20.10.2011
Finanzgericht München: Urteil vom 10.06.2011 – 8 K 1016/08
Ist nicht das pflichtwidrige Handeln des Steuerpflichtigen, sondern letztlich ein fehlerhaftes Verwaltungshandeln maßgeblich für die eingetretene Steuerverkürzung, so scheidet eine Verlängerung der Festsetzungsverjährungsfrist nach § 169 Abs. 2 S. 2 aus.
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
In der Streitsache
hat der 8. Senat des Finanzgerichts München unter Mitwirkung sowie der ehrenamtlichen Richter … und ohne mündliche Verhandlung am 10. Juni 2011
für Recht erkannt:
1. Der Einkommensteueränderungsbescheid für 2001 vom 4. April 2007 und die Einspruchsentscheidung vom 27. Februar 2008 werden aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Kläger die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten.
4. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
I.
Streitig ist, ob die Änderung eines Steuerbescheides trotz Ablaufs der regulären Festsetzungsverjährungsfrist noch zulässig war.
Die Kläger werden vom Beklagten – dem Finanzamt (FA) – für das Streitjahr 2001 zur Einkommensteuer (ESt) zusammenveranlagt. Sie betreiben eine Arztpraxis in Form einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, an der sie hälftig beteiligt sind. Die einheitliche und gesonderte Feststellung des Gewinns wird ebenfalls durch den Beklagten durchgeführt.
Die Kläger reichten ihre gemeinsame ESt-Erklärung für 2001 sowie die Erklärung zur einheitlichen und gesonderten Feststellung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit jeweils am 8. Oktober 2002 ein (Eingang beim FA). In der Feststellungserklärung gaben sie den Gewinn der Arztpraxis mit 444.249 DM an, den sie jeweils hälftig auf die beiden Beteiligten aufteilten. In der ESt-Erklärung verwiesen sie in der Anlage GSE auf die gesonderte Feststellung durch Angabe der dortigen Steuernummer und gaben die Einkünfte des Klägers mit 223.124 DM an, die der Klägerin dagegen unzutreffend nur mit 112.125 DM.
Der ESt-Bescheid 2001 wurde am 9. Oktober 2002 unter Übernahme der erklärten Beträge vom Bearbeiter gezeichnet und erging am 23. Oktober 2002 mit Ansatz der zu niedrigen Einkünfte der Klägerin.
Der Bescheid über die einheitliche und gesonderte Feststellung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit aus der Gemeinschaftspraxis erging am 22. Oktober 2002, bei mutmaßlicher Zeichnung am 10. Oktober 2002 (dieses Datum tragen die Mitteilungen). Die an die Veranlagungsstelle versandten Mitteilungen weisen für den Kläger wie für die Klägerin zutreffend Einkünfte von je 223.124 DM aus. Beide tragen den nicht datierten Bearbeitungsvermerk „ohne steuerliche Auswirkung”, „ber. angesetzt” und das Namenszeichen des auswertenden Bearbeiters. Insoweit erging zunächst kein ESt-Änderungsbescheid. Erst aufgrund einer anderen Mitteilung vom 6. Mai 2003 über Beteiligungseinkünfte des Klägers in Höhe von 134 DM änderte das FA am 26. Mai 2003 den Einkommensteuerbescheid vom 23. Oktober 2002. Dieser berücksichtigte nur die Mitteilung vom 6. Mai 2003 und nahm auf diese Bezug, nicht jedoch die anderen beiden Mitteilungen.
Bei einer internen Prüfung des Falls wurde der zu niedrige Ansatz bei der Klägerin festgestellt. Die zur ESt-Veranlagung bestimmte Arbeitseinheit erhielt mit Schreiben der Betriebsprüfungsstelle vom 30. Januar 2007 hiervon Kenntnis. Das FA stellte sich auf den Standpunkt, die Festsetzungsfrist betrage wegen zumindest leichtfertiger Steuerverkürzung 5 Jahre und erließ unter dem 4. April 2007 einen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) geänderten ESt-Bescheid, in dem die Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit nunmehr mit 223.124 DM angesetzt sind.
