von Kindergeld für das Kind L. verpflichtet. Dies folgt aus Art. 67 Satz 1 und Art. 11 VO (EG) Nr. 883/2004.

    1. Als polnische Staatsangehörige hat die Klägerin die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats. Für ihre Kindergeldansprüche gilt daher die VO (EG) Nr. 883/2004. Die Antwort auf die Frage, welche Ansprüche auf Familienleistungen Bürgern mit der Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats gegenüber den einzelnen Mitgliedstaaten zustehen und in welchem Verhältnis diese Ansprüche zueinander stehen (Anspruchskonkurrenz), ergibt sich seit dem 1. Mai 2010 in erster Linie aus den Regelungen der VO (EG) Nr. 883/2004, die die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (nachfolgend abgekürzt: VO (EWG) 1408/71) abgelöst hat. Beim deutschen Kindergeld handelt es sich um eine Familienleistung i.S.v. Art. 1 Buchstabe z) VO (EG) Nr. 883/2004 (vgl. zum deutschen Kindergeld als Familienleistung i.S. der VO (EWG) 1408/71 z.B. EuGH-Urteil vom 4. Mai 1999, C-262/96, Sürül, Slg 1999, I-02685).

    Gemäß Art. 11 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 unterliegen Personen, für die die VO (EG) Nr. 883/2004 gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach Art. 11 Abs. 3 VO (EG) Nr. 883/2004. Gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a) VO (EG) Nr. 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats. Danach unterliegt die Klägerin den deutschen Rechtsvorschriften. Denn sie übt eine Beschäftigung bei der der …-GmbH aus.

    2. Art. 67 Satz 1 VO (EG) Nr. 883/2004 bestimmt, dass eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats hat, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Damit ist nicht nur geregelt, dass Familienleistungen auch für Familienangehörige zu zahlen sind, die in anderen Mitgliedstaaten leben (Ausschluss von Wohnsitzklauseln), sondern auch, dass die in anderen Mitgliedstaaten vorliegenden Tatbestände so zu behandeln sind, als wenn sie im zuständigen Mitgliedstaat vorliegen (Sachverhaltsgleichstellung) (Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Teil D.I., Art. 67 Rz 4). Familienangehöriger ist jede Person, die in den Rechtsvorschriften, die Familienleistungen vorsehen, als Familienangehöriger bestimmt oder anerkannt wird (Art. 1 Buchstabe i) Nr. 1 i) VO (EG) Nr. 883/ 2004).

    L. ist Familienangehöriger i.S. des Art. 67 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Buchstabe i) Nr. 1 i) VO (EG) Nr. 883/2004, weil er als leiblicher Sohn der Klägerin nach den deutschen Rechtsvorschriften ein berücksichtigungsfähiges Kind ist. Die deutschen Rechtsvorschriften sehen in § 62 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 i.V.m. § 32 Abs. 1 und 3 EStG einen Kindergeldanspruch der Klägerin für ihren Sohn L. vor. Denn die Klägerin hat ihren Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG), und ihr leiblicher Sohn L., der sein 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, hat seinen Wohnsitz in Polen, einem EU-Mitgliedstaat (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 i.V.m. § 32 Abs. 1 und 3). Dies ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.

    Nach Art. 67 Satz 1 letzter Hs. VO (EG) Nr. 883/2004 ist L. so zu behandeln, als ob er in Deutschland wohnt. Auch dies ist zwischen den Beteiligten nicht streitig und bedarf daher keiner näheren Ausführungen.

    3. Eine vorrangige Verpflichtung eines anderen Mitgliedstaats zur Erbringung von Familienleistungen für das Kind L. besteht nicht.

    Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 sieht Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen vor. Nach Art. 68 Abs. 1 Buchstabe a) VO (EG) Nr. 883/2004 ist die Rangfolge der Ansprüche davon abhängig, ob sie durch Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit, den Bezug einer Rente oder durch den Wohnort ausgelöst werden. An erster Stelle sind die Ansprüche in dem Mitgliedstaat zu erfüllen, dessen Rechtsvorschriften ein Elternteil aufgrund seiner Erwerbestätigkeit unterliegt, an zweiter Stelle die Ansprüche in dem Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften ein Elternteil eine Rente bezieht, und an dritter Stelle die Ansprüche in dem Mitgliedstaat, in dem ein Elternteil oder beide Eltern wohnen, wenn sie weder dort noch in einem anderen Mitgliedstaat erwerbstätig sind und auch keine Rente beziehen (Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Teil D.I., Art. 68 Rz 5). Nach Art. 68 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 konkurrieren nicht die Ansprüche bestimmter Berechtigter, sondern die in verschiedenen Mitgliedstaaten bestehenden Ansprüche für denselben Familienangehörigen (Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Teil D.I. Rz 5). Die Prioritätsregeln gelten nur dann, wenn in mehreren Mitgliedstaaten Ansprüche für dasselbe Familienmitglied bestehen (Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Teil D.I., Art. 68 Rz 28). Eine Anwendung der Prioritätsregeln nach Art. 68 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 ist für ein Familienmitglied generell ausgeschlossen, wenn in einem nach Art. 11 Abs. 3 VO (EG) Nr. 883/2004 ebenfalls verpflichteten Mitgliedstaat für dieses Familienmitglied keine Familienleistungen zustehen (Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Teil D.I., Art. 68 Rz 36).

    Im Streitfall sind zwar Ansprüche des Kindesvaters R. und der Großmutter auf Familienleistungen für das Kind L. nach polnischem Recht in Betracht zu ziehen, weil sowohl der Kindesvater R. als auch die Großmutter gemäß Art. 11 Abs. 3 VO (EG) Nr. 883/2004 den polnischen Rechtsvorschriften unterliegen. Jedoch erfüllen weder die Großmutter noch der Kindesvater R. die tatsächlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Familienleistungen nach polnischem Recht. Schon aus diesem Grund ist eine Anwendung der Prioritätsregeln nach Art. 68 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 auf den Anspruch auf Familienleistungen für L. von vornherein ausgeschlossen.

    Ein Anspruch der Großmutter, die L. betreut, auf polnische Familienleistungen scheitert daran, das sie keinen Antrag auf Adoption des L. beim Familiengericht gestellt hat. Polnische Familienleistungen werden an den tatsächlichen Betreuer des Kindes nur dann gezahlt, wenn er einen Antrag auf Adoption des Kindes beim Familiengericht gestellt hat (vgl. ZUS, Broschüre „Sozialversicherung in Polen – Informationen, Fakten”, Warschau, 2011, Seite 72, abrufbar unter www.zus.pl/pliki/ulotki/Ubezpieczenia spoleczne informacje fakty wer niemiecka.pdf; Europäische Kommission, Broschüre „Ihre Rechte der sozialen Sicherheit in Polen”, Seite 30, abrufbar unter http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId= 858&langId=de).

    Aufgrund der Höhe des Einkommens der Klägerin besteht auch kein Anspruch des Kindesvaters auf polnische Familienleistungen. Familienleistungen werden in Polen nur gezahlt, wenn das monatliche Familieneinkommen 504 PLN pro Familienmitglied nicht überschreitet (vgl. Europäische Kommission, Broschüre „Ihre Rechte der sozialen Sicherheit in Polen”, Seite 29, abrufbar unter http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId =858&langId =de). Bei Zugrundelegung einer vierköpfigen Familie (4 × 504 PLN = 2.016 PLN) reichte in den Monaten April bis September 2011 bei einem durchschnittlichen amtlichen Umtauschkurs für diese Monate von rund 4,0 (vgl. Monatlich fortgeschriebene Übersicht Umsatzsteuer-Umrechnungskurse 2011) ein Familieneinkommen i.H.v. rund 504,– EUR monatlich, um einen Anspruch auf Kindergeld in Polen auszuschließen. Die monatlichen Einkünfte der Klägerin betragen ausweislich der Bezüge-Abrechnung ihres Arbeitgebers für September 2011 jedoch für den Streitzeitraum rund 898,– EUR monatlich netto.