Die Kläger wandten im Einspruchsverfahren ein, die Festsetzungsverjährung betrage 4 Jahre und sei bei Erlass des Änderungsbescheides bereits abgelaufen gewesen. Dagegen wies das FA darauf hin, dass der falsche Ansatz hätte auffallen und daher nach § 153 AO dem FA angezeigt werden müssen. Das FA wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 27. Februar 2008 zurück.
Mit ihrer Klage tragen die Kläger weiter vor,
der falsch angegebene Betrag gründe in einer Ziffernverschiebung auf der Tastatur. Dieser Fehler sei bei der Abgabe der ESt-Erklärung weder ihnen noch ihrem Steuerberater aufgefallen. Eine fahrlässige Steuerverkürzung liege nicht vor, weil es sich bei der Angabe in der ESt-Erklärung nur um eine vorläufige handele. Entscheidend sei die Angabe in der Feststellungserklärung. Letztere sei zutreffend erfolgt. Der entscheidende Fehler sei also offensichtlich dem FA unterlaufen.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
den ESt-Änderungsbescheid für 2001 vom 4. April 2007 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 27. Februar 2008 aufzuheben.
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es bezieht sich im Wesentlichen auf die EE, auf die verwiesen wird. Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.
II.
1. Die Klage, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.
Das FA durfte den ESt-Bescheid nicht mehr nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO ändern. Die Festsetzungsfrist war vor Erlass des Änderungsbescheides bereits abgelaufen.
Die Festsetzungsfrist begann gem. § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Erklärung eingereicht worden ist, also mit Ablauf des 31. Dezembers 2002. Die Frist bemisst sich nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO. Sie ist nicht nach § 169 Abs. 2 Satz 2 EStG verlängert.
§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO setzt voraus, dass eine Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt und dadurch (vgl. Urteil das Bundesfinanzhofs [BFH] vom 26. Februar 2008 VIII R 1/07, BStBl II 2008, 659) der hinterzogene bzw. verkürzte Betrag vom FA bislang nicht geltend gemacht werden konnte. Mit der Fristverlängerung verfolgt der Gesetzgeber einen doppelten Zweck. Das erste Regelungsziel besteht nach allgemeiner Meinung darin, dass der Verwaltung ausreichend Zeit zur Berichtigung falscher Bescheide zur Verfügung gestellt werden soll, um den mit der Steuerhinterziehung einhergehenden objektiven Erschwernissen bei der Sachverhaltsaufklärung angemessen Rechnung zu tragen. Darüber hinaus zeigt sich aus der je nach Unrechts- und Schuldgehalt der Steuerverfehlung variierenden Fristverlängerung auch ein subjektives Element bei der Anwendung des § 169 AO. Die Rechtswohltat der Regelverjährung soll nur dem Steuerehrlichen zu Gute kommen. Aus der Formulierung „soweit eine Steuer hinterzogen worden ist” folgt weiter, dass eine Verlängerung nur in Betracht kommt, wenn dem Fiskus ein Steuerbetrag vorenthalten wurde, zu dessen Rückgewinnung jener auf eine verlängerte Festsetzungsfrist angewiesen ist (BFH in BStBl II 2008, 659, a.a.O.). Daran fehlt es nach Auffassung des Senats, wenn das FA auf Grund einer anderweitigen Erklärung des Steuerpflichtigen vor Beginn der regulären Festsetzungsfrist die Steuer in zutreffender Höhe hätte festsetzen können und müssen.
a. Es kann dahingestellt bleiben, ob die fehlerhafte Betragsangabe in der ESt-Erklärung isoliert betrachtet für den Zeitraum bis zur Bekanntgabe des Feststellungsbescheides zu einer Verkürzung geführt hat, die den Klägern zuzurechnen ist und für die diesen ein Verschulden vorzuwerfen wäre. Denn mit der gesonderten Feststellung war für den Ansatz der Einkünfte der Ehefrau wegen seiner Bindungswirkung alleine der Feststellungsbescheid maßgebend geworden, der die Beteiligungseinkünfte zutreffend feststellte. Soweit der Feststellungsbescheid Bindungswirkung entfaltete, verloren die Angaben in der ESt-Erklärung ihre steuerliche Erheblichkeit. Die Auswertung der gesonderten Feststellung oblag alleine dem FA, ohne dass die Kläger hierbei mitzuwirken hatten. Verfahrensfehler insoweit fallen alleine in den Verantwortungsbereich der Steuerverwaltung.
Der Senat verkennt nicht, dass durch das Handeln der Kläger der anschließende, davon unabhängige Fehler des FA bei der Auswertung der Feststellungsmitteilung in seiner konkreten Auswirkung begünstigt worden sein mag. Allerdings unterbrach der gravierende Fehler des FA im Streitfall einen auf ein Handeln der Kläger zurückführenden Kausalverlauf (sog. überholende Kausalität). Insoweit ist festzuhalten, dass die Auswertung der Mitteilung keine besonderen Schwierigkeiten aufwies und auch kein komplexer Steuerfall vorlag. Vielmehr hätte der ESt-Sachbearbeiter mit einem Blick erkennen können, dass der bei der ESt angesetzte Betrag nicht dem mitgeteilten entsprach. Das Gericht kann sich den Auswertungsvermerk daher nur so erklären, dass der Bearbeiter die irrige Vorstellung hatte, er habe die mitgeteilten Einkünfte bereits vor kurzem angesetzt, und dass er daher auf den konkreten Abgleich der Beträge verzichtet hat.
Auch war das FA nicht – wie es § 169 AO erfordert (vgl. (BFH in BStBl II 2008, 659, a.a.O.) – auf eine Verlängerung der Festsetzungsfrist angewiesen. Vielmehr stand mit den Feststellungen im Feststellungsbescheid die Besteuerungsgrundlage – zutreffend – fest. Es bedurfte nur noch dessen Ansatzes bei der ESt, der dem FA ohne weiteres möglich und zu dem es verpflichtet war. Damit war es dem FA noch vor Beginn des Fristlaufs der regulären Verjährungsfrist Ende 2002 möglich, die zutreffende ESt festzusetzen. Dass dies nicht geschah, beruhte entscheidend auf dem Verschulden des Finanzamtes. Für eine Verlängerung der regulären Festsetzungsfrist gibt es daher keine sachliche Rechtfertigung.
b. Die Kläger waren nicht verpflichtet, eine Anzeige nach § 153 Abs. 1 Nr. 1 AO zu erstatten. Zu dem Zeitpunkt, als sie erkannt haben mochten, dass die ESt zu niedrig festgesetzt war, durften sie angesichts des mehr oder minder gleichzeitig zugegangenen – zutreffenden – Feststellungsbescheides davon ausgehen, dass das FA die ESt-Festsetzung wie gesetzlich vorgesehen ändern wird.
Auch verpflichtet § 153 Abs. 1 Nr. 1 AO nur zur „erforderlichen” Richtigstellung. Aufgrund der Bindungswirkung des Feststellungsbescheides war aber eine Richtigstellung der obsolet gewordenen Angaben in der ESt-Erklärung nicht mehr „erforderlich”. Denn das FA war ohnehin gesetzlich verpflichtet, den ESt-Bescheid entsprechend der Feststellung zu ändern.
Der Senat vermochte auch nicht, etwa unter dem Gesichtspunkt der Ingerenz (des vorangegangenen Tuns), auf eine Richtigstellungspflicht zu erkennen. Nach der gesetzlichen Aufgabenverteilung obliegt das Risiko für die Auswertung von Grundlagenbescheiden alleine dem FA. Den Steuerpflichtigen trifft dagegen keine Pflicht, das FA auf Fehler im Amt hinzuweisen oder den Bearbeiter im FA zur ordnungsgemäßen Bearbeitung ihres Falles anzuhalten (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 153 AO Tz. 10; Beermann/ Gosch, AO/FGO, § 153 Rz. 16; Urteil des FG Sachsen-Anhalt vom 29. Oktober 2009 5 K 531/06, EFG 2010, 984). Angesichts dieser Risikoverteilung ist die geringfügige Risikoerhöhung, die die Kläger durch die widersprechenden Betragsangabe in der ESt-Erklärung geschaffen haben, nach Auffassung des Senats vernachlässigbar. Dies zumal die Kläger in der entscheidenden Feststellungserklärung zutreffende Angaben gemacht haben.
2. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung [FGO]).
3. Die Revision wird zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).