    Geht man – mit dem Beklagten – davon aus, dass der Beilhilfezeitraum für polnische Familienleistungen vom 1. November bis zum 31. Oktober des Folgejahres geht und für die Einkommensprüfung das vorangegangene Kalenderjahr – im Streitfall also das Kalenderjahr 2009 – maßgeblich ist, besteht aufgrund der Höhe des von der Klägerin im Jahr 2009 erzielten Einkommens in Deutschland ebenfalls kein Anspruch des Kindesvaters auf polnische Familienleistungen in den streitigen Monaten ab April 2011. Nach der ZUS-Broschüre „Sozialversicherung in Polen – Informationen, Fakten” (Warschau, 2009, Seite 62, abrufbar unter der Internet-Adresse http://www.zus.pl/files/deutsche. pdf) wurden auch im Jahr 2009 Familienleistungen in Polen nur gezahlt, wenn das monatliche Prokopfeinkommen in der Familie 504 PLN nicht überstieg. Bei Zugrundelegung einer vierköpfigen Familie (4 × 504 PLN = 2.016 PLN) reichte in den Monaten Januar bis Dezember 2009 bei einem durchschnittlichen amtlichen Umtauschkurs für diese Monate von rund 4,3 (vgl. Monatlich fortgeschriebene Übersicht Umsatzsteuer-Umrechnungskurse 2009) ein Familieneinkommen i.H.v. rund 469,– EUR monatlich bzw. 5.628,– EUR (= 12 × 469,– EUR) pro Jahr, um einen Anspruch auf Kindergeld in Polen auszuschließen. Dieser Betrag war ausweislich der von der Klägerin vorgelegten Lohnsteuerbescheinigung 2009 ihres ehemaligen Arbeitgebers in R.-P. und der Abrechnung der Brutto-Netto-Bezüge vom 8. Januar 2010 aus ihrer Beschäftigung bei dem Reinigungsunternehmen in B. bereits durch die von ihr im Zeitraum 1. Januar bis 31. Juli 2009 (Bruttoarbeitslohn: 8.610,– EUR) und im Zeitraum vom 17. September bis zum Dezember 2009 (Gesamt-Brutto: 1.074,– EUR) erzielten Nettoeinkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die sich auf mindestens 8.000,– EUR beliefen, überschritten.

    Im Übrigen bestünde nach Auffassung des Gerichts der deutsche Kindergeldanspruch selbst dann in voller Höhe, wenn der Kindesvater die materiellen Voraussetzungen für einen Anspruch auf polnische Familienleistungen erfüllte. Denn tatsächlich bezieht der Kindesvater für L. keine Familienleistungen in Polen. Schon deshalb darf der Anspruch auf deutsches Kindergeld nicht gekürzt werden. Dies ergibt sich aus dem EuGH-Urteil vom 14. Oktober 2010 C-16/09, Schwemmer (ABl EU 2010, Nr C 346, 8, Randnrn. 51 ff.). Dieses Urteil ist zwar zu Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (nachfolgend abgekürzt: VO (EWG) Nr. 574/72) ergangen. Die in diesem Urteil entwickelten Grundsätze für Ansprüche auf Familienleistungen bei Zusammentreffen von solchen Ansprüchen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten sind jedoch nach Auffassung des Gerichts auch bei Anwendung der Art. 10 VO (EWG) Nr. 574/72 entsprechenden Regelung des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 zu beachten.

    II. Entgegen der Ansicht der Klägerin ist Deutschland dennoch nicht ihr, der Klägerin, gegenüber zur Leistung von Kindergeld verpflichtet. Dies ergibt sich aus der in Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 angeordneten sog. Familienbetrachtung.

    1. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 sieht vor, dass bei der Anwendung von Art. 67 und 68 VO (EG) Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Wie sich aus dem eindeutigen Wortlaut des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 ergibt, ist die sog. Familienbetrachtung nicht nur bei Anwendung der Prioritätsregeln des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 vorzunehmen, sondern auch dann, wenn diese – wie im Streitfall – ausgeschlossen sind und nur Art. 67 VO (EG) Nr. 883/2004 zur Anwendung kommt (ebenso Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Teil D.I., Art. 68 Rz 37).

    Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 ist im Streitfall zu fingieren, dass alle beteiligten Personen, also sowohl L. als auch seine Großmutter, unter die deutschen Rechtsvorschriften fallen und in Deutschland wohnen. Hinsichtlich der Klägerin selbst bedarf es dieser Fiktion im Streitfall nicht, da sie tatsächlich in Deutschland wohnt und nach dem oben zu I. 1. Gesagten den deutschen Rechtsvorschriften unterliegt. Die Fiktion hat zur Folge, dass der Anspruch auf Kindergeld der Großmutter gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG zusteht, die ihren Enkel L. in ihren Haushalt, der als in Deutschland als Wohnort belegen fingiert wird, aufgenommen hat. Die Klägerin hat selbst vorgetragen, dass das Kind L. im Haushalt der Großmutter aufgenommen ist. Dies ist im Klageverfahren zwischen den Beteiligten unstreitig geworden. Ein anderes Ergebnis würde sich aber auch dann nicht ergeben, wenn man – wie die Beklagte aufgrund des eigenen Vortrags der Klägerin im Einspruchsverfahren – von einer Aufnahme in den zusammen mit der Großmutter geführten Haushalt des Kindesvaters, des geschiedenen Ehemanns der Klägerin, ausginge. Denn auch dann wäre das Kind L. nicht in den Haushalt der Klägerin aufgenommen. Ob in dem von der Klägerin im Einspruchsverfahren präsentierten Sachverhalt nach deutschem Recht der Großmutter oder dem Kindesvater das Kindergeld zustünde, braucht im vorliegenden Klageverfahren, in dem es nur um die Frage geht, ob der Klägerin der Kindergeldanspruch für L. zusteht, nicht entschieden zu werden. Denn klar ist nach beiden Varianten, dass jedenfalls der Klägerin kein Kindergeldanspruch zusteht.

    2. Soweit das FG Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 23. März 2011 2 K 2248/10 (EFG 2011, 1323, juris Rz 33 f.) in einem ähnlich gelagerten Fall die Gewährung von Kindergeld an eine in Polen wohnhafte und ohne die Fiktion in Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 nicht den deutschen Rechtsvorschriften unterliegende Person mit der Begründung abgelehnt hat, dies verstoße gegen die den deutschen kindergeldrechtlichen Bestimmungen zugrunde liegende Systematik und den mit ihnen verfolgten Zweck der steuerlichen Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums eines Kindes, übersieht das FG Rheinland-Pfalz, dass Art. 67 Satz 1 VO (EG) Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 den nationalen deutschen Kindergeldregelungen vorgehen und nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 gerade zu fingieren ist, dass alle beteiligten Personen unter die deutschen Rechtsvorschriften fallen und in Deutschland wohnen. Da gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz haben, unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind, bewirkt die Fiktion des Wohnens in Deutschland zugleich, dass die Anwendung von § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG auf die Großmutter im Streitfall nicht mit der vom FG Rheinland-Pfalz (Urteil in EFG 2011, 1323, juris Rz 33, 21) angegebenen Begründung abgelehnt werden kann, die Voraussetzungen für eine unbeschränkte Steuerpflicht lägen bei der Großmutter nicht vor. Zutreffend geht das FG Rheinland-Pfalz im Urteil in EFG 2011, 1323 (juris Rz 33, 21) allerdings – abweichend von der Auffassung der Beklagten im vorliegenden Verfahren in ihrem Schriftsatz vom 9. September 2011 – davon aus, dass die Anwendung des BKKG in Fällen der vorliegenden Art auf die in Polen lebende Person ausscheidet, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 BKKG mangels Vorliegens des in dieser Vorschrift geregelten besonderen Bezugs zur deutschen Sozialrechtsordnung nicht erfüllt sind.

    Nach Auffassung des erkennenden Gerichts bestehen keine Bedenken dagegen, dass bei Bejahung eines Anspruchs auf deutsches Kindergeld für die in Polen lebende Person in Fällen der vorliegenden Art für ein und dieselbe Person in zwei EU-Mitgliedstaaten – Polen und Deutschland – Ansprüche auf Familienleistungen bestehen können und diese auch von ein und derselben Person geltend gemacht werden können (a.A. wohl FG Rheinland-Pfalz, Urteil in EFG 2011, 1323, juris Rz 28). Das Zusammentreffen von Ansprüchen ein und derselben Person in mehreren EU-Mitgliedstaaten ist in grenzüberschreitenden Fällen der Normalfall, wie die Regelungen des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 über die Rangfolge dieser Ansprüche und die Zahlung von Unterschiedsbeträgen zeigen. Dass auch einer Person ein Anspruch auf Familienleistungen zustehen kann, die nicht in dem EU-Mitgliedstaat wohnt, nach dessen Rechtsvorschriften sich dieser Anspruch richtet, ist spätestens seit dem EuGH-Urteil in der Rechtssache „Slanina” (Urteil vom 26. November 2009 C-363108, Slg 2009, I-11111) geklärt (ebenso auch schon EuGH-Urteile vom 10. Oktober 1996 C-245/94 und C-312/94, Höver/Zachow, Slg 1996, I-04895; vom 5. Februar 2002 C-255/99, Humer, Slg 2002, I-01205). Nach Auffassung des erkennenden Gerichts bestehen im Übrigen unter dem Aspekt des Wohnortes der Großmutter bzw. des Kindesvaters im Streitfall schon deshalb keine Bedenken gegen die Geltendmachung des Anspruchs auf Kindergeld für das Kind L., weil nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 gerade zu fingieren ist, dass alle beteiligten Personen, also nicht nur das Kind L., sondern auch seine Großmutter bzw. sein Vater, in Deutschland wohnen und unter die deutschen Rechtsvorschriften fallen.

    3. Soweit Reuß (EFG 2011, 1327) in Fällen der vorliegenden Art eine Berechtigtenbestimmung für möglich hält, liegen die tatsächlichen Voraussetzungen hierfür im Streitfall nicht vor.

    In § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG ist geregelt, dass dann, wenn ein Kind in den gemeinsamen Haushalt von Eltern, einem Elternteil und dessen Ehegatten, Pflegeeltern oder Großeltern aufgenommen worden ist, diese untereinander den Berechtigten bestimmen. Im Streitfall besteht jedoch kein gemeinsamer Haushalt der Klägerin mit der Großmutter. Dies hat die Klägerin weder geltend gemacht, noch ergibt sich dies aus den Akten. Die Klägerin hat einen eigenen Haushalt in B. mit P. Nach ihren eigenen Angaben besucht sie lediglich alle drei Monate ihre Kinder in Polen und gibt der Großmutter 300,– EUR in bar.

    Im Übrigen ergibt sich aus den dem Gericht vorliegenden Akten nicht, dass die Großmutter auf ihren Kindergeldanspruch für L. verzichtet und die Klägerin zur Berechtigten bestimmt hat. Dies hat die Klägerin auch weder im Einspruchs- noch im Klageverfahren geltend gemacht.

    III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

    Die Revision war zuzulassen, da die Frage grundsätzliche Bedeutung i.S.v. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO hat, ob aufgrund des Kindergeldanspruchs nach den deutschen Rechtsvorschriften, der nach Art. 67 VO (EG) Nr. 883/2004 gegeben ist, das deutsche Kindergeld gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG an den im EU-Ausland lebenden (Groß-)Elternteil auszuzahlen ist, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. auch FG Rheinland-Pfalz, Urteil in EFG 2011, 1323, juris Rz 38). Zudem weicht das vorliegende Urteil in einem tragenden und entscheidungserheblichen abstrakten Rechtssatz von dem Urteil des FG Rheinland-Pfalz in EFG 2011, 1323 (juris Rz 33, 21) ab, so dass auch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BFH erforderlich ist (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO). Im Gegensatz zum FG Rheinland-Pfalz (Urteil in EFG 2011, 1323, juris Rz 33, 21) ist das erkennende Gericht der Auffassung, dass aufgrund der Fiktion des Wohnortes aller beteiligten Personen in Deutschland gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 die Anwendung von § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG auf eine Person, die tatsächlich in Polen wohnt, nicht mit der Begründung abgelehnt werden kann, die Voraussetzungen für eine unbeschränkte Steuerpflicht i.S.v. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG lägen mangels Wohnsitzes in Deutschland nicht vor. Die eingelegte Revision gegen das Urteil des FG Rheinland-Pfalz in EFG 2011, 1323, wurde zurückgenommen (BFH-Beschluss vom 26. Juli 2011 II R 28/11, nicht dokumentiert; Mitteilung in juris).

    Die Entscheidung ergeht trotz des Einverständnisses der Beteiligten mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin anstelle des Senats durch den Senat. Die Entscheidung, ob der Berichterstatter von seiner Befugnis nach § 79a Abs. 3 und 4 FGO Gebrauch macht, ist von ihm nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen (so auch BFH-Beschluss vom 9. Juli 2003 IX B 34/03, BFHE 202, 408, BStBl II 2003, 858). Wenn der Berichterstatter ermessensfehlerhaft allein entscheidet, entzieht er die Beteiligten ihrem gesetzlichen Richter (vgl. Bundessozialgericht – BSG –, Urteil vom 8. November 2007 B 9/9a SB 3/06 R, BSGE 99, 189, NZS 2008, 446, juris Rz 14 ff., 23). Bei seiner Ermessensentscheidung hat der Berichterstatter zu berücksichtigen, dass die Finanzgerichte im Grundsatz als Kollegialgerichte ausgestaltet und Einzelrichterentscheidungen die Ausnahme sind, was auf der Annahme des Gesetzgebers beruht, richterlichen Entscheidungen eines Kollegiums sei eine höhere Richtigkeitsgewähr beizumessen (BFH-Beschluss in BFHE 202, 408, BStBl II 2003, 858., juris Rz 6 m.w.N.). Einer Verfahrensbeschleunigung soll nur dort Vorrang eingeräumt werden, wo dies noch mit einem angemessenen Rechtsschutz zu vereinbaren ist (BSG-Urteil vom 8. November 2007 B 9/9a SB 3/06 R, BSGE 99, 189, NZS 2008, 446, juris Rz 22). Nach diesen Maßstäben war im Streitfall eine Entscheidung des Senats anstelle der Berichterstatterin geboten. Denn das Verfahren weist rechtliche Schwierigkeiten auf. Zu der streitigen Rechtsfrage liegt weder eine ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs noch eine ständige Rechtsprechung des erkennenden Gerichts vor. Zudem weicht die vorliegende Entscheidung von einer Entscheidung eines anderen Gerichts (FG Rheinland-Pfalz, Urteil in EFG 2011, 1323) ab und hat bereits ein anderes Gericht (FG Rheinland-Pfalz, Urteil in EFG 2011, 1323, juris Rz 38) der streitigen Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO beigemessen. Gründe, warum die Sache ausnahmsweise doch durch die Berichterstatterin allein hätte entschieden werden können, sind nicht ersichtlich. Eines Verzichts auf den Diskurs innerhalb des Senatskollegiums bedurfte es insbesondere nicht zur Straffung und Beschleunigung des Verfahrens. Denn im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats über den Streitfall waren gerade einmal 14 Wochen seit Eingang der Klage beim erkennenden Gericht vergangen.

    VorschriftenEStG § 32 Abs. 1, EStG § 32 Abs. 3, EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, EStG § 62 Abs. 2, EStG § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, EStG § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, EStG § 63 Abs. 1 S. 3, EStG § 64 Abs. 2 S. 1, EGV 883/2004 Art. 1 Buchst. z, EGV 883/2004 Art. 11 Abs. 1, EGV 883/2004 Art. 11 Abs. 3, EGV 883/2004 Art. 67 S. 1, EG) 987/2009 Art. 60 Abs. 1 S. 